DER EINDRINGLING im Kopf

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GESUNDHEIT
DER EINDRINGLING im Kopf
MULTIPLE SKLEROSE ist eine heimtückische ­Krankheit.
Sie greift Gehirn und Rückenmark an. Anita Wymann aus Bern hat
einen Weg gefunden, sich mit der Bedrohung zu arrangieren.
Text Michelle Schwarzenbach Fotos Marco Zanoni
A
78
m 23. September 2008 schrieb
Anita Wymann eine E-Mail an
ihre Freunde. Sie begann mit den
Worten: «Am besten konfrontiere ich
euch zuerst mit den Fakten: Vor einem
Monat wurde ich notfallmässig ins Inselspital eingewiesen, wegen einer dringlichen Empfehlung meiner Hausärztin. Es
ging ziemlich zur Sache. Ich verstand
nichts … ausser, dass es um Neurologie
geht; sprich das Nervensystem und alles,
was damit zusammenhängt (also alles!).»
Der E-Mail war eine turbulente Zeit
vorausgegangen. Begonnen hatte alles mit
Anitas Beinen. Die reagierten nicht mehr
so, wie sie wollte. Die damals 27-Jährige
musste absitzen, sich ausruhen, bevor sie
wieder einen Fuss vor den anderen setzen
konnte. Nicht weiter schlimm, dachte sie.
Als sie dann aber beim Lesen jede Zeile
zweifach sah, ging sie zur Ärztin, die sie
sofort ins Inselspital schickte.
Nach einem Marathon an Untersuchungen und langen Stunden des Wartens
stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose,
kurz MS, eine Autoimmunkrankheit, die
nicht zum Tod führt, aber unheilbar ist
und in Schüben verläuft.
Anita konnte nur noch weinen. Verkroch sich in ihrer Berner Wohnung, verzweifelte. Ihr war, als sei jemand in ihren
Kopf eingedrungen, ein Bösewicht, der in
ihrem Oberstübchen herumpolterte, laut
schimpfte, die Einrichtung demolierte.
Mit diesem Eindringling wollte sie nicht
leben; nicht ihr Leben von einem Fremden bestimmen lassen.
Es dauerte einen Monat, bis sie erkannte:
Der Eindringling, der von einer Minute auf
die andere ihre Beine schwächte, der sie
schwindlig machte, würde für immer bleiben. Sie musste sich mit ihm arrangieren.
Sie setzte sich also am 23. September
hin, schrieb an ihre Freunde und beendete
die ­E-Mail mit den Worten: «Seid vorsichtig mit Informationen über Multiple
Sklerose. Diese Krankheit ist heimtückisch und verläuft bei allen Patienten
anders. Sie ist kein Todesurteil – eher eine
Lebensaufgabe.»
Schweizer Familie 7/2014
Fotos: Okapia, Picture Press
Optimismus hilft – meistens
Die Lebensaufgabe begleitet die mittlerweile 33-Jährige seit sechs Jahren. Die
­Attacken des Eindringlings in ihrem Kopf
«Die Krankheit ist
kein Todesurteil, eher
eine Lebensaufgabe.»
haben bleibende Schäden hinterlassen. Sie
kann nicht mehr als einen Kilometer am
Stück gehen, braucht für längere Strecken
einen Rollstuhl, ist oft müde. Dennoch,
wer sie sieht, wie sie während der Mittagspause in einer Crêperie in Bern sitzt,
drauflosplappert, laut herauslacht, genüsslich in eine Spinat-Geisskäse-Omelette beisst, wird sagen: Sie meistert ihr
Schicksal mit Bravour.
Wie geht das – mit einem cholerischen
Untermieter leben, bei dem man nie weiss,
wann er das nächste Mal randaliert?
«Es gibt nur eines: die Krankheit annehmen» sagt Anita. Wer sie nicht akzeptiert, kämpft gegen sich selbst. «Sich mit
der MS abzufinden, braucht Vertrauen
ins Leben, Vertrauen, dass es schon gut ➳
Anita Wymann
DAS PASSIERT: IMMUNZELLEN GREIFEN DIE NERVEN AN
1
Multiple Sklerose (MS) führt zu
Entzündungen (rot) in GEHIRN (1)
und Rückenmark. Während
GESUNDE NERVENFASERN (2),
die zwischen den Hirnzellen ver­
laufen, durch Myelinhüllen
Nervenfaser
2
­geschützt sind, greifen bei der
Autoimmunkrankheit MS körper­
eigene Immunzellen die Schutz­
schicht an und SCHÄDIGEN
DIE NERVENFASERN (3). Da­
Myelinhülle
durch verlangsamt sich
die Signalleitung zwischen
den Zellen oder bricht ab.
Zellkörper
3
Immunzellen
Geschädigte
Myelinhülle
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kommt.» Das hat die Bernerin. Die Frage,
ob sie sich davor fürchtet, eines Tages gar
nicht mehr gehen zu können, beantwortet
sie mit einem Stirnrunzeln. «Die MS verläuft eh bei allen anders; also – warum soll
ich mir dann Gedanken machen?»
Anita Wymann ist eine Lebensoptimistin. Was nicht heisst, dass sie alles schönredet. Vielmehr bewahrt sie einen klaren
Kopf, trifft mutige Entscheide, setzt sich
neue Ziele. Dadurch wirkt sie taff. Doch
wenn sie erzählt, dass das Jasagen für sie oft
ein «Chrampf» sei und zur MS halt schon
«viel Scheiss» gehöre, wird klar: Sich mit
der Krankheit arrangieren, verlangt selbst
einer Optimistin wie Anita viel ab.
«Ein Häufchen Elend» sei sie nach der
Diagnose gewesen, habe sich «vom Leben
beschissen gefühlt». Sich immerzu gefragt: «Warum ich?» Darauf konnte ihr
niemand eine Antwort geben. Aber etwas
konnten ihre Mitmenschen tun: sie in den
«Sich mit MS abzufinden, braucht
Vertrauen ins Leben, Vertrauen,
dass es schon gut kommt.»
Sie wirkt taff,
doch wer sie
kennt, weiss,
wie viel ihr
die Krankheit
abverlangt:
Anita Wymann
mit Kater Johny.
Arm nehmen und trösten. Allen voran ihr
Freund. «Er hat mich getragen», sagt
­Anita, «mir das Gefühl gegeben: Ich bleibe bei dir, egal, was passiert.» Er beruhigte
sie, wenn sie wegen der aufputschenden
Wirkung ihrer Tabletten nicht schlafen
konnte; redete ihr gut zu, als sie sich zum
ersten Mal ein MS-Medikament in den
Bauch spritzte; betrank sich mit ihr, als sie
einen Abend mal alles vergessen musste.
Und vor allem machte er ihr klar: Das
­Leben geht weiter.
Die Diagnose MS bedeutete für Anita
Wymann auch: «Ich muss mir einen Job
im Büro suchen – und habe nicht einmal
MULTIPLE SKLEROSE – «KRANKHEIT DER 1000 GESICHTER»
Was ist Multiple Sklerose?
MS ist eine chronische Ent­
zündungskrankheit, bei der
das Immunsystem Nerven in
Gehirn und Rückenmark an­
greift. «Jeder Nervenstrang
ist, wie ein Kupfer­kabel, um­
hüllt von einer schützenden
Isolierschicht, dem Myelin»,
erklärt Burkhard Becher, Im­
munologe an der Universität
Zürich, «diese ermöglicht eine
schnelle ­elektrische Signal­
leitung zwischen den Nerven.»
Bei der MS greift das Immun­
system die Myelinschicht an
­(Grafik S. 78). Dadurch ver­
langsamt sich die Signal­
leitung oder bricht partiell
zusammen. Es kommt zu
einer Art Kabelschaden. Wich­
tige Gehirnfunktionen werden
beeinträchtigt. «Je nachdem,
welcher Bereich betroffen ist,
können unterschiedliche
­Störungen auftreten», sagt
Burkhard Becher, etwa Sehund Gleichgewichtsstörungen,
Lähmungen an Beinen und
Armen sowie Blasen- und
Darmstörungen. Kaum eine
Krankheit verläuft so indivi­duell und unberechenbar.
Deshalb spricht man auch von
der MS als «Krankheit der
1000 Gesichter».
Wie sieht der Krankheitsverlauf aus?
Bei über 80 Prozent der Be­
troffenen beginnt die MS
in Schüben. Zwischen zwei
Schüben können Monate
oder Jahre vergehen. Nach
10 bis 15 Jahren nimmt die
Erkrankung bei 40 Prozent
der Patienten einen chroni­
schen Verlauf: Die Schübe
treten weniger häufig auf,
dafür werden die Beschwer­
den stärker. Weniger als die
Hälfte der Betroffenen benö­
tigt im Verlauf der Krankheit
einen Rollstuhl. Viele sind
jedoch irgendwann auf Hilfs­
mittel wie einen Gehstock
angewiesen. Die Lebens­
erwartung ist heutzutage
kaum noch verkürzt.
Was sind Schübe?
Das sind akute Phasen mit
neuen oder früheren Symp­
Anita Wymann
tomen, die sich innerhalb von
Stunden oder Tagen entwi­
ckeln. «Die Symptome müssen
mindestens 24 Stunden an­
halten», sagt Heinrich Mattle,
Leiter der Neurologischen
Poliklinik am Berner Insel­
spital, «ein viertelstündiges
Kribbeln in den Händen ist
noch kein Schub.» Nach dem
Abklingen der Entzündungen
können sich die Symptome
vollständig zurückbilden.
Wie kommt es zur MS?
Das ist ungeklärt. Es gibt Fak­
toren, die das Risiko erhöhen.
Studien zeigen, dass Multiple
Sklerose zwar nicht direkt
vererbt wird, wohl aber eine
Disposition dafür besteht: «Ein
eineiiger Zwilling hat ein
30-prozen­tiges Risiko, eine MS
zu entwickeln, wenn bei sei­
nem Geschwister die Krank­
heit bereits besteht», sagt Im­
munologe Becher. Ausserdem
nimmt man an, dass auch In­
fektionen im K
­ indesalter und
ein Vitamin-D-Mangel die
Krankheit ­aus­lösen können.
eine kaufmännische Ausbildung.» Sie hatte Köchin und Kellnerin gelernt. Aber auf
wackligen Füssen Cüpli servieren oder
stundenlang am Herd stehen: geht nicht!
Sie steckt den letzten Bissen Omelette
auf die Gabel, sagt dann: «Die berufliche
Zukunft hat mir damals keine grosse
Angst gemacht.» Mit der B
­ erufsmatura
im Sack hätte sie studieren können; ein
Halbtagesjob in einem Telefon-Beratungszentrum war ihr lieber. Sie brauchte
keine neue Herausforderung, die MS forderte sie genug.
Sie wollte alles über den Eindringling
wissen. Erfuhr, dass viel geforscht wird,
dass es neue Medikamente gibt. Stiess aber
auch auf schockierende Aussagen. Etwa
dass Multiple Sklerose ihr Denken lahmlegen kann. «Wenn das Hirn nicht mehr
funktioniert, bin ich am Ende», dachte sie
– und begann panisch, Kreuzworträtsel zu
lösen, um sich zu verge­wissern, dass noch
alles in Ordnung ist. Heute bewahrt sie in
solchen Momenten Ruhe und sagt sich:
«Das kommt schon gut.»
Neues Medikament, neue Ideen
In der Crêperie, in der Anita noch ein
Glas Zwetschgensirup bestellt, sitzt sie
oft. Seit letztem Sommer studiert sie ganz
in der Nähe soziale Arbeit. «Seit ich vor
vier Jahren das Medikament wechselte,
geht es mir viel besser.» Das erste Jahr
nach der Diagnose hatte sie sich alle zwei
Tage ein Medikament gespritzt. Die
­Wirkung ­jedoch blieb aus, ein Krankheitsschub jagte den nächsten. Als ihr ➳
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Wie viele Menschen
sind betroffen?
Über 10 000 Menschen leiden
in der Schweiz an MS, ­Frauen
doppelt so häufig wie Män­
ner. Bei 80 Prozent der
­Erkrankten zeigen sich die
ersten Symptome im Alter
von 20 bis 40 Jahren.
Wie wirken Medikamente?
Beschwerden während eines
Schubs werden mit Kortison
behandelt. Für die Langzeit­
therapie gibt es Basis- und
Eskalationsmedikamente.
Letztere sind zwar wirksamer,
haben aber mehr Neben­
wirkungen; sie bleiben stark
betroffenen Patienten vor­
behalten. Basismedikamente
müssen einmal täglich bis
wöchentlich gespritzt werden
und verhindern etwa 30 Pro­
zent der Schübe. Neu auf den
Markt kommen Basismedi­
kamente, die als T
­ ablette ein­
genommen werden können,
was eine grosse Erleichte­
rung für die Patienten
darstellt.
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Die Kraft der zwei Herzen
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Schweizer Familie 7/2014
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GESUNDHEIT
der Arzt ein anderes Mittel verschrieb, erholte sich ihr Körper nach und nach. Es
war, als schrumpfe der Eindringling in
ihrem Kopf.
Den frei gewordenen Platz füllten neue
Ideen. Anita Wymann war geradezu begierig auf Neues. Sie sagt, sie habe realisiert, «wenn ich Rücksicht auf meine
Krankheit nehme, dann wird sie meine
Pläne nicht zunichte machen». Das bedeutet im Alltag: Sie besucht alle Vorlesungen, beteiligt sich an Gruppenarbeiten, lässt keine Prüfung aus. Gleichzeitig
achtet sie auf ihren Körper: nimmt sich
für den Hin- und Rückweg Zeit; scheut
sich nicht, jemandem mit Auto zu sagen:
«Nimm mich mit»; und geht sogar mit
Wanderstöcken.
Sie lacht, wenn sie an ihren ersten Ausflug mit denen denkt. «Läck, hab ich mich
geschämt – wie doof sieht das denn aus, in
der Stadt mit normalen Kleidern und
Der Rollstuhl ist «gäbig»: Er schenkt Anita Wymann ein Stück Freiheit.
Wanderstöcken!» Heute ist ihr das egal.
Hauptsache, es ist «gäbig».
«Gäbig» sei auch der Rollstuhl, den sie
seit neuestem besitzt. Er erlaube ihr, Dinge
zu tun, auf die sie sonst verzichten müsste.
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Schweizer Familie 7/2014
zu gucken, ohne ständig zu denken: Wo
kann ich absitzen?
Wanderstöcke und Rollstuhl schenken
ihr keine grenzenlose Freiheit. Wie früher
die Nacht durchtanzen oder Snowboarden kann sie nicht mehr. Auch eine Zukunft mit Kindern schliesst sie aus: «Ich
könnte einem Kind nicht geben, was ich
möchte. Ich brauche alle Kraft für mich.»
Sagts ohne Bedauern, eher nüchtern.
Zumindest tönt es so.
«Nicht durchdrehen»
«Aber hey», fügt sie an, «es kommt dafür
Neues hinzu.» Seit zwei Jahren reitet sie.
«Weisst du, wie ein Pferd abgeht im Galopp? – Dann kannst du dir vorstellen,
dass ich stolz auf mich bin.» Auch Yoga
hat sie für sich entdeckt. Nach der ersten
Stunde überkam sie das Gefühl, «ich kann
heimfliegen», so leicht fiel ihr das Gehen.
Die Pause ist fast fertig, Anita Wymann
muss los, geht langsam zum Ausgang der
Crêperie. Nach dem langen Sitzen sind ihre
Schritte wackelig. Draussen sagt sie: «Wir
nehmen uns und alles im Leben viel zu
ernst.» Tut sie das nicht mehr? «Doch, ich
bin die Erste, die Panik vor schlechten Noten schiebt; ich meine, was sind schon
­Noten?» Aber sie sagt sich dann: «Nicht
durchdrehen, das kommt schon gut.» Sie
hält inne, fragt, halb ernst, halb amüsiert:
«Komisch, nicht, dass ich erst krank werden musste, um das zu verstehen?»
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