Soziokulturelle und religiöse Aspekte in der Arbeit mit

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Soziokulturelle und religiöse Aspekte in der Arbeit
mit traumatisierten Flüchtlingen
Vorwort
Ich bin Pastorin, systemische Beraterin, unterrichte Notfallseelsorge.
12 Jahre lang war ich Flüchtlingsbeauftragte meiner Kirche, habe
interkulturelle Pädagogik an der Hamburger Uni unterrichtet.
Vorher habe ich in der Abschiebehaft Glasmoor, damals mit ca. 90
Gefangenen meinen Dienst versehen, als einzige Frau in einem
Abschiebegewahrsam für Männer.
Suizide, Selbstverletzungen oder auch vollkommen apathische Menschen
gehörten dort zum Alltag, Hungerstreik und aggressives Verhalten waren an
der Tagesordnung.
Ich war da - konnte nicht viel ausrichten, war Zeugin, konnte die Verletzung
der Menschenrechte bezeugen. Ohnmacht mit aushalten. Da sein.
Seit damals weiß ich, was es heißt, einen Halt zu haben – und Haltung zu
bewahren, weiß, wie es aussieht, wenn Menschen ihren Halt verlieren, ihre
Hoffnung zerbrechen und sie haltlos werden.
Zunächst eine Anmerkung zum Titel: ja es gibt soziokulturelle und religiös
geprägte Aspekte oder Unterschiede, in dem was ich Halt nenne – und nein,
es gibt sie nicht in entscheidenden Momenten im Leben eines Menschen.
1. Den Halt verlieren:
Vor allen Unterschieden – die biologische,
neurologische Grundausstattung des Menschen
Vor allen Unterschieden, vor allen Differenzierungen in Geschlechter,
Herkunft, sozialem Hintergrund oder religiösen Bindungen liegt die
biologische Ausstattung der Menschen.
Menschen reagieren zwar alle unterschiedlich auf Schock und Stress – und
doch läuft ein immer gleiches Programm ab.
Als Notfallseelsorgerin stehe ich Menschen bei, die einen Verlust erlebt
haben, die Zeuge waren, wie jemand verstarb, die einen Unfall verursacht
haben, die einen Angehörigen plötzlich verloren haben.
Und als Tochter von Kriegs traumatisierten Eltern weiß ich, wie Traumata
weitergegeben werden.
Ob Menschen aggressiv reagieren oder fahrig, ob sie flüchten wollen und
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unruhig sind, ob gereizt oder panisch werden – es liegt nicht an dem, wer sie
als Person sind, welche Persönlichkeit sie haben, sondern daran, dass ihr
biologisches Programm so und nicht anders reagiert.
Hormone, vor allem Adrenalin, aber auch Cortisol etc. bewirken, dass das
bewusste Denken fast abgeschaltet wird, ja manchmal komplett
ausgeschaltet wird, dass der älteste Teil des Gehirns zum Überleben die
Kontrolle übernimmt - und um es bildhaft auszudrücken, man auf den Stand
des Neandertalers zurückfällt.
All das eigene differenzierte Selbstbild tritt in den Hintergrund. Der Blutdruck
steigt, schweißnass oder eiskalt wird der Mensch, Herzrasen und andere
körperliche Symptome, wie Verlust der Kontrolle über Ausscheidungen,
kommen vor.
Aggressive oder aber Reaktionen wie Flucht sind immer noch aktive
Reaktionen. Es geht ums Überleben - die Notabschaltung, die Erstarrung ist
dann der allerletzte Ausweg. Nochmal: alle diese Reaktionen sind allen
Säugetieren innewohnende Überlebensmechanismen.
Fight, flight or freeze - heißt es im Amerikanischen. Und von dort kommen die
Kriseninterventionsprogramm, die auch hier umgesetzt werden.
2. Erste Hilfe für die Seele
Sicherheit geben, Ruhe bewahren, sichere Räume schaffen, das erzählen
lassen, was kommt.
Niemals mehr nachhaken oder gar in die Emotionen, in die Tiefe gehen,
sondern wiederholen, dass jetzt das Gegenüber in Sicherheit ist, dass jetzt
der erschreckende Zustand nicht mehr da ist, dass es jetzt anders ist.
Wichtig dabei ist, selbst ruhig zu bleiben - atme !!! Auf den eigenen Atem
achten.
Wie man heute weiß: über die Spiegelneuronen hilft das bereits - ein Gesicht,
das einen anschaut, jemand der da ist, wenn einem selbst der Himmel auf
den Kopf gefallen ist: ein Gegenüber, das ruhig bleibt, beruhigt.
Ins Hier und Jetzt holen, raus aus den Dissoziationen, aus dem unmittelbaren
Erleben:
etwas Kaltes zu trinken geben, eine Decke umlegen, gemeinsam sich
bewegen, ein paar Schritte gehen.
Meist stellt sich nach einiger Zeit ein ruhigerer Zustand beim Gegenüber ein.
Vielleicht muss jemand noch mal erzählen, was war.
Dabei ist darauf zu achten, dass auch die Schilderung, wie es davor war,
bevor das Ereignis eintrat, um eine chronologische Einordnung zu bekommen,
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wichtig ist - und vor allem, um den Zustand der Sicherheit, der Normalität
aktiv zu erinnern.
Ist all das nicht möglich, und der Mensch beruhigt sich nicht,- im Gegenteil,
wird immer unruhiger und aufgebrachter, gilt es, Hilfe zu holen: 112.
Die Psychiatrie ist dann kurzfristig für Menschen, die vollkommen außer sich
sind, dann die einzige Wahl. Dort kommt man zur Ruhe,- und sei es durch
Medikamente. Man kann wieder schlafen. Die dünnen Wände der Seele
erhalten ein paar sichernde Mauern, wo sie sich beruhigen kann.
3. Weitere Möglichkeiten: sicherer Rahmen - sicherer Raum
Erst Tage später, Wochen, ja Monate später - wenn dieser erste Moment
vielleicht in eine Art Trauma übergegangen ist, Schlaflosigkeit, flashbacks,
Angst vor Gerüchen oder Geräuschen, vor bestimmten Situationen
dazukommen, kann der Grad der Traumatisierung ermessen werden.
Einen Rahmen bieten, wo dies angedeutet, angesprochen, geäußert werden
kann, ohne dass man selbst nachfragt – nur das nehmen, was kommt und
wie es kommt, ohne jemanden zu bedrängen, mehr zu sagen, als er sagen
möchte, heißt einen Rahmen schaffen.
All die furchtbaren Erinnerungen können in einen Safe gepackt werden, einen
Tresor, den man malen kann, sich vorstellen kann. Das klingt simpel, ist aber
eine wertvolle Methode.
Einfach wild drauflos schreiben, malen, und die Bilder, das Geschriebene in
eine Box tun, wegstellen. Und erst später hinschauen, wenn man Kraft dazu
hat.
Solch eine Box oder ein Safe, wo man alle furchtbaren Bilder erst einmal
lässt, ist eine Methode der Traumaseelsorge.
In einem weiteren Schritt, wenn die direkte Kommunikation möglich ist, es
einen sicheren Raum dafür gibt, der Mensch wieder aufnehmen kann,
kann man erklären, was eigentlich abgelaufen ist in ihm oder ihr:
Der Schrecken war zu groß, die Situation lebensbedrohlich.
Das Überlebensprogramm unserer Spezies ist angesprungen:
- alle Menschen reagieren so
- dies ist ein natürlicher Vorgang,
- viele Symptome betreffen nicht die eigene Persönlichkeit, sondern alle
Lebewesen teilen diese, reagieren auf schwere Krisen ähnlich
- die eigene Persönlichkeit wird wieder in den Vordergrund treten - und
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der eigene Halt wird einen wieder tragen.
Das nennt sich Psychoedukation - also Aufklärung, was in einem vorgeht,
rein biologisch. Und dass Stressreaktionen nichts mit einem religiös oder
kulturell belegten Stigma zu tun haben.
Man ist nicht verrückt, sondern die Welt um einen herum ist es - und die
Seele wurde verwundet, ein Stück ver-rückt.
Wichtig: es ist normal, auf anormale Situationen so zu reagieren.
4. Soziokulturelle und interkulturelle Komponenten
Unser Halt, unsere Werte, das was uns trägt sind kulturell bestimmte Werte,
Familientraditionen ebenso wie religiöse Vorstellungen. Aber oftmals ist dies
nicht so eng gefasst wie manchmal geradezu befürchtet.
Einige wichtige Voraussetzungen:
- Es kommt bei der Verarbeitung von Traumata auf die intellektuellen
Fähigkeiten an, ob jemand sich Erklärungsmuster erarbeiten kann.
- Es kommt darauf an, ob jemand Sport und Bewegung als Möglichkeit
des Stressabbaus kennengelernt hat oder bereit ist das anzunehmen,
oder aus kulturellen oder gender-spezifischer Erziehung das ablehnt.
Spaziergang/Spazierengehen übrigens ist etwas sehr klimatisch kulturell
geprägtes, was in heißen Regionen unserer Erde nicht alle zu schätzen
wissen, was aber z.B. zu meiner Kindheit gehörte: der Sonntagsspaziergang.
Meine afghanischen Freunde fanden das eher befremdlich: wie einfach
irgendwie herumlaufen...?
Die Wanderbewegung aus den 20ern des letzten Jahrhunderts hatte einen
guten Effekt nach den traumatischen Erfahrungen des 1.Weltkriegs und der
darauffolgenden weltweiten Grippeepidemie. Man schätzte es, Sport zu
treiben, zu wandern. Es wurde eine Massenbewegung.
Klar ist, dass Adrenalin, dass Stress nur durch Bewegung abgebaut wird,
damit ist dies ein wichtiger Schlüssel.
Doch noch einmal, dies sind auch Angebote, die aus unterschiedlichen
Motiven abgelehnt werden.
Und noch etwas, wenn religiös bestimmt wird, dass nur der gesunde Mensch
ein frommer Mensch ist, dann ist der psychisch erkrankte Mensch nicht ein
Mensch in der Krise, sondern zugleich ein von der Religion ausgeschlossener.
Es macht die Bereitschaft, dies auch zuzugeben und daran zu arbeiten,
schwerer.
Und das ist ganz gleich ob es ein fundamental muslimischer oder christlicher
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Hintergrund ist.
Es kann sein, dass ein psychisch erkrankter Mensch für seine Umgebung
geradezu eine Anfechtung wird. Nicht nur eine Herausforderung, sondern
einer, der mit einem zusätzlichen Stigma belegt wird. Aber das ist kein
Dogma – es kann so sein - muss aber nicht.
Jemand, der nicht mit einer Frau reden möchte als Mann, wird das nicht tun und vielleicht mit seiner Religion begründen.
Aber jemand, der dringend Hilfe braucht, wird sich dennoch den Arzt oder die
Ärztin nicht aussuchen können, wenn er körperlich blutet. Das ist bei
seelischen Wunden oftmals nicht anders. Der, oder die, der gerade Dienst hat,
ist ansprechbar.
Dabei bleibt die Frage nach Sicherheit, nach einem geschützten Raum,
entscheidend. Ob man diesen Raum zugestehen, respektieren kann mit all
den Vorbehalten und Unterschieden, darauf kommt es an.
Wichtig ist, ob man selbst akzeptieren kann, dass der Halt eines Menschen
eben durch ihn selbst bestimmt wird:
- Ob die religiös anders gefärbten Werte für einen aushaltbar sind.
- Ob man akzeptieren kann, dass dieser Mensch vor einem, seinen Halt
sucht.
- Und man angesichts dessen, was man hört und versteht, vielleicht
ebenso den Halt verlieren kann.
Zwischenbemerkung
„Das Heilige“ von Rudolph Otto ist in den 20er Jahren des letzten
Jahrhunderts geschrieben. Es beschreibt den Zugang zur Gotteserfahrung
ähnlich aufwühlend und erschütternd wie Traumata es auch sind.
Tremendum und Fascinosum, Angezogensein und Flüchten möchten,
Erzittern, Erstarrung und Überwältigt-werden.
Sicher meint dieses religions-soziologische Buch in erster Linie die Epiphanie,
also die Begegnung mit Göttlichem und Heiligem, und nicht die
Glaubensgewissheiten.
Doch dass der Halt im Leben durch furchtbare traumatische Erfahrungen
komplett weggespült werden kann und dann erst wieder die Gewissheiten im
Leben zusammengesucht werden müssen, ist ein Vorgang, der in allen
Religionen gleich ist.
Allah ist der Barmherzige; Gott, der Allmächtige, ist zu lieben und zu ehren.
Beides ob muslimisch geprägt oder christlich ausgedrückt, sind bewahrende
Gottesbilder.
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Doch vielen zerbricht der Lebenszusammenhalt angesichts von Verlusten von
Kindern oder Familienangehörigen, von Bombenhagel und Ertrinkenden im
Mittelmeer.
Wo ist da Gott?
Die alte Frage, die uns eint in der Ohnmacht und Verzweiflung, ist doch auch
nicht wegzuwischen. Der Sinnzusammenhang zerbricht.
„Gott hat s gegeben, Gott hat s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“die alte Formel des Hiobs ist doch heute auch nicht mehr ungefragt eine
Antwort auf schmerzliche Verluste von Lieben. Genauso wenig wie das
„Inschallah“ mancher meiner muslimischen Freunde, die ich nach
Leiderfahrungen befragt habe.
Ist dies nicht eher der Ausdruck der immer noch durch das Furchtbare, was
geschehen ist, Erstarrten, die keinen Halt mehr haben? Oder schon Ausdruck
von in sich Ruhenden, die ihren Halt wiedergefunden haben?
5. Gemeinsame Suche nach Halt
Nach traumatischen Erfahrungen muss man den Boden unter den Füßen,
den Halt, wieder neu zusammensetzen, die Gewissheiten, die Sicherheiten
wieder erlangen - jenseits aller Religionen ist das ein Vorgang, der alle
Menschen eint.
Ein Automatismus von Wut, der in Rache umschlägt, in einem ewigen
Kreislauf aus Opfern, die Täter werden, um neue Opfer hervor zu bringen, ist
nur durch Arbeit mit den Opfern, aber auch den Tätern zu durchbrechen.
Everyone has a story that must be told.
Jede/r hat eine Geschichte, die erzählt werden muss.
Healing of memories ist ein Ansatz in Südafrika, ein Institut, dass sich zur
Aufgabe gesetzt hat, diese Kreisläufe zu durchbrechen.
Lebenslauf-, biografische Arbeit ist ein Schlüssel dazu.
Storytelling, Bilder malen, sich in Gruppen miteinander begleiten in
sogenannten Familygroups.
Es gibt Facilitator, also oft selbst betroffene Menschen, die ausgebildet
werden, diese Arbeit auf einfachem Niveau zu beginnen, zu begleiten,
anzuleiten.
Warum, frage ich mich, wird bei uns alles schnell Fachleuten zugeschoben
und Einzelgespräche als alleinige Lösung gesehen? Alles professionell und
bitte individuell nur bearbeitbar. Dabei gibt es viel zu wenige Kapazitäten.
Warum werden nicht Menschen, die eine Vorbildung haben, die einen
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entsprechenden kulturellen Hintergrund mitbringen, Flüchtlinge selbst, dazu
befähigt, Hilfe anzubieten?
Fürchten wir uns so sehr davor, Traumata auszuhalten bei uns und anderen,
so dass ausschließlich Experten die Lösung sind?
Die Kunst der Wahrnehmung, der Respekt vor schweren Geschichten, die
Würdigung von Leid, das Aushalten von Ohnmacht, müssten mehr in den
Mittelpunkt rücken, statt einer Idee dieser Leistungsgesellschaft hinterher zu
rennen, alles in Happy Ends auflösen zu wollen, - anstelle Sicherheit,
Geborgenheit und Gewissheiten gemeinsam zu suchen.
6. Konkrete Anregungen
Was hilft?
Um Menschen zu sich kommen zu lassen, zu sich selbst zurückzufinden, hilft
es die Stressfaktoren zu beseitigen und Adrenalin aktiv abzubauen:
- ob Sportveranstaltungen,
- Gartenbauen,
- Aufräumarbeiten
- oder Verschönerungsmaßnahmen
Vieles ist zugegebenermaßen in deutschen Großunterkünften unbekannt.
Auch ein selbst gewähltes Komitee der Flüchtlinge, das Vorschläge
einbringen darf, Verantwortung übernimmt, mitbestimmen kann oder Konflikte
regelt, ist zwar in internationalen Camps anzutreffen, aber in unseren Breiten
findet sich das eher selten. Security Leute, privater Wachdienst statt
Befähigung zur Eigenverantwortung.
Was gibt es an Stichworten zu weiterführender Hilfe?
Es gibt
-
Ansätze aus der Traumapädagogik
TRE- Tension and Trauma Releasing Exercises
Malen
Storytelling
Healing of memories
Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen
Traumaseelsorge
Psychoedukation.
Alles Ansätze, mit denen sich zu beschäftigen lohnt.
Beginnen wir, aufzuhören, Dinge permanent zu verkomplizieren und auf
Experten zu schielen.
Laden wir Experten ein, in einfacher Sprache uns zu erklären, wie die Dinge
biologisch, psychologisch ablaufen, was erst mal hilft.
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Es wird dabei immer noch wirklich schwierige Traumata geben, die kaum in
einer Gruppe, in einem Gespräch aufgefangen werden können. Für
diejenigen sind die wenigen Plätze und Zugänge zu professioneller Hilfe
dringend nötig.
7. Eigene Gefühlslage achten
Der eigene Stand, der eigenen Halt, der eigenen Umgang, die eigene
Gefühlslage sind wichtig.
Wenn Flüchtlingshelfende und – unterstützende abrutschen, selbst unter
Stress geraten, sich nicht mehr selbst trauen, auf die eigenen Gefühlen zu
hören und sie zu achten, wird es schwer, Menschen beizustehen, die Hilfe
brauchen.
Oftmals aber wird untereinander kaum auf den eigenen Halt, die eigene
Haltung, geachtet. Man lässt sich anstecken vom Stress, dem Leid, den
Traumata vor Ort. Man hört Geschichten, die schwer sind von Krieg und
Flucht und in es rotiert in Einem, weil auch Eltern und Großeltern ungesagte
Traumata hinterlassen haben in den Familiengeschichten.
Sich dies bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt.
Wir kennen doch ganz viel von dem, was da an schwerem Leid
ausgesprochen oder unausgesprochen auf uns zukommt.
Hier gilt es besonders behutsam mit sich selbst zu sein, aufmerksam - und
nicht vorschnell Gräben einzuziehen und die Geschichten mit Schranken von
sich fern zu halten.
Die größte Versuchung ist, sich zum Retter/zur Retterin aufzuschwingen. Es
gilt, sich zu bescheiden, pragmatisch zu bleiben.
Nicht Rettung ist gefragt, sondern Ohnmacht mit aushalten, notfalls zu
akzeptieren und bei schwierigen Fragen nicht gleich die noch größeren, noch
professionelleren, noch mächtigeren Retter aufsuchen zu wollen.
Umgekehrt heißt das aber auch: statt die Frage nach Hilfe zu beantworten mit:
ich bin nicht zuständig, weil der ist Moslem oder schwerst traumatisiert oder
die Sprache zu schwer oder da braucht es Fachleute,
statt die Frage nach Hilfe nur im Praktischen mit Behörden- oder
Alltagsbegleitung oder Sachspenden zu beantworten,
gilt es, sich auf Beziehungen einzulassen. Nein, ich meine hier nicht die
intimen - obwohl das Zeigen von Wunden schon sehr viel Intimität und
Einfühlung voraussetzt, ich meine Beziehung auf Augenhöhe.
Die Furcht davor lässt uns zu schnell Schwierigkeiten entdecken, wo sie nicht
unbedingt sind:
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im Kulturellen, im Religiösen, als Abgrenzung, um den eigenen gesicherten
Raum nicht verlassen zu müssen.
Begegnung meint, sich mit dem eigenen Halt auf die Menschen einlassen,
die ihren Halt verloren haben und gemeinsam auf die Suche zu gehen.
Die Antworten auf die Frage nach dem Halt, sind immer individuell, selbst
unter uns: ob hier jemand an esoterische Lebensmuster glaubt, ganzheitliche
Lebensansätze vertritt, christlich unterschiedlich geprägte Werte vertritt oder
atheistisch sich versteht. Auch unter uns allen sind die Antworten, was ist
mein Halt in schweren Zeiten, was hat sich bewährt, hat durchgehalten – und
wie oft ist mir mein Halt auch mal abhandengekommen, - doch individuell
verschieden.
Nur die Anderen, die Ankommenden, zu fragen, wie ihr Halt aussieht, ist
keine gute Basis.
8. Was ich mir wünsche:
Widerständig bleiben, widerstandsfähig bleiben, kreativ und humorvoll
bleiben - und bei Zeichen des Stresses untereinander hellhörig werden.
Ja, es wird schwer, im Psychischen, im Psychologischen sichere Räume
anzubieten - und umgeben zu sein von einer realen bedrohlichen
Abschiebepolitik.
Dennoch und trotz alledem gilt es, dass man kein gutes Gegenüber ist, wenn
man zu sehr für alle anderen da sein will und sich selbst außer Acht lässt. Die
Kraft, der eigene Halt, die eigene Haltung transportiert das, was wir uns
wünschen.
Bleiben wir darum resilient, gesund, widerstandsfähig und für Andere heilsam.
Fanny Dethloff, Preetz Juni 2017
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