Die sogenannte Flüchtlingskrise Soziologische Perspektiven auf Flucht, Migration und Grenzregime Vorlesung „Die Welt am Abgrund? Soziologie der Krise(n)“ am 19. Juni 2017 Prof. Dr. Silke van Dyk Krise – welche Krise? • Was für eine Krise/welche Krisen werden durch den Topos „Flüchtlingskrise“ aufgerufen? • „Flüchtlingskrise“: am rechten Rand, bei der AfD wie beim Front National oder UKIP, bei Pegida geht es unter diesem Topos um „zu viele Flüchtlinge“; die Politik der Bundesregierung (vielfache Asylverschärfungen seit 2015, „Türkeideal“) adressiert ebenfalls diese Krisendimension • „Flüchtlingskrise“ als globale ökonomische, ökologische, politische und soziale Krisen, die zu Fluchtursachen werden • „Flüchtlingskrise“ als Krise der mit der Aufnahme, Registrierung und Versorgung überforderten Staaten (in Deutschland als Diskurs einflussreich in den Jahren 2015/2016) • „Flüchtlingskrise“ als Ausdruck für den Rassismus und die Gewalt gegen Geflüchtete in den Ankunftsgesellschaften / aber auch für das Sterben im Mittelmeer als Ausdruck struktureller Gewalt bzw. unterlassener Hilfeleistung • „Flüchtlingskrise“ als Krise des europäischen Grenzregimes, die sich zur Krise eines Europas ohne Binnengrenzen auswächst Auswanderung aus Europa und Kolonialismus • Europäische Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert • Inwertsetzung und wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien / Besiedlung aus Europa diente diesen Zwecken • Ermordung und radikale „Dezimierung“ der indigenen Bevölkerungen: Vor Kolumbus (1492) lebten ca. 40 Millionen Menschen in Süd- und Mittelamerika, 1620 waren es nur noch 4 Millionen (Ermordungen sowie Epidemiewellen) • Globale Wanderungsbewegungen im Kolonialismus: Zwischen 1492 und 1820 zogen ca. zehn Millionen Menschen in die Amerikas, davon waren 8 Millionen Menschen zwangsverschleppte Sklaven aus Afrika und ca. 2 Millionen Einwanderer aus Europa • Zwischen 1840 und 1880 wanderten 15 Millionen EuropäerInnen auf der Suche nach Glück und einem neuen Leben in die USA ein, davon allein 4 Millionen Deutsche Flucht vor dem Nationalsozialismus Hannah Arendt (1943): Wir Flüchtlinge „Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden.“ „Die Gesellschaft hat mit der Diskriminierung das soziale Mordinstrument entdeckt, mit dem man Menschen ohne Blutvergießen umbringen kann; Pässe oder Geburtsurkunden (…) sind keine formellen Unterlagen mehr, sondern zu einer Angelegenheit der sozialen Unterscheidung geworden.“ Deutschland – (k)ein Einwanderungsland • „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ – Dieser Kernsatz stand in der Verwaltungsvorschrift zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das noch bis 1990 uneingeschränkt galt. • Dieses Motto dominierte auch das sogenannte „Gastarbeiterregime“, d.h. die Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei, Spanien, Griechenland, Portugal und dem damaligen Jugoslawien; die angeworbenen ArbeiterInnen werden als „Gäste“ tituliert, Integration oder dauerhafter Aufenthalt waren nicht das Ziel • Vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anwerbestopp 1973 kamen rund 14 Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland, etwas 11 Millionen, also fast 80 Prozent kehrten wieder zurück. • „Selbsteingliederung“ der Bleibenden • Neues Einbürgerungsrecht unter Rot-Grün (1998-2005): Abkehr vom Abstammungsprinzip „Ius Sanguinis“ (Recht des Blutes), erleichterte Einbürgerung nach dem Prinzip „Ius Solis“ (Recht des Bodens); erstmals erklärt eine Bundesregierung Deutschland zum Einwanderungsland „Asylpolitik im Rauch der Brandsätze“ (Ulrich Herbert) • Strukturwandel der Migration: von der „Gastarbeit“ zum Asylantrag • Wurden 1976 9600 nur Asylanträge gestellt, hat sich diese Situation in den 1990er Jahren sehr verändert: 1990-1993 wurden 1,2 Millionen Asylanträge in Deutschland gestellt • Starker Anstieg war auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien sowie die Zuwanderung von Menschen aus Osteuropa nach dem Mauerfall zurückzuführen • Heftige parteipolitische Konflikte um das Asylrecht, zunehmende Ausschreitungen und Pogrome auf der Straße; starke Zunahme von Rassismus und Gewaltbereitschaft • „Schon sind, vor allem im Osten, Überfälle auf Asylanten an der Tagesordnung.“ (Der SPIEGEL 1991) „Die Deutschen sind weder ausländerfeindlich, noch sind sie Rechtsextremisten. Aber wenn der ungehemmte Zustrom von Asylanten weiterwächst, wird auch die Gewalt gegen sie zunehmen. Sind unsere Politiker unfähig, das zu begreifen?“ Bild 30.07.1991 Änderung des Grundgesetzes: Der sogenannte Asylkompromiss Art. 16 Grundgesetz (1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Änderung des Grundgesetzes • Art. 16a. (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. • Art. 16a. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. […] (→ Sog. Drittstaatenregelung) • Art. 16a. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (→ Prinzip der sicheren Herkunftsländer) Das europäische Grenzregime Das europäische Grenzregime „Der Flüchtling“ • „Der Flüchtling ist eine hochpolitisierte Gestalt, wo und wie auch immer er auftritt. (…) Der Flüchtling erscheint mal als hilfsbedürftiges Opfer oder als betrügender Schmarotzer, mal als illegaler Einwanderer oder als politisch mobilisierbare Ressource, als tüchtiger Selfmademen oder als getarnter Bürgerkriegsakteur auf der Suche nach einer sicheren Basis.“ (Katharina Inhetveen 2010) • Wer aus dem Ostblock floh, wurde im Westen warm begrüßt; die Flüchtlinge waren das Symbol für die Überlegenheit des Westens; FluchthelferInnen galten als HeldInnen, heute werden sie als SchleuserInnen verurteilt. • Frauen und Kinder – das Bild vom Flüchtling als Opfer, als Klientel humanitärer Hilfe • „Das Gegenstück des als Madonnas mit Kind inkarnierten ‚vulnerable victim‘ bildet die Flüchtlingsfigur des gerissenen Betrügers.“ (Inhetveen 2010) → die Debatte um Asylmissbrauch; der Topos des „Wirtschaftsflüchtlings“ • Zur De-Subjektivierung und Entindividualisierung „des Flüchtlings“ Die Geburtslotterie der Staatsangehörigkeit • „Citizenship as inherited property“ (Shachar/Hirschl 2007) • Zur De-Legitimierung und Kriminalisierung bestimmter Formen grenzübergreifender Mobilität • Grenzüberschreitende Mobilität als Privileg der Wenigen: Der deutsche Pass als „wertvollstes“ Dokument mit visafreier Einreise in 177 Staaten und vollkommener Freizügigkeit innerhalb der EU. • Südsudan: das Ende der Rangliste mit 28 Staaten Freiwilliges Engagement und der Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats • Es geht um mehr als akutes Behördenversagen. • Strukturwandel hin zum aktivierenden Sozialstaat, Diskurs wohlfahrtsstaatlicher Erschöpfung • Devise: Von der Staatsversorgung zur Selbstsorge, vom kollektivem zum individuellen Risikomanagement, vom sozialen Recht zur individuellen Verpflichtung • Kein Rückzug des Staates, sondern Wandel der sozialstaatlichen Steuerungslogik • Folgen sind Einschnitte in sozialstaatlichen Sicherungssystemen, Unterfinanzierung der öffentlichen Verwaltung und Infrastruktur, disziplinierende Aktivierungsprogramme • Politik der „schwarzen Null“; öffentliche Armut bei wachsendem privaten Reichtum, der durch politische Maßnahmen gefördert wird • „Die Flüchtlinge sind jetzt ein Weckruf, der uns bewusst macht ,wir haben diese großen Probleme beim Bildungssystem und in der Infrastruktur. Das hätte die Politik auch schon in der Vergangenheit angehen müssen.“ • Marcel Fratscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, DIW Community-Kapitalismus • Gezielte Indienstnahme und Inwertsetzung der Ressource Gemeinschaft; „Fitnesstraining der Zivilgesellschaft“ (Hermann Kocyba) • Statt: „There is no such thing as society.“ (Margaret Thatcher) ist nun die Rede von „Big Society“ (David Cameron) oder „ziviler Bürgergesellschaft“ (Gerhard Schröder) • Zusammenführung liberaler und kommunitaristischer Traditionen: Vom Eigennutz eines radikalen Wirtschaftsliberalismus zur Gemeinschaftsförmigkeit als Ressource des deregulierten Finanzmarktkapitalismus • Neue Subsidiarität: Staatsentlastung durch die Aktivierung engagierter Bürger_innen Community-Kapitalismus • Wandel der Geschlechterverhältnisse als Motor des Community-Kapitalismus • Krise der sozialen Reproduktion und neue Landnahmen unbezahlter Arbeit: • „Capital‘s lifeblood is unpaid work, and the Big Society as political economy is an attempt to extend the realm of unpaid work that can be appropriated.“ (Emma Dowling & David Harvie 2014) Community-Kapitalismus • Der Staat übernimmt Regie der „Freiwilligengesellschaft“: EnqueteKommission „Zukunft des ehrenamtlichen Engagements“, Nationale Engagementstrategie, Ehrenamtsstärkungsgesetz, Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit, Bundesfreiwilligendienst etc. • Engagement als „Bürger_innenpflicht“: „Unter dem Stichwort einer neuen Verantwortungsteilung wird in der Bürgergesellschaft mehr bürgerschaftliche Verantwortung von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Formen der Selbstverpflichtung werden umso notwendiger, je stärker sich der Staat von geltenden Regelungsansprüchen zurückzieht und Aufgaben, die nicht staatlich geregelt werden müssen, bürgerschaftlichen Akteuren überantwortet.“ (Enquete-Kommission „Zukunft des ehrenamtlichen Engagements“ 2002: 77) Community-Kapitalismus • Re-Justierung der Pflegepolitik als „Sozialpolitik der Nachbarschaft“ (Norbert Blüm); Monetarisierung von Freiwilligenarbeit und Ehrenamt in der Pflege • Freiwilligenarbeit in der Kommune: Z.B. Bürger_innebusse, unentgeltliche Arbeit in örtlichen Schwimmbädern und Bibliotheken • Die Tafeln: Hilfe für diejenigen, die durch staatliche Sicherungsnetze fallen und keine menschenwürdige Existenz finanzieren können Die neue Kultur/Ökonomie des Helfens • Abbau sozialer Rechte re-vitalisiert anti-emanzipatorische Formen des caritativen Helfens • Paternalistischer Hilfediskurs; Hierarchien zwischen Helfenden und „Hilfsbedürftigen“; Verschleierung von Machtverhältnissen • Prozesse der De-Professionalisierung, De-Standardisierung und Prekarisierung von sozialen Aktivitäten, Dienstleistungen und Hilfen • Fließende Übergänge von monetarisierter Freiwilligenarbeit, Niedriglohnsektor und „Schattenwirtschaft“ • Vom Mittelschichts-Engagement zur Überlebensökonomie? • Freiwilligenarbeit als Vehikel der Informalisierung in Wohlfahrtsstaaten des globalen Nordens Der (Anti-)Rassismus des Helfens • Besonderheiten des Engagementfeldes Flüchtlingshilfe: große antirassistische Strahlkraft einerseits, Gefahren des „Rassismus des Helfens“ andererseits • Kritik des Refugee-Aktivisten Bino Byansi Biaykuleka: „Die meisten sind zufrieden damit zu helfen. Sie wollen uns nicht als menschliche Wesen sehen, die die gleichen Rechte haben. Sie wollen ihre europäische Helferidentität aufrechterhalten und uns dadurch abwerten. Für mich ist die ‚Willkommenskultur‘ eine Kultur der Diskriminierung.“ „Ihr solltet wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein, oder noch schöner . Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?“ Elie Wiesel