ShuHaRi - Nachdenken über Formen

Werbung
破
守
離
Nachdenken über Formen
Ein Essay von Hendrik Felber
1 Schokolade
Quadratisch-Praktisch-Gut. Dass wir die kurze Adjektivreihe, haben wir sie erst
ein paar mal gehört, nicht mehr vergessen, mag für manche am Geschmack
der mit dieser Wortmarke seit 1970 ununterbrochen beworbenen Schokolade
liegen. Gleichwohl: Werbeslogans kommen und gehen. Warum aber bleibt
ausgerechnet dieser und ankert fest in unserem Bewusstsein? Die
redensartlich würzende Kürze kann nicht der alleinige Grund sein; andere
knappe Ausdrücke hören und vergessen wir. Was uns geistig an diesen
Worten haften lässt, ist das virtuose Spiel mit der Zahl Drei. Natürlich
bemerken wir sofort, dass es sich um drei Wörter handelt. Erst auf den zweiten
Blick sieht man vielleicht, dass der erste Ausdruck aus drei Sprechsilben, der
zweite aus zwei und das dritte Wort aus einer Silbe besteht. Während also die
verbale Materie – nicht nur phonetisch, sondern auch graphisch – über drei
Stufen hin abnimmt, steigert sich – ebenfalls über drei Stufen – die
Bedeutsamkeit der inhaltlichen Aussage: die Form einer Tafel Schokolade
dürfte für den am gustatorischen Genuss interessierten Menschen kaum für
den Kauf des Produkts ausschlaggebend sein. Immerhin wirkt das von der
etablierten Rechteckform sich abhebende Schokoladenquadrat optisch
alleinstellend und bereitet durch seine geometrische, und damit ästhetische
Ausgewogenheit auf die zweite, nun schon eindeutig positiv konnotierte
Eigenschaft vor: „praktisch“. Worauf sie sich bezieht, ist nicht zweifelsfrei zu
klären. Die einfache und Wiederverschließbarkeit gewährende Knick-Öffnung
wurde erst 1976, also nach dem Slogan, eingeführt. Trotzdem ist klar, dass es
nicht mehr nur der optischen Wahrnehmung bedarf, um etwas als
„praktisch“ bewerten zu können, sondern eben der „Praxis“, der Ausführung
einer Handlung. Und was läge näher, als eine Schokoladentafel von ihrer
Verpackung zu befreien, um von ihr zu probieren? Das dritte Adjektiv hat dann
aufgrund seines kategorischen Aussagegehalts keine Deutung mehr nötig: die
Schokolade sei einfach „gut“, heißt es. Details wie Verpackung, Geschmack
und Preis spielen bei diesem Gesamturteil ebenso wenig eine Rolle wie etwai-
ige Konkurrenzprodukte. Während andere Unternehmen mit dem
vergleichenden Superlativ einer dreigliedrigen Steigerungsreihe werben (z.B.
Gut, besser, Paulaner) genügt hier der Positiv des Adjektivs, der den Vergleich
entbehren kann: die Schokolade sei nicht „am besten“ von allen, auch nicht
„besser“ als eine andere, sondern einfach „gut“. Die Grundstufe wird somit zur
„Meiststufe im schlichten Gewand“.
Wenn wir zusammenfassen, steht also der dreigliedrigen Klimax hinsichtlich
der positiven Wahrnehmung der Schokolade eine dreistufige Antiklimax
hinsichtlich der verbalen Materie gegenüber. Wie bei einem Countdown wird
mit abnehmender Silbenzahl und abnehmender Distanz zu Schokolade
(zunächst nur sehen: quadratisch, dann ergreifen und öffnen: praktisch) auf
den entscheidenden Schlusspunkt (hinein beißen, Geschmack und
Endorphinausschuss genießen: gut) hingearbeitet. Wer kann da noch
widerstehen? Unser Gedächtnis offenbar nicht.
Wie schwierig es ist, eine Formulierung von vergleichbar sprachlicher Tiefe zu
schaffen, mag ein abschließender Blick auf die offiziellen Slogans desselben
Unternehmens im Ausland zeigen. Im Französischen verzichtet man mit drei
zweisilbigen Wörtern gänzlich auf den verbalen Countdown als Kontrapunkt
zur Inhaltssteigerung und schränkt das kategorische „gut“ auf den Geschmack
ein: Carré. Pratique. Gourmand. Im Italienischen verflacht das deutsche
Silben-3-2-1 zu einem 3-3-2: Quadrato. Pratico. Buono. Im anglophonen
Sprachraum verzichtet man mit The Handy Chocolate Square bzw. Quality in a
Square gleich ganz auf das einprägsame Trikolon oder konzentriert sich auf
den phonetischen Countdown unter Verlust der graphischen Wortkürzung und
der inhaltlichen Steigerung: Quality. Chocolate. Squared.
2 Hattricks
So einfach die dreigliedrige Wortgruppe also daher zu kommen scheint, so
wohldurchdacht ist sie komponiert und erzielt auf diese Weise ihre
einprägende Wirkung. Ihr Autor macht sich dabei die uns Menschen innewohn-
ende emotionale Nähe zur Zahl Drei zu Nutze, die sich seit Jahrtausenden in
verschiedensten Werken menschlicher Kreativität manifestiert. Das
chinesische Orakelbuch „Yì Jīng (I Ging), dessen Ursprünge bis ins zweite
vorchristliche Jahrtausend reichen sollen, v verwendet acht Trigramme, d.h.
Zeichen aus jeweils drei durchgezogenen oder durchbrochenen Linien, zur
Weissagung. Im griechischen Mythos hat der Höllenhund Kerberos drei Köpfe,
Ödipus erkannte im Rätsel der Sphinx, welches dreigestaltige Wesen morgens
auf vier Beinen, mittags auf zweien, abends auf dreien ginge, den Menschen.
Im japanischen Shintō spielen drei Kostbarkeiten, Schwert, Edelstein und
Spiegel in den mythologischen Geschichten um die Sonnengöttin Amaterasu
eine tragende Rolle; bis heute gelten sie als die drei Insignien der angeblichen
Nachfahren Amaterasus, der japanischen Kaiser. Dem Mann, auf dessen
Namen unser deutsches Wort Kaiser zurückgeht, C.Iulius Caesar, wird das
berühmte Trikolon Veni. Vidi. Vici. („Ich kam, sah und siegte.“) zugeschrieben.
Im Neuen Testament besuchen drei Astrologen (Könige) den neugeboren
Jesus, der später am dritten Tage nach seinem Tod wieder aufersteht. Der
Apostel Paulus formuliert im ersten Brief an die Korinther die christlichen
Kardinaltugenden: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.“; die
göttliche Instanz wird im Christentum als Trinität (Dreifaltigkeit) von Vater,
Sohn und heiligem Geist begriffen. In den grimmschen Märchen hat der Teufel
drei goldene Haare, der goldene Schuh auf der Schlosstreppe passt erst der
dritten Schwester (Aschenputtel), die Müllerstochter und Schneewittchen
werden jeweils dreimal von Rumpelstilzchen bzw. der bösen Königin besucht
usw. Wenn sie etwas Unangenehmes geschafft haben, machen auch NichtKatholiken drei Kreuze. Wenn man zweimal kein Glück hat, vertraut man
redensartlich darauf, dass aller guten Dinge drei sind. Schießt ein Fußballer in
einer Halbzeit drei Tore, feiert man seinen Hattrick. Von einem grippalen Infekt
sagt man: drei Tage kommt er, drei Tage bleibt er, drei Tage geht er. Wir
empfinden musikalische Dreiklänge als harmonisch, wir nutzen die Erkenntnis,
das gleichschenklige Dreiecke recht stabil sind, beim Bau entsprechend
geformter Dächer und begreifen die dritte Person des Kindes als Erfüllung der
natürlichen Verbindung von Mann und Frau. Dieser Dominanz und der damit
einhergehenden Bedeutung der Zahl Drei konnten schon die Philosophen des
Altertums nicht entgehen: Zu Beginn seiner Schrift „Vom Himmel“ weist
Aristoteles (384-322 v.Chr.) den Anhängern des Pythagoras (ca. 570-510
v.Chr.) die Auffassung zu, dass das All und alles sich im All Befindliche durch
die Zahl Drei determiniert sei, da Anfang, Mitte und Ende den Begriff „All(es)“ erst ermöglichen. Bei zwei Dingen spräche man von „beiden“, während die
Zahl Drei zum ersten Mal erlaube, von „allen“ Dingen zu sprechen.
Vergleichbar heißt es im 42. Kapitel der berühmten Schrift Dàodéjīng des
chinesischen Gelehrten Lǎozǐ aus dem 6. Jahrhundert vor Christus: „Das Dào
erzeugt Eins, Eins erzeugt Zwei, Zwei erzeugt Drei, Drei erzeugt alle Dinge.“
Diese kurze Zusammenschau mag genügen, um die menschliche Affinität zur
Dreizahl im Allgemeinen und zu dreigliedrigen Ausdrücken im Besonderen
aufzuzeigen. So ist es kaum verwunderlich, dass wir solchen auch in Theorie
und Praxis des kulturellen Phänomens der japanischen Kampfkünste
begegnen. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang die häufig anzutreffende
dreifache Wiederholung ein und derselben Bewegungssequenz innerhalb einer
Form. In Schriften zur Kampfkunst bemerken nicht selten kurze dreigliedrige
Ausdrücke. Aus der Tatsache, dass einzelne, ursprünglich chinesische
Schriftzeichen (Kanji) nicht nur für einzelne Bedeutungen, sondern für
Bedeutungskomplexe stehen, ergibt sich, dass mit einem solchen graphisch
und phonetisch kurzen Ausdruck ein ganzes Konzept zum Ausdruck gebracht
werden kann. Entsprechende Beispiele, auf die hier nicht näher eingegangen
werden kann, sind etwa die Dreieinheiten von „Geist, Technik und Körper“ (心
技体 Shin-Gi-Tai), von „Himmel, Erde und Mensch“ (天地人 Ten-Chi-Jin) oder
von „Leere, Kampfkunsttechnik und Weg“ (空手道 Kara-Te-Dō). Das Trikolon
„Einhalten, Ausbrechen und Verlassen“ (守破離 Shu-Ha-Ri), das im Folgenden
eingehender betrachtet werden soll, repräsentiert drei Fortschrittsstufen auf
dem Weg der geistigen Entwicklung des Menschen in seinem Verhältnis zu
seiner Bildung dienenden künstlerischen Formen.
3 Goethe und Funakoshi
Das Wort Kampfkunst weist bereits daraufhin, dass die Praxis des
Kämpfens im Kontext dieser Ausführungen als menschliche
Kulturtechnik zu verstehen und als solche mit anderen Künsten
wie
etwa
dem
Schreiben,
dem
Musizieren,
dem
Blumenarrangieren oder dem rituellen Zubereiten und Genießen
von Tee zu vergleichen ist. Der Zugang zu diesen Kulturtechniken
erfolgt seltener intuitiv, empirisch und selbstständig, häufig
dagegen rational, systematisch und angeleitet durch einen Lehrer.
Letzterer bedient sich dabei erfahrungsbestimmter Formen, die
den Menschen in seinem angeborenen Explorationstrieb mit der
Absicht hemmen, Irrwege beim Erkunden von vornherein zu
vermeiden und möglichst schnell zum Ziel, d.h. zum Erwerb der
Kulturtechnik zu gelangen. In unserer Sprache gibt es für diese
Formen verschiedene
Bezeichnungen, wie etwa die der
musikalischen Etüde, der mimischen Übung, der zeichnerischen
Studie oder aber der Höflichkeitsregel. Die Japaner nennen solche
Formen in allen Künsten gleich: kata. Die Spannung zwischen dem
natürlichen,
persönliche
Freiheit
voraussetzenden
Explorationstrieb und der künstlichen, d.h. künstlerischen
Fortschritt bezweckenden Beschränkung dieses Triebes ist ein
menschliches Urthema, über das immer wieder nachgedacht
wurde. Ein Zeugnis dafür ist ein Gedicht Johann Wolfgang
Goethes (1749-1832) aus dem Jahr 1800:
Natur und Kunst
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden;
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Goethe reflektiert hier aus der Erfahrung von mehr als fünfzig Lebensjahren ein
Detail seines eigenen künstlerischen Werdegangs. Das lyrische Subjekt spricht
in der dritten Zeile von einem früheren Widerwillen gegen – dies wird aus dem
weiteren Textverlauf deutlich – die Natürlichkeit beschränkende Bindung an die
Kunst. Biographisch lässt sich dieser Widerwille zum Beispiel in der
Rede des jungen Goethe „Zum Schäkespears Tag“ am 14.Oktober 1771
verorten, in der der Zweiundzwanzigjährige äußert: „Was will sich unser
Jahrhundert unterstehen, von Natur [d.h. hier: Natürlichkeit in/von
Kunstwerken] zu urteilen? Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend
auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und an andern sehen.“ Die
Partizipien „geschnürt“ und „geziert“ geben wie das Substantiv „Gesetz“ im
späteren Gedicht Aufschluss darüber, auf welchen Aspekt des
mehrdimensionalen Begriffs „Kunst“ Goethe in seinen vier Strophen abhebt: es
ist der der künstlerischen Norm, der vom Lehrmeister gesetzten, d.h. zu
erlernenden und einzuübenden Regel, der sich der Anfänger auf einem
künstlerischen Weg unterzuordnen hat. Es ist – japanisch gedacht – die kata.
Goethe rebelliert in seiner Jugend gegen literarische Regeln, verfasst Gedichte
ohne Reim und Versmaß, Dramen in Alltagssprache und Romane in offener
Briefform und ist mit dem literarischen Ausleben seiner persönlichen Sturmund-Drang-Phase Impulsgeber der gleichnamigen Epoche. Unter Eindruck
seines Antike-Studiums an Originalschauplätzen in Italien vollzieht sich jedoch
später ein Sinneswandel, der sich exemplarisch in „Natur und Kunst“, einem
absolut durchkomponierten Text manifestiert: Goethe fügt seine Gedanken in
eine der strengsten Gedichtformen überhaupt, das aus Italien stammende
Sonett. Dafür vorgegeben sind 14 Verse, zu ordnen in zwei vierzeilige und
zwei anschließende dreizeilige Strophen. Die zweite Strophe folgt nahezu
exakt dem Reimschema der ersten, die vierte Strophe dem Schema der
zweiten. Alle Verse fließen im jambischen Wechsel von unbetonten und
betonten Silben harmonisch dahin. Somit handelt es sich bei „Natur und
Kunst“ inhaltlich wie formal um ein Zeugnis von Goethes erneuter,
verständniserweiterter Hinwendung zur künstlerischen Beschränkung durch
Form. Sie wird, wie es die letzten beiden Strophen verdeutlichen, nicht mehr
als Widerspruch zum natürlichen Freiheitsdrang, sondern vielmehr als
Voraussetzung für „Großes“, für Meisterschaft und damit einhergehender
persönlicher Liberalität aufgefasst. Diese zu erlangen, quasi als eine Freiheit
höherer Ordnung wiederzuerlangen, wird in Strophe zwei als durchaus
mühevoll beschrieben. „Mit Geist und Fleiß“ müsse man sich „in abgemessnen
Stunden“, also in einer länger währenden, jedoch endlichen Zeit, anstrengen
und an die Kunst binden, um das gewünschte Ergebnis, Natürlichkeit, zu
erreichen. Das Streben „nach der Vollendung reiner Höhe“ nimmt in den
Mühen der Ebene seinen Anfang.
Der Karate-Meister Funakoshi Gichin (1868-1957) bringt mit Bezug auf seine
Kunst, den Weg der leeren Hand, ähnliche Prozess-Gedanken in seinen ca.
1930 entstandenen und 1938 erstmals veröffentlichten „Zwanzig Artikeln zum
Karatedō“ zum Ausdruck. In Artikel 6 nennt er als explizites Ziel der KarateÜbung, den Geist (kokoro) zu lösen, zu befreien. Artikel 17 ergänzt dies auf
physischer Ebene: „Der Anfänger (shoshinsha) nimmt festgelegte Haltungen
(kamae) ein, später folgt der natürliche Körper (shizentai).“ Artikel 18 variiert
den Gedanken, durch Beschränkung zur Freiheit zu gelangen, mit Blick auf
das Verhältnis von festgelegter Bewegungsroutine und tatsächlichem Kampf:
„Die Form (kata) muss genau eingehalten werden werden. Im tatsächlichen
Kampf verhält sich dies jedoch anders.“ Besonders wichtig ist es Funakoshi,
von Karate-Übenden zu fordern, sich mit „Geist und Fleiß“ im goetheschen
Sinne redlich zu bemühen: Die Artikel 7 bis 11 sprechen eine deutliche
Sprache:
Unheil entsteht aus Nachlässigkeit. - Denke nicht nur im
Dōjō an Karate. - Die Übung des Karate geht ein Leben
lang. - Verbindest du dein alltägliches Leben mit Karate, liegt
darin der Zauber der Kunst. Wahres Karate ist wie heißes
Wasser, das abkühlt, wenn du es nicht ständig wärmst.
Das Kanji 妙 (myō), das ich hier nur unzulänglich mit „Zauber der
Kunst“ übertrage, kann unter anderem „sonderbar, merkwürdig, geheimnisvoll,
wunderbar, bezaubernd, reizvoll, hervorragend und geschickt“ bedeuten. Es
besitzt also ein Spektrum, das auch Goethes Wendung von der „Vollendung
reiner Höhe“ aufweist.
Wie wir sehen, gibt es im Nachdenken zweier Meister über die Entwicklung
des Verhältnisses von Natur und Kunst, Freiheit und Beschränkung, sich
loslassen in den Fluss des Lebens und sich fügen in die Starrheit der Form
trotz unterschiedlicher kultureller Prägung eine ganze Reihe an Parallelen.
Natürlich dachten und denken auch viele andere Gelehrte über menschlichen
Verständnis- und Fertigkeitsfortschritt nach – inzwischen auch im großen
Rahmen universitärer Disziplinen. Ihre Ideen und Erkenntnisse mündeten und
münden dabei immer wieder in fiktionale oder pragmatische Texte. Ein
besonders frühes und gleichermaßen berühmtes Beispiel dafür ist das
sokratische Höhlengleichnis aus Platons „Politeia“, auf das ich später noch
eingehen werde. Ein anderes ist das bereits erwähnte japanische Trikolon shuha-ri, das in der extremen Knappheit von nur drei Sprechsilben solche
Fortschrittsprozesse zusammenfasst und sich vielleicht gerade wegen dieser
Qualität innerhalb und außerhalb der Kampfkünste als Ausgangspunkt
entsprechender Erläuterungen etabliert hat. Ohne solche Erläuterungen kommt
der Ausdruck freilich nicht aus, er ist nicht selbsterklärend und damit nur
demjenigen von Nutzen, der bereits mit seinem möglichen Bedeutungsgehalt
vertraut gemacht wurde.
4 Worte des Teemeisters
Geprägt wurde es wahrscheinlich durch einen Zeitgenossen Goethes, den
Edo-Senke-Teemeister Kawakami Fuhaku (1719-1807), der in seiner Schrift
„Fuhaku Hikki“ (Fuhakus Aufzeichnungen) aus dem Jahr 1794 ausführt:
守ハマモル、破ハヤブル、 離ハはなると申候。弟子ニ
敎ルハ此守 と申所計也。弟子守ヲ習盡し能成候へバ自然と自身
よりヤブル。これ上手の段なり、さて、守るにても片輪、破 る
にても片輪、この二つを離れて名人なり、前の二つを合して離
れてしかも二つを守ること也.
Mit der freundlichen Unterstützung von Chris Gillies (Koryū-Uchinādi-Shodan
aus Adelaide, Australien) versuche ich die Passage zu übersetzen:
Shu
bedeutet
„bewahren/einhalten“,
Ha
„ausbrechen/zerreißen“ und Ri „sich trennen/verlassen“. Zu
unterrichtende Schüler beginnen bei Shu. Wenn sie
voranschreiten werden sie aus Shu auf natürlich Weise
ausbrechen. Fortschritt in dieser Phase bedeutet, dass Shu als
das eine Rad, Ha als das andere Rad eines Wagens fungieren.
Sich Loszulösen bedeutet ein Meister zu sein: die beiden
vorgenannten zu verbinden, sich von ihnen zu entfernen und sie
dennoch zu bewahren.
In einem anderen Zitat, das aus Kawakamis „Chawashū“ (Tee-Geschichten)
stammt, sind die drei Etappen direkt auf den persönlichen Fortschritt bezogen:
守
破
離
は下手、
Shu – der Ungeübte.
は上手、
Ha – der Geübte.
は名人。
Ri – der Meister.
5 Die Form befolgen
In den japanischen Kampfkünsten wird dieser Dreischritt in der Regel auf den
Verständnisund
Fertigkeitsfortschritt
des
Übenden
in
seiner
Auseinandersetzung mit den Formen (kata) bezogen.
In der Shu-Phase hat der der Übende die Aufgabe, die Formen, die ihm vom
Meister vermittelt werden, genau zu erlernen und nachzuahmen. Dies betrifft
sowohl die festgelegten kämpferischen Methoden (kata) als auch die
kodifizierten Regeln für das zwischenmenschliche Verhalten in der
Kampfkunstschule (dōjōkun). Sinn und Wert dieser Formen erschließen sich
dem Übenden erst nach und nach, weshalb es durchaus zu
Missverständnissen und Fehlannahmen kommen kann, die zu klären Aufgabe
des Lehrers ist. Nicht jede von dessen Unterweisungen wird den Schüler auf
der Shu-Stufe sofort erreichen. Notwendig für den Fortschritt ist daher ein vom
Erfahrenen zu etablierendes und vom Unerfahrenen zu erwiderndes
Vertrauensverhältnis, dessen Basis die Zuversicht des Schülers ist, dass der
Meister das Richtige tut, um ihn auszubilden, auch wenn er als Schüler dies
(noch) nicht versteht. Geht ein Unerfahrener den gegenteiligen Weg und
bezweifelt den Sinn der Formen und die Lehre des Meisters, ohne sie
tatsächlich verstanden zu haben, so wird er aus diesem Unbehagen heraus
dem Meister nicht mehr folgen und dadurch die Tradition, in der jener steht,
nicht bewahren können. Die Haltung des Übenden auf der Shu-Stufe muss
daher von Geduld, Zurückhaltung und vom Bemühen um rechtes Verständnis
geprägt sein. Vorschnelles Urteilen vereitelt weiteren Fortschritt.
6 Die Form zerbrechen
Hat der Übende sich längere Zeit intensiv mit den formalen Abläufen seiner
Kampfkunst beschäftigt und ist er in der Lage, die kata auf einem hohen
Niveau zu reproduzieren, so besteht die Gefahr, dass er diesen Prozess der
oberflächlichen Aneignung nur noch wiederholt und ohne weiteren Erkenntnisgewinn, ohne tieferes Verständnis und damit ohne tatsächlichen Fortschritt auf
der Shu-Stufe verharrt. Das, was in einer frühen Phase des Kampfkunstweges
den Übenden am Fortschritt noch hindern kann, ist für dessen weiteres
Voranschreiten nun zur notwendigen Bedingung geworden: Er muss die
Details der Formen auf die verschiedenen Dimensionen ihres Sinngehalts hin
prüfen, er muss im Geflecht des Formensystems Wechselbeziehungen und
wiederkehrende Prinzipien erkennen und für sich nutzbar machen, er darf die
Form schließlich nicht (mehr) als Eigenwert betrachten, sondern als Mittel zur
Verwirklichung übergeordneter Werte. Der Übende auf der Shu-Stufe dient der
Form, der Übende auf der Ha-Stufe bedient sich der Form. Er bricht aus ihr
aus, um sie von außen betrachten zu können. Er zerbricht sie, löst sie auf (jap.
bunkai, gr. analysis), um die Zusammensetzung (jap. gōsei, gr. synthesis) ihrer
Bestandteile verstehen zu lernen und gegebenenfalls einmal selbst synthetisch
wirksam werden zu können. Wie Kawakamis Definition verdeutlicht, ist es nicht
so, dass Ha anstelle von Shu träte; vielmehr wird Shu um Ha erweitert, um
fortan mit diesem als zwei Räder auf einer Achse zu fungieren. Die Metapher
des Teemeisters weiterdenkend ist Shu demjenigen zu vergleichen, der zum
ersten Mal ein Rad gemäß einem Muster baut. Wiederholt er dies und
analysiert wie Lǎozǐ im 11.Kapitel des Dàodéjīng die Bestandteile des Rades,
so mag er erkennen, dass er aus dem Kreis als Grundform des Rades
ausbrechen (Ha) und mit der Achse in die Tiefe des Raums bzw. zur Synthese
mit anderen Rädern vordringen muss, um den Sinn seiner Tätigkeit zu erfüllen:
die Praxis des Fahrens zu ermöglichen.
Dreißig Speichen
umgeben eine Nabe:
Gerade ihr Nichts
ist des Rades Nutzen.
7 Die Form verlassen
Das als Ri bezeichnete, nach Kawakami dem Meister einer Kunst zugeordnete
Stadium des Umgangs mit Formen impliziert ein sich Loslösen, ja ein
Verlassen eben dieser. In dieser Phase ist es für den Übenden selbst nicht
mehr notwendig, die kata seiner Tradition im Ablauf nachzuahmen oder
vergleichend zu analysieren, da er die in den Formen enthaltenen Prinzipien
und die durch ihre Übung vermittelten Werte verinnerlicht hat und lebt.
Gleichwohl weiß er um die gewichtige Funktion der kata im Unterrichtsprozess
und vermittelt diese als Methode an seine Schüler weiter. Dazu kann er die
überlieferten Formen seiner Kampfkunsttradition nutzen oder auch - mit den
Worten des Wadō ryū-Begründers Ōtsuka Hironori (1892-1982) aus dessen
Schrift „Die Annalekten des Lehrmeisters“ - „etwas noch vortrefflicheres
Neues“ erschaffen. So erklärt sich der scheinbare Widerspruch in den
Äußerungen Kawakamis, der bemerkt, dass es in der Ri-Phase ein Miteinander
von „Verlassen“ und „Bewahren“ gibt.
8 Hindernisse
Nicht jeder Kampfkunstübende erreicht zwangsläufig alle drei der genannten
Fortschrittsstufen, das Gegenteil ist der Fall. Viele derjenigen, die die Übung
einer Kampfkunst aufnehmen, kommen auch nach Jahren des Trainings über
die Shu-Stufe, das Stadium des bloßen Form-Befolgens, nicht hinaus. Die
Ursachen dafür können beim Lehrer und beim Schüler liegen.
Will letzterer nach anfänglichen Erfolgen beim Lernen und Nachahmen der
Formen weiter voranschreiten, darf er sich nicht auf seinen Leistungen
ausruhen, sondern muss seiner Kunst weiterhin mit einer Haltung des
Strebens und dem offenen Geist eines Anfängers begegnen. Es genügt nicht
mehr, dem Unterricht des Lehrers nur aufmerksam zu folgen und seinen
Anweisungen nachzukommen. Er muss beginnen, selbst nach Zusammenhän-
gen und Sinn zu forschen, er muss Fragen an seine Kunst stellen und in ihr die
Antworten suchen. Der Übergang von der Shu- zur Ha-Stufe setzt in jedem Fall
die Eigeninitiative des Schülers voraus.
Aufgabe des Meisters ist es, das Potential derjenigen Schüler, die bereit für die
Ha-Stufe sind, zu erkennen, und ihnen zum geeigneten Zeitpunkt eigene, ganz
persönliche Studien und Erfahrungen zu ermöglichen. Dazu gehören
beispielsweise freie Trainings, in denen fortgeschrittene Schüler ihre
Übungsinhalte selbst wählen und vom Meister individuell korrigiert werden.
Dazu gehört auch, diese fortgeschrittenen Schüler nach und nach in die Praxis
des Lehrens einzubinden, solange bis sie selbst eigenverantwortlich Schüler
unterrichten können. Der Meister begleitet in dieser Phase die Entwicklung der
fortgeschrittenen Schüler aufmerksam und lenkt ihr Streben, indem er sein
Wirken von dem eines Vorgebers der Shu-Stufe zu dem eines Rat- und
Impulsgebers der Ha-Stufe verändert. Gemäß dem Entwicklungsstand seines
Schülers wandelt er damit seine Art zu unterrichten und ermöglicht auf dieses
Weise individuellen Fortschritt und Persönlichkeitsentfaltung. Rechtfertigt der
Schüler das Vertrauen des Lehrers, werden ihm von diesem immer mehr
Freiheiten eingeräumt, die freilich neben dem größeren Entwicklungspotential
auch mehr Möglichkeiten individuellen Scheiterns bergen. Will der Meister ein
Scheitern des Schülers in jedem Fall vermeiden, indem er ihm alles vorgibt und
keine Verantwortung überträgt, verbaut er ihm dadurch Wege, zu einer reifen
Persönlichkeit zu werden.
Das Stadium der Meisterschaft und der geistigen Reife, die Ri-Stufe, ist
gekennzeichnet von der Transzendenz der Formen und der Fähigkeit, die
Tradition durch Innovation fortzusetzen. Sie wird, wie gesagt, von nur wenigen
Übenden erreicht. Die Basis für dieses Erreichen ist eine Jahrzehnte währende
und vom unausgesetzten Bemühen um Fortschritt geprägte Kampfkunstpraxis.
Ōtsuka Hironori charakterisiert in den „Annalekten des Lehrmeisters“ Ri als
„eine außerordentlich schwierige Sache“. Weiter schreibt er: „…es ist
unmöglich, überhaupt nur den ersten Abschnitt [d.h. Shu] in fünf oder zehn
Jahren zu erfassen. Zudem hängt dies auch noch von der angeborenen Bega-
bung der betreffenden Person ab. Da es ferner, auch wenn man Talent besitzt,
einer Schlaf und Nahrung vergessenden ernsthaften Übung bedarf, ist es für
die Menschen der Gegenwart vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit, dies
anzustreben.“ Somit rückt Ōtsuka Ri in den Bereich eines Ideals, dem man
sich zwar mehr oder weniger nähern, das man aber kaum erreichen kann.
Insofern gerät Ri als Konzept in die Nähe solcher Begriffe wie „Nirvana“ und
„Erleuchtung“: Die aus dem Beschreiten des langen Lebensweges
erwachsenen Erfahrungen und Einsichten können in ein von jeglichen
egoistischen Bestrebungen losgelöstes Ich-Bewusstsein münden, das sich in
einer körperlich und geistig wahrnehmbaren Präsenz manifestiert und das
Wirken des Meisters mit einer gewissen Aura des Wunderbaren (myō) erfüllt.
Häufig ist es die Faszination am myō des Meisters, die die Schüler der ShuStufe und der Ha-Stufe motiviert, selbst voranzuschreiten.
Sollte sich der zum Meister gewordene Schüler auf der Ri-Stufe noch in einem
intakten Verhältnis zu seinem eigenen Meister befinden, könnte man die
dreistufige Entwicklung ihres Verhältnisses vielleicht so beschreiben, dass der
Lehrende den Lernenden auf der Shu-Stufe anleitet, auf der Ha-Stufe geleitet,
um ihn schließlich auf der Ri-Stufe schlicht zu begleiten.
9 Drei? Vier? Oder…?
Wie Kawakami im 18. Jahrhundert schreibt, bleibt Ri den Meistern vorbehalten;
Ōtsuka rückt im 20. Jahrhundert diese Stufe in den Bereich des fast
Unmöglichen. Vielleicht ist dies der Grund für Versuche wie den des AikidōLehrers Furuya Kensho (1948-2007), mit der Einführung einer vierten Stufe, Kū
(Leere), der dritten etwas von ihrer vermeintlich unerreichbaren Höhe zu
nehmen und damit mehr Relevanz für die Kampfkunst-Übenden der
Gegenwart zu verleihen. Möglicherweise liegt es lediglich an der Magie der
Dreizahl, dass dies Versuche blieben und Shu-Ha-Ri sich auch gegen
moderne, wissenschaftliche Konzepte wie das Fünf-Stufen-Modell der Kompe-
tenz-Entwicklung (Novize, fortgeschrittener Anfänger, kompetenter Fachmann,
Erfahrener, Experte) nach den Gebrüdern Dreyfus im Bereich der japanischen
Kampfkünste behaupten kann. Im Hintergrund bleibt die Frage, ob Shu-Ha-Ri
jenseits der menschlichen Affinität zum Trikolon ein taugliches Konzept ist, um
den Fortschrittsweg von Kampfkunstübenden zu beschreiben, wenn es ihn
schon nicht im Sinne einer für alle Budōka erfüllbaren Norm vorgeben kann.
Dass das Erreichen konkreter Ziele in der Übung der mit der japanischen Silbe
-dō (Weg) suffigierten Künste zugunsten des permanenten Fortschreitens,
zugunsten des in Bewegung Bleibens, zugunsten des Gehens auf dem Weg in
den Hintergrund tritt, ist heute ein Gemeinplatz. Insofern macht es für die
moderne Praxis der Kampfkünste kaum einen Unterschied, ob die Ri-Stufe real
erreichbar ist oder „lediglich“ als ideales Movens fungiert. Wenn der Weg das
Ziel ist, muss man lediglich gehen. Ri gibt dabei die Richtung, nicht das Ziel an.
10 Ha-ha-ha: Thinking outside Plato’s cave
Der Gründer des Koryū Uchinādi Kenpō Jutsu, Patrick McCarthy, hat bei der
Bennennung seiner eklektischen Kampfkunstauffassung zwar mehr oder
weniger bewusst auf das Suffix -dō verzichtet, gleichwohl steht die um
Verständnis ringende Auseinandersetzung mit überlieferten Bewegungsformen
(kata) wie bei anderen asiatischen Kampfkünsten erklärtermaßen im Zentrum
des Bemühens. Also optimale Voraussetzungen für die Übertragung des
Ausdrucks
Shu-Ha-Ri
zur
Beschreibung
des
Verständnisund
Fertigkeitsfortschritts der Übenden im Koryū-Uchinādi? Bei oberflächlicher
Betrachtung müsste man diese Frage wohl verneinen:
Will man sich auf der Homepage der IRKRS über den Gründer dieser KarateAufassung informieren, gelangt man zu einem Artikel mit der Credo-artigen
Überschrift: Thinking Outside the Box. Im seinem Untertitel heißt es:
Sometimes you don't know how to fit in until you break out. Jenseits etablierter
Muster denken? Wenn man sich nicht in eine vorgegebene Form zu fügen
weiß, soll die Lösung sein, aus ihr auszubrechen? Beides klingt nach einer
Fokussierung auf das Ha-Stadium von Shu-Ha-Ri und könnte wohl auch von
Goethe in seiner Sturm-und-Drang-Zeit ähnlich geäußert worden sein. Weitere
Beobachtungen scheinen diese Vermutung zu bestätigen: im theoretischen
Unterricht rekurriert McCarthy sensei häufiger auf das so genannte NeunPunkte-Problem: neun quadratisch angeordnete Punkte sollen mit vier geraden
Linien verbunden werden, ohne den Stift abzusetzen. Eine Lösung ist nur
möglich, wenn die Quadratstruktrur der Anordnung bewusst ignoriert wird. Man
entledigt sich des Form-Problems also dadurch, dass man die Form bewusst
verlässt. Im praktischen Unterricht kehrt der Kampfkunst-Lehrer in aller Regel
die sonst übliche Reihenfolge, dass am Beginn des Kata-Lernens der Ablauf
der Solo-Form steht und erst später mehr oder weniger realistische
Kampfverfahren aus ihr abgeleitet werden, um. Oft unterrichtet er zunächst die
kämpferische Bedeutung einzelner Kompositionselemente der Kata, um diese
dann später in der Solo-Form zu synthetisieren und mit ihr zu memorieren.
Also auch in der Lehre eine Dominanz von Ha?
Zur Beantwortung dieser Frage, ist es notwendig, einen Blick auf die
besondere Schüler-Klientel McCarthy senseis zu werfen: sehr häufig sind es
Übende, die schon lange in der Shu-Stufe eines Karate-Stils verharren und
innerhalb ihrer „Box“, d.h. innerhalb der fest gefügten Formen ihres Stils,
innerhalb der fest gefügten Denk- und Unterrichtsmuster ihrer Lehrer, keine
andere Möglichkeit sehen, aus ihr auszubrechen und sich zu entwickeln, als
sich einem anderen Meister, etwa dem Koryū-Uchinādi-Gründer zuzuwenden.
Sie gleichen in die vier Ecken eines Aquariums hineinwachsenden Fischen, die
sich schlussendlich kaum noch bewegen können und nach Luft schnappen, da
es versäumt wurde, ihnen rechtzeitig mehr Freiraum zu gewähren. Mit letzter
Anstrengung springen sie, die sie einerseits schützenden, andererseits
beengenden Wände überwindend, aus dem Becken zurück in den Fluss des
Lebens, atmen freier und genießen ihren neuen Bewegungsspielraum, wenn
sie nicht – quasi auf dem Trockenen gelandet – ihre Karate-Übung für immer
beenden. Angesichts dieses Umstands wird der Praxis der Shu-Stufe bei
McCarthy senseis Seminaren häufig nur geringer Raum gewährt („You all
know that…“), sondern das Hauptaugenmerk auf die Analyse von Formen (Ha)
bzw. weiterführend auf die Analyse kämpferischer Situationen gelegt. Eine
geistige Überforderung mancher Seminar-Teilnehmer nimmt der Lehrer dabei
billigend und witzelnd („spaghetti brain“) in Kauf.
In gewisser Weise ist Patrick McCarthy mit dem Menschen zu vergleichen, der
nach dem eigenen stufenweisen und mühevollen Aufstieg aus Platons Höhle
des Unwissens in selbige zurückkehrt, um anderen, die noch immer gefesselt
vor der Wand sitzen und Schattenbilder als Realität auffassen, den gleichen
Weg heraus zu ermöglichen. Über mögliche Widerstände lässt Platon Sokrates
im Dialog mit Glaukon sagen:
Wenn ein solcher nun wieder hinunter stiege und sich auf
denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll
Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? –
Ganz gewiss. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener
Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort Gefangen
gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er
sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit
seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und
von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben
zurückgekommen und es lohne nicht, dass man auch nur
versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie
lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft
werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?
Dies erinnert sehr an den von Patrick McCarthy gern zitierten und Arthur
Schopenhauer zugeschriebenen Dreischritt bei der Etablierung einer Wahrheit:
Alle Wahrheit durchläuft drei Stufen. Zuerst wird sie lächerlich
gemacht oder verzerrt. Darauf wird sie bekämpft. Schließlich wird
sie als selbstverständlich angenommen.
Das Bewusstsein solcher Schwierigkeiten lässt den Kampfkunst-Lehrer jedoch
nicht davor zurückscheuen, immer wieder Ha-Wege aus der Shu-Höhle
aufzuzeigen, er wird nicht müde, dem, der fragend an die Shu-Wand klopft,
Ha-Türen antwortend zu öffnen.
Entscheidet sich ein solch Shu-erfahrener Frager irgendwann für Patrick
McCarthy als Karate-Lehrer, so lernt er Koryū-Uchinādi von Beginn an auf der
Ha-Ebene, die ja von Kawakami als ein stetes Miteinander von FormBewahrung und Form-Analyse charakterisiert worden ist.
So gesehen könnte man Patrick McCarthy tatsächlich als einen Hafokussierten und Ha-fokussierenden Lehrer betrachten. Das in seinen
humorvollen Erläuterungen von ihm nicht selten geäußerte Lachen „Ha-haha“ erhält damit einen ganz neuen Sinn. Was ist aber mit den anderen beiden
Stufen?
Wenn nach den Worten von Ōtsuka das Kriterium für Ri die Schaffung von
etwas vortrefflichem Neuem ist, so könnte man meinen, Patrick McCarthy
selbst habe es mit der Gründung eines eigenen, in wesentlichen Teilen neuen
Formensystems und der Etablierung einer eigenen, in der Karate-Welt
singulären Kampfkunstauffassung erfüllt. Dem entgegen scheint die
Bezeichnung „Koryū“ (alte Schule) zu stehen, mit der der Lehrer weniger RiInnovation als vielmehr Shu-Konservierung suggeriert. Tatsächlich wird der
Terminus von ihm aber im Sinne einer Renaissance, d.h. einer Wiedergeburt
von vergessenem oder verloren geglaubten Wissen gedeutet, was den
Widerspruch zwischen Erneuern und Bewahren kongenial aufhebt und somit
zur allgemeinen Attraktivität des Koryū-Uchinādi beiträgt.
Wie sehr dem Karate-Lehrer auch die Shu-Stufe am Herzen liegt und wie sehr
er von ihrer Notwendigkeit überzeugt ist, erfährt man dann, wenn man in den
eher seltenen Genuss eines reinen Formen-Trainings mit Patrick McCarthy
kommt. Akribisch korrigiert er kleinste Details von Kata-Abläufen und achtet auf
die genaue Einhaltung der Bewegungsmuster. Gleichwohl entwickelt er in
seinem Form-Unterricht vergleichsweise früh ein Ha-Bewusstsein beim
Übenden, etwa, wenn es darum geht, einen Solo-Bewegungsablauf durch ge-
ringfügige Formveränderungen zu dynamisieren, oder darum, in DuoBewegungsabläufen den aggressiven Widerstand des Übungspartners
stufenweise zu erhöhen, was letztlich in Abweichungen von der Grundform
bzw. dem völligen Ausbrechen aus der Form mündet. Die gegenwärtige
Seltenheit von Shu-Phasen im Unterricht Patrick McCarthys lässt seine
inzwischen erreichte und für die Ri-Stufe charakteristische Distanz zu bloßen
Formen erkennen. Ein weiteres Indiz für diese partielle Ablösung ist die
Tatsache, dass er die Gestaltung des mühevollen Lernweges durch die ShuEbene seinen fortgeschrittenen Schülern überlässt: im Koryū-Uchinādi ist es
den Leitern der einzelnen Dōjō freigestellt, in welcher Reihenfolge sie die
Grundformen der Kunst an ihre Schüler vermitteln. Gleiches gilt für die
Entscheidung der Frage, ob durch die Vergabe von Kyū-Graden nach
entsprechenden Prüfungen dieser Lernweg in formalisierte Etappen zu
gliedern ist. Die gewährte Freiheit eröffnet für Lernende und Lehrende große
Chancen individueller Entwicklung, die freilich auch die Möglichkeit der
Orientierungslosigkeit und des völligen Scheiterns beinhalten, wie es Franz
Kafka in seiner „Kleinen Fabel“ versinnbildlicht:
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag.
Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und
war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne
Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell
aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort
im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du musst nur die
Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.
Resümierend kann festgestellt werden, dass das Konzept von Ha für das
Koryū-Uchinādi Kenpō Jutsu genauso zentral ist, wie seine Position im
Trikolon Shu-Ha-Ri. Im Mittelpunkt steht nicht das äußere Anhaften an
Formen, sondern das Vordringen zu ihrem Wesenskern. Im engeren Sinne ist
dies
ihr
Nutzen
für
das
Bestehen
einer
möglichen
Selbstverteidigungssituation, im weiteren Sinne ihr Nutzen für die
Lebenspraxis einer geistigen und physischen Gesunderhaltung.
Eine Form mag durch ihr Äußeres unser Empfinden
reizen, sei es durch vier gleich lange und
rechtwinklig angeordnete Seiten einer Schokoladentafel oder sei es durch harmonisch figurierte und
eindrucksvoll vorgetragene Bewegungen einer
Kata. Verharren wir jedoch bei der Form, indem wir
uns dieser Äußerlichkeit immer wieder hingeben,
verliert sie ihren Reiz. Sich ihrem Innern zu nähern,
heißt, dem Sinn der Form zu entsprechen. Die Tafel
auspacken und in praktische, mundgerechte Stücke
zerbrechen. Die Kata von ihrer geometrischen
Konfiguration befreien und in Sequenzen realer
Kampfpraxis zerlegen. Wenn sich die Schokolade
schließlich auf der Zunge gänzlich von ihrer Form
löst, urteilen wir über ihre Güte. Wenn kampfpraktisches Vermögen der Kata nicht mehr bedarf,
blicken wir auf zur Vollendung meisterhafter Höhe.
Shu-Ha-Ri
Quadratisch-Praktisch-Gut
Herunterladen