Phlebologie © F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH (1998) Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie G. Gallenkemper, B.-J. Bulling, H. Gerlach, M. Jünger, B. Kahle, N. Klüken, W. Lehnert, E. Rabe, Chr. Schwahn-Schreiber Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der chronischen venösen Insuffizienz (CVI)1 Präambel Definition Leitlinien sind systematisch erarbeitete Empfehlungen, um den Kliniker und den Praktiker bei Entscheidungen über die angemessene Versorgung des Patienten im Rahmen spezifischer klinischer Umstände zu unterstützen. Leitlinien gelten für »Standardsituationen« und berücksichtigen die aktuellen, zu den entsprechenden Fragestellungen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Leitlinien bedürfen der ständigen Überprüfung und eventuell der Änderung auf dem Boden des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und der Praktikabilität in der täglichen Praxis. Durch die Leitlinien soll die Methodenfreiheit des Arztes nicht eingeschränkt werden. Ihre Beachtung garantiert nicht in jedem Fall den diagnostischen oder therapeutischen Erfolg. Leitlinien erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Entscheidung über die Angemessenheit der zu ergreifenden Maßnahmen trifft der Arzt unter Berücksichtigung der individuellen Problematik. Das Krankheitsbild der chronischen venösen Insuffizienz (CVI) bezeichnet die klinischen Befunde in der Folge von chronischen Venenkrankheiten unterschiedlicher Ätiologie. Wesentliche pathophysiologische Grundlage ist die ambulatorische venöse und kapilläre Hypertonie (26, 43), d. h. die Unfähigkeit, nach Aktivierung der GelenkMuskel-Pumpen einen adäquaten Druckabfall in den Venen der von der CVI betroffenen Gliedmaßenabschnitte zu bewirken. Die CVI läßt sich hinsichtlich hämodynamischer, morphologischer und klinischer Aspekte unterteilen. In Anlehnung an die Klassifikation von Widmer ist im deutschsprachigen Raum folgende klinische Einteilung üblich (57): – Grad 1: Corona phlebectatica paraplantaris, Phleb-Ödem – Grad 2: zusätzlich trophische Störungen mit Ausnahme des Ulcus cruris (z. B. Dermatoliposklerose, Pigmentveränderungen, weiße Atrophie) – Grad 3: Ulcus cruris venosum (Grad 3a: abgeheiltes-; Grad 3b: florides-) Eine differenziertere Einteilung sieht die CEAP-Klassifikation vor. Eine Evaluierung ihrer Bedeutung im klinischen Gebrauch steht noch aus (46). 1 Diese Leitlinien wurden im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie (DGP) ausgearbeitet und vom Vorstand und dem wissenschaftlichen Beirat der DGP am 7. Juni 1997 verabschiedet. Diese Leitlinien berücksichtigen den aktuellen Stand der Literatur, jedoch nicht die in jedem Land unterschiedlichen Zulassungsbestimmungen für verschiedene Pharmaka Phlebologie 1998; 27: 32–5 Diagnostik Ziel der Diagnostik bei CVI ist es, differenzierte Informationen über Ursachen und Ausprägung des Krankheitsbildes zur Einleitung einer rationalen Therapie zu gewinnen. Anamnese und klinische Untersuchung Bei der Anamneseerhebung sind unter anderem zu erfragen: familiäre Belastung, Begleiterkrankungen, Medikamenteneinnahme, Risikofaktoren, berufliche Belastung, sportliche Aktivitäten, Operationen, Traumatisierungen der unteren Extremitäten und der Beckengürtelregion, Anzahl und Komplikationen von Schwangerschaften, Phlebitiden, Thrombosen, subjektive Symptome und phlebologische Vorbehandlungen (7, 12, 19, 46, 54). Die klinische Untersuchung umfaßt die Inspektion (z. B. Corona phlebectatica paraplantaris, Ulcus cruris, Narben), die Palpation (z. B. Ödem, Dermatoliposklerose, Faszienlücken), den venösen und arteriellen Gefäßstatus, einschließlich Pulstastbefund, zur Erfassung pathologisch veränderter Gefäßabschnitte und die medizinische Ganzkörperuntersuchung einschließlich orientierender neurologischer und orthopädischer Untersuchung (21, 31, 46). Apparative Basis-Diagnostik Die apparative Basis-Diagnostik beinhaltet die Venen-Lokalisation und die Überprüfung der Funktion des Klappenapparates im epifaszialen, transfaszialen und subfaszialen Venensystem durch die direktionale Dopplersonographie (mit spontanen und provozierten Signalen während eines ValsalvaManövers) einschließlich Dokumentation (2, 25, 40, 52). Die Überprüfung der arteriellen Versorgung erfolgt durch die Doppler- Downloaded from www.phlebologieonline.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 39/32 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie sonographie der Beinarterien mit Ermittlung des Knöchelarteriendruckes in Korrelation zu den Armarteriendrucken, im pathologischen Fall gegebenenfalls ergänzt durch die direktionale Strompulskurvenanalyse. Die Überprüfung der Funktion des Venensystems ist mit einem plethysmographischen Verfahren (z. B. Licht-Reflexions-Rheographie [LRR] oder Digitale-Photoplethysmographie [D-PPG]) möglich. Bei pathologischen Werten wird die Besserbarkeit mittels Okklusion der Insuffizienzstrecken des epifaszialen und transfaszialen Venensystems (Tourniquet-Test) bestimmt (siehe auch: Leitlinien der DGP zur Licht-Reflexions-Rheographie/Photoplethysmographie; 3, 17, 18, 28, 38, 48, 58). 1. Medizinische Kompressionstherapie Weiterführende apparative Diagnostik Sie beinhaltet die (ggf. farbkodierte) Duplexsonographie des epifaszialen, transfaszialen und subfaszialen Venenund ggf. Arteriensystems, die (aszendierende Preß-)Phlebographie (evtl. in DSA-Technik), ggf. in Kombination mit der Phlebodynamometrie, die Varikographie, die Phlebodynamometrie (siehe auch: Leitlinien der DGP zur Phlebodynamometrie2) und die VenenVerschluß-Plethysmographie (VVP) (siehe auch: Leitlinien der DGP zur Venen-Verschluß-Plethysmographie2; 6, 21, 23, 24, 32, 45, 56, 63). Die Magnet-Resonanz-Tomographie und die Intrakompartimentäre Druckmessung bleiben seltenen Indikationen vorbehalten (4, 35). Therapie Die Therapie hat sich am jeweiligen Beschwerdebild zu orientieren und verfolgt das Ziel einer kausalen Behandlung der ambulatorischen venösen und kapillären Hypertonie. Die Lösung folgender Probleme wird angestrebt (5): – Beseitigung bzw. Besserung der subjektiven Beschwerden, – Beseitigung bzw. Besserung von Ödem und trophischen Störungen, 2 in Vorbereitung 40/33 – Verhinderung der Verschlimmerung des CVI-Grades. Vor der Einleitung invasiver Maßnahmen soll mit konservativen Methoden versucht werden, das Krankheitsbild zu bessern. Hier seien an erster Stelle die Entstauung der von der CVI betroffenen Bereiche mit physikalischen Maßnahmen sowie die Mobilisierung genannt. Zur Beseitigung hämodynamisch relevanter Refluxstrecken im epifaszialen und transfaszialen Venensystem wird der Operation der Vorzug gegeben. Adjuvant können systemische Pharmaka zur Anwendung kommen. Therapeutische Verfahren sind im einzelnen: (Siehe auch: Leitlinien der DGP zur Kompressionstherapie; 59, 60, 61) Die medizinische Kompressionstherapie ist Grundlage der nichtinvasiven Therapie und kann alleine bzw. in Kombination mit anderen Strategien angewendet werden. Ihre Hauptwirkung entfaltet sie bei Aktivierung der Muskel-Gelenkpumpen, weswegen die Patienten zu regelmäßigem Gehen aufgefordert werden sollen. Die geforderten Eigenschaften beinhalten einen hohen Arbeitsdruck sowie einen niedrigen Ruhedruck, weswegen vorwiegend kurzzugelastische Materialien zur Anwendung kommen. Wechsel- und Dauerverbände sowie medizinische Kompressionsstrümpfe können verwendet werden. Durch die Verwendung von Druckpolstern kann die Effektivität der Kompressionswirkung verstärkt werden. Arterielle Durchblutungsstörungen im Anwendungsbereich müssen im Rahmen der Indikationsstellung als Kontraindikationen für die Kompressionstherapie berücksichtigt werden (nach Schweregrad relativ bzw. absolut), dies gilt auch für ihre Anwendung bei peripheren Neuropathien mit Verminderung der Sensibilität (19, 27, 30, 44, 50, 55). 2. Physikalische Therapie (Siehe auch: Leitlinien der DGP zur apparativ intermittierenden Kompression, 60; Leitlinien der DGP zur Dia- gnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum, 19) Die Physikalische Therapie umfaßt folgende Elemente (14, 29, 33, 34, 51): – intensiviertes kontrolliertes Gehtraining, – krankengymnastische Mobilisierung, unter besonderer Beachtung der Sprunggelenkbeweglichkeit, – manuelle Lymphdrainage, – apparative intermittierende Kompression. 3. Operative Therapie (Siehe auch: Leitlinien der DGP zur operativen Behandlung von Venenkrankheiten; 36). Die operative Behandlung der primären Varikose besteht in der Ausschaltung insuffizienter Abschnitte des epifaszialen Venensystems und deren Verbindungen zum tiefen Venensystem durch Krossektomie, verschiedene Formen der Resektion und Unterbrechungen insuffizienter Vv. perforantes. Bei Vorliegen konsekutiver trophischer Störungen gewinnt die Faszienchirurgie neben lokalen chirurgischen Maßnahmen beim Ulcus cruris zunehmend an Bedeutung. Dies gilt auch für die Behandlung des postthrombotischen Syndroms. Weiterhin kommen bei chronischen Erkrankungen in ausgesuchten Fällen Klappenrekonstruktionen, Klappenplastiken oder Transpositionsoperationen zum Einsatz (13, 15, 16, 19, 20, 42). 4. Sklerosierungstherapie Zur Beseitigung epifaszialer Venen, insbesondere von Seitenästen, kann auch eine Sklerosierungstherapie durchgeführt werden (1, 22, 53). 5. Systemische medikamentöse Therapie (Siehe auch: Leitlinien der DGP zur Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum; 19) Eine systemische medikamentöse Therapie mit Substanzen, für die eine Wirksamkeit nachgewiesen ist, kann bei der CVI indiziert sein, insbesondere wenn physikalische Maßnahmen keinen ausreichenden Erfolg haben oder nicht möglich sind (z. B. Ödemprotekti- Downloaded from www.phlebologieonline.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Phlebologie Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie va). Außerdem kann eine systemische medikamentöse Therapie symptombezogen bei der CVI oder besonderen Begleitumständen eingesetzt werden (z. B. Antiphlogistika bei entzündlicher Dermatoliposklerose, Rheologika in fortgeschrittenen Stadien der CVI). Als mögliche Ansatzpunkte einer adjuvanten systemischen Pharmakotherapie im Rahmen der Pathophysiologie der CVI können gelten: die ambulatorische venöse und kapilläre Hypertonie, Hämokonzentration, Mikroangiopathie, abnormale kapilläre Permeabilität und Ödem, perikapilläre Fibrinmanschetten, verminderte fibrinolytische Aktivität, erhöhte Plasma-Fibrinogen-Spiegel, abnormale Leukozytenfunktion, pathologische Hämorrheologie und lokale Lymphdrainagestörung (8-11, 37, 39, 41, 49). 6. Lokale medikamentöse Therapie Patienten mit chronischer venöser Insuffizienz sind in Abhängigkeit von der Dauer und dem Schweregrad ihrer Erkrankung in bis zu 80% gegen Bestandteile der zuvor lokal angewendeten Substanzen sensibilisiert. Das kann auch Kortikosteroide und Wundauflagen betreffen. Zusätzlich können nichtallergische Unverträglichkeitsreaktionen auftreten. Aus diesem Grund soll die Indikation zur Anwendung von Externa streng gestellt werden (5, 19, 63). Prophylaxe und Nachsorge Da die anlagebedingte Disposition der venösen Erkrankungen nicht ursächlich therapierbar ist, muß grundsätzlich auch nach einer suffizienten Therapie mit dem erneuten Auftreten von insuffizienten Venenanteilen gerechnet werden. Zur frühzeitigen Erkennung einer neuerlichen Dekompensation sind Kontrollen des venösen Gefäßstatus’ sinnvoll und empfehlenswert. Wenn die Störung der Beinvenenhämodynamik nicht vollständig normalisiert werden kann, ist eine dauerhafte konservative Therapie sinnvoll (50). 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