Regionaler Planungsverband Westsachsen - Regionale Planungsstelle - Leipzig, den 21.07.2009 Ad-hoc-Information zur Sicherheitsheitssituation im Umfeld der Tagebauseen im Leipziger Neuseenland ausgehend vom Fließrutschungsereignis in Nachterstedt vom 18.07.2009 ________________________________________________________________________________________________________________________ Am 18.07.2009 ereignete sich im Bereich der Ortslage Nachterstedt (Salzlandkreis, Land Sachsen-Anhalt) eine schwere Fließrutschung, die im Bereich des Südufers des Concordiasees abging. Mit einem Volumen von rund 2 Mill. Kubikmetern zählt die Rutschung zu den größten vergleichbaren Ereignissen im Mitteldeutschen Revier. Durch die Massenbewegungen wurden Wohngebäude zerstört, was drei Menschenleben forderte. Die Häuser waren 1936 auf einem über 100 Jahre alten Kippengelände errichtet worden; auch ein Aussichtspunkt ging bei der Rutschung zu Bruch. Die durch die Erdbewegungen im Concordiasee ausgelöste Schwallwelle beschädigte die Freizeitinfrastruktur am gegenüber liegenden Nordufer in erheblichem Maße. Die Ereignisse von Nachterstedt hatten ein massives Medienecho sowie zahlreiche Nachfragen besorgter kommunaler Verantwortungsträger, Vorhabensträger und Bürger an verschiedenen Stellen zur Konsequenz, die sich auf die Frage fokussieren, ob im Leipziger Neuseenland vergleichbare Ereignisse zu besorgen sind. Zur Objektivierung der Debatte werden im Folgenden Fakten zur Situation zusammengestellt. Dies erfolgt auf der Grundlage einer Ad-hoc-Abstimmung innerhalb der AG Standortentwicklung. 1. Was ist eine Fließrutschung (allgemeinverständlich erklärt) Fließrutschungen in Tagebauböschungsbereichen konzentrieren sich ausschließlich auf gekippte, das heißt künstlich aufgeschüttete Geländebereiche, während „geschnittene“, also aus unverritztem Material bestehende Böschungen davon nicht betroffen sind. Rutschungen dieser Art ereignen sich vorzugsweise dann, wenn sich Kippenbereiche in einer Weise mit Wasser aufsättigen, dass die „Reibung“ zwischen den Bodensubstratpartikeln aufgehoben wird. Dies wird durch gleichförmige Substrate wie etwa Feinsande begünstigt. In dieser Situation kann bereits ein vergleichsweise geringfügiges Initial wie das Zubruchgehen einer alten Tiefbaustrecke, ein Erdstoß, ein Grundbruch oder selbst ein vorbei fahrender Zug ausreichen, um die Rutschung auszulösen. Charakteristisch für Fließrutschungen ist die Ausbildung eines steilwandigen, hufeisenförmigen Rutschungskessels, wobei die verflüssigten Massen schlagartig und zumeist ohne Vorankündigung in Bewegung kommen und Transportweiten von mehreren hundert Metern in sehr kurzer Zeit erreichen können. 2. In welchem Maße sind Rutschungen im Mitteldeutschen Revier bislang aufgetreten? Fließrutschungen im Bereich von Tagebauböschungen und Haldenkörpern waren in den vergangenen Jahrzehnten eine seltene, aber regelmäßige Begleiterscheinung des Braunkohlenbergbaus in Mitteldeutschland. Die erste große Fließrutschung im Südraum Leipzig mit einem Todesopfer ereignete sich 1927 im Bereich der Halde Lippendorf. Bereits im Februar 1959 war in Nachterstedt eine Rutschung mit ca. 6 Mill. Kubikmetern Volumen abgegangen, die letztlich zum Auslöser für die Gründung der Obersten Bergbehörde der DDR wurde. Allgemein bekannt sind auch die Rutschungen an der Ostflanke der Halde Trages zwischen 1952 und 1958 sowie die im Tagebau Haselbach 1977. 1994 und 1999 gingen Fließrutschungen in den Tagebaubereichen Zwenkau (Tagebauausfahrt) und Witznitz (Südufer des Hainer Sees – Innenkippe) ohne Personenschäden ab. 3. Ist die Situation am Concordia-See auf das Leipziger Neuseenland übertragbar? Auch wenn es für eine abschließende Beurteilung des Rutschungsereignisses von Nachterstedt, zudem per „Ferndiagnose“ viel zu früh ist, trafen dort augenscheinlich mehrere Problemfaktoren zusammen. Dazu zählen die Errichtung von Wohnhäusern auf einer Altkippe, die später nochmals vom Tagebau angeschnitten wurde, das Auftreten von alten Tiefbaustrecken, die enge Nachbarschaft zum über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten zu flutenden Concordiasee bei beträchtlichen lokalen Höhenunterschieden (40-50 m) und steigendem Grundwasserstand sowie die nach wie vor wirksame Salzauslaugung im geologischen Untergrund. Eine solche Kombination von Negativfaktoren, insbesondere die exponierte Lage von bebauten Altkippenflächen in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Tagebausee ist im Leipziger Neuseenland an keiner Stelle gegeben. Insofern bildet die Fließrutschung von Nachterstedt ein singuläres Ereignis, das nicht pauschalisierend verallgemeinert werden kann, zumal Aspekte wie die die konkrete geologische Vor-Ort-Situation, die angewandten Abbau- und Verkippungstechnologien oder auch die Art und Weise der Ausführung von Bauten differenzierend wirken. 4. Welche behördlichen Zuständigkeiten bestehen zur Bergsicherheit? Tagebauareale unterliegen in Deutschland dem Bundesbergrecht. Der Bergbautreibende, im konkreten Falle die LMBV mbH als bergrechtlich Verpflichteter, hat im Zuge seiner Betriebsplanung gegenüber dem Sächsischen Oberbergamt mit Sitz in Freiberg nachzuweisen, dass die öffentliche Sicherheit jederzeit gewährleistet ist. Braunkohlenabbau und –sanierung werden durch Sachverständige für Böschungen intensiv begleitet. Eine Freigabe für Nutzungen ist nur bei Einhaltung strikter Auflagen dahingehend, dass damit keine Gefahren für die Öffentlichkeit verbunden sind, möglich. Erst nach der Erfüllung aller Wiedernutzbarmachungsverpflichtungen erfolgt die Beendigung der Bergaufsicht. Im Zuge der Braunkohlenplanung als Bestandteil der Regionalplanung hat sich auch der Regionale Planungsverband Westsachsen intensiv mit der Fragestellung standsicherer Böschungen befasst. Dazu wurden in den Braunkohlenplänen, die für stillgelegte Tagebaue als Sanierungsrahmenpläne aufgestellt wurden, Sicherheitslinien ausgewiesen, die im Regelfall in 150 m Entfernung von der Abgrabungsgrenze bzw. Uferlinie liegen. Diese Linie übernimmt gegenüber öffentlichen und privaten Bauinteressenten eine Sensibilisierung dahingehend, auf die spezifischen, von unverritzten und tagebaufernen Verhältnissen mitunter stark abweichenden Baugrundbedingungen zu achten. 5. Wie stellt sich die Bebaubarkeit von Tagebaurandbereichen dar? Die Grundphilosophie der Braunkohlenplanung in Westsachsen besteht darin, bauliche Aktivitäten insbesondere für Freizeit- und Erholungseinrichtungen im Bereich unverritzter Böschungsmassive zu konzentrieren und Kippenböschungen bzw. –areale davon weitgehend frei zu halten. Insofern besteht für die im Leipziger Neuseenland bekannten Einrichtungen in Seeufernähe wie den „Zöbigker Winkel“ am Cospudener See, die Seepromenade und den Kanupark am Markkleeberger See, das Kap Zwenkau am Zwenkauer See oder den „Sportstrand“ am Schladitzer See kein erkennbares Risiko. Zudem können bei entsprechender Vorsorge durch zielgerichtete Baugrundmaßnahmen auch Kippenareale zuverlässig bebaut werden, wie die Beispiele der Autobahn A 38 und des Vergnügungsparks Belantis deutlich machen. Im Regelfall werden Kippenbereiche aber als Vorrang- bzw. Vorbehaltsgebiete für Natur und Landschaft ausgewiesen und bleiben damit unbebaut. Während vor Jahrzehnten zur Geotechnik in Kippenmassiven weder wissenschaftliche Erkenntnisse noch Erfahrungswerte vorlagen, verfügen die Bergbauunternehmen und damit auch die LMBV mbH einschließlich ihrer Auftragnehmer im Ergebnis eines stetigen Erkenntniszuwachses maßgeblich seit den 1970er Jahren heute sowohl über ein ausgefeiltes Know-how als auch über ein in der Praxis erprobtes Spektrum von Sanierungstechnologien. Dieses schließt Abflachungen, Anstützungen, Initialsprengungen und Rütteldruckverdichtungen genauso wie ingenieurbiologischen Verbauungen nicht zu betretender Böschungsbereiche ein. Die LMBV mbH ist auf der Grundlage eines 1992 erstmals für den Zeitraum 1993-1997 abgeschlossenen und zwischenzeitlich dreimal nunmehr bis 2012 verlängerten Verwaltungsabkommens zur Braunkohlesanierung tätig und auf der Grundlage der Finanzierung durch Bund und beteiligte Länder zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Lage. 6. Gibt es ein Restrisiko im Leipziger Neuseenland? Die Wiedernutzbarmachung sowohl im Bereich des aktiven Braunkohlenbergbaus der MIBRAG mbH als auch des Sanierungsbergbaus der LMBV mbH erfolgt heute nach dem Stand der Technik und unterliegt strengen bergrechtlichen Regelungen. Dennoch ist man bei der Erarbeitung von Standsicherheitsnachweisen bzw. –einschätzungen stets auf eine möglichst umfassende Kenntnis der vor Ort wirksamen Randbedingungen angewiesen. Hier bestehen bei Altkippenmassiven zudem in enger Verzahnung mit Tiefbauarealen naturgemäß eher Erkenntnislücken als bei vergleichsweise „jungen Kippen“, weshalb sich Rutschungsereignisse gerade auf solche Bereiche konzentrierten. Insofern sind Fließrutschungen im Leipziger Neuseenland in einzelnen Gebieten trotz aller Vorsorge einerseits auch in Zukunft nicht vollständig auszuschließen. Andererseits bieten die angewandten Technologien und bergbehördliche Überwachungen einen größtmöglichen Schutz gegenüber größeren Rutschungsereignissen, der durch das fehlende Zusammentreffen von Negativfaktoren analog zu Nachterstedt weiter verstärkt wird. Zu bedenken ist, dass bei Fließrutschungen nicht nur die unmittelbare Zerstörung von Landoberflächen und darauf befindlichen Baulichkeiten eine Rolle spielt. Einzukalkulieren ist auch der im Bereich Concordiasee in Erscheinung getretene „Schwallwelleneffekt“, der zu Auswirkungen auf gegenüber liegende Uferzonen führen kann. Dieser ist maßgeblich abhängig vom Volumen und der Rutschungshöhe der abgehenden Massen und bei kleineren Ereignissen zu vernachlässigen. 7. Was sollten Bauinteressenten in Randbereichen von Tagebauseen tun? Trotz aller Präventivmaßnahmen in Tagebauböschungsbereichen weisen diese häufig spezifische und individuelle Baugrundverhältnisse auf, die eine frühzeitige Hinzuziehung von Expertenwissen im Sinne einer Sorgfaltspflicht nahe legen. Vor allem bei beabsichtigten baulichen Aktivitäten in Kippenbereichen ist dies dringend zu empfehlen. Insbesondere das Sächsische Oberbergamt, die Regionale Planungsstelle beim Regionalen Planungsverband Westsachsen, die Landesdirektion Leipzig sowie die in der Region tätigen Bergbauunternehmen verfügen über spezifische Erkenntnisse zur jeweiligen Situation, um eine Erstberatung vornehmen bzw. auf die primär zuständigen Stellen verweisen zu können. Fazit Auch wenn die Besorgnisse nach der Fließrutschung von Nachterstedt nachvollziehbar sind und ernst genommen werden, besteht für grundhafte diesbezügliche Besorgnisse im Leipziger Neuseenland keine Veranlassung. Rutschungsereignisse lassen sich nicht vollkommen vermeiden, sind aber aufgrund der dargstellten Aktivitäten in den letzten Jahren hier nur noch sehr vereinzelt aufgetreten. Der zu Beginn der 1990er Jahre eingeleitete Lernprozess aller Beteiligten, bei der Böschungsgestaltung die Aspekte der öffentlichen Sicherheit, der Gestaltungsqualität und der Folgenutzung gleichermaßen zum Tragen zu bringen, hat sich bewährt. Insofern wäre es unvertretbar, aus einem singulären Ereignis einen „regionalen Aktionismus“ mit möglicherweise langfristig fatalen Folgen für das Image des Leipziger Neuseenlandes abzuleiten. Im Ergebnis einer ersten Bestandsaufnahme besteht kein Grund, bereits geschaffene Sanierungsergebnisse in Frage zu stellen. Dies gilt auch für in Planung befindliche Aktivitäten mit der Maßgabe, dass die spezifischen Bedingungen im Umfeld von Braunkohlentagebauen angemessen zu berücksichtigen sind. Dipl.-Ing. Thomas Tschetschorke Prof. Dr. Andreas Berkner