UBS research focus

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August 2010
UBS research focus
Die Zukunft des Euro
Die Existenz des Euro in Gefahr
Die Aussichten für den Euro
Die Umgestaltung der Eurozone
Eine langsamere Expansion nach Osten
Inhalt
Editorial
3
In Kürze
4
Kapitel 1
Die Existenz des Euro in Gefahr
6
Kapitel 2
Die Aussichten für den Euro
15
Kapitel 3
Die Umgestaltung der Eurozone
20
Kapitel 4
Eine langsamere Expansion nach Osten
24
Auswirkungen für Anlegerinnen und Anleger
28
Bibliografie
29
Angaben zur Publikation
30
Ausgewählte UBS WMR-Publikationen
31
Dieser Bericht wurde durch UBS Financial Services («UBS FS») und UBS AG erstellt.
Bitte beachten Sie die wichtigen rechtlichen Informationen am Ende der Publikation.
Die Kurs-Entwicklung der Vergangenheit ist keine Indikation für die Zukunft. Die angegebenen Marktpreise sind Schlusskurse der jeweiligen Hauptbörse. Dies gilt für alle Kursdiagramme und Tabellen in dieser Publikation.
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Andreas Höfert
Global Head
Wealth Management Research
Dirk Faltin
Head Thematic Research
Die westeuropäische Nachkriegsgeschichte war von Bestrebungen zu einer
immer engeren Kooperation und Integration geprägt. Tatsächlich kann der
Prozess sogar bis Anfang der 1920er Jahre zurückverfolgt werden, als die
Schrecken des Ersten Weltkriegs die Politiker dazu veranlassten, die europäische Integration zu fördern, um damit jahrhundertealte Feindseligkeiten zu
überwinden. Der Prozess wurde allerdings durch das Aufkommen des extremen
Nationalismus unterbrochen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. Insbesondere Frankreich und Deutschland waren vom gemeinsamen Willen für einen Frieden auf der Basis von Freiheit und Wohlstand getrieben, und mittlerweile wird eine grössere Kooperation und Integration seit Jahrzehnten als Schlüssel zur Überwindung von Schwierigkeiten und Krisen in
Europa angesehen. Die politischen Schwergewichte François Mitterrand und
Helmut Kohl trugen entscheidend dazu bei, Europa zusammenzubringen und
in der Folge durch eine gemeinsame Währung, den Euro, zu vereinen.
Bei der Einführung des Euro waren die Erwartungen hoch gesteckt, dass eine
gemeinsame Währung noch mehr Wohlstand, wirtschaftliche Konvergenz und
Stabilität in Europa schaffen würde. Mehr als zehn Jahre später ist die Erfolgsbilanz des Euro jedoch durchwachsen. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den Ländern, die den Euro verwenden, war mager und in einigen Bereichen fand zwar eine Konvergenz statt, aber die Unterschiede zwischen den
Pro-Kopf-Einkommen sind häufig immer noch gross. Vor allem aber traten statt
der erhofften Stabilität im Zuge der Finanzkrise massive Ungleichgewichte
innerhalb der Europäischen Währungsunion zu Tage, die den Euro und die
europäische Integration gefährden.
Irgendwann könnte die Krise die politischen Entscheidungsträger zwingen, die
Entwürfe der europäischen Integration zu überarbeiten. Dabei müssen fundamentale Fragen angegangen werden. Zum Beispiel, ob eine Währungsunion
ohne politische Union möglich ist oder ob wirtschaftliche Mittel eingesetzt werden können, um politische Ziele zu erreichen. Die Herausforderungen für die
Eurozone sind enorm.
In diesem UBS research focus befassen wir uns mit der «Zukunft des Euro».
Wir untersuchen die Ursachen der aktuellen Staatsschuldenkrise, analysieren
die fundamentalen Probleme der Mitgliedschaft in der EWU und nehmen die
Optionen der künftigen Mitgliedsländer unter die Lupe. Für alle langfristigen
Anleger im Euro und in den Ländern der Eurozone können die Folgen schwerwiegend sein.
UBS research focus August 2010
3
In Kürze
Die Zukunft des Euro
Die Existenz des Euro in Gefahr
Beim zehnten Jahrestag der Einführung des Euro wurde die
Gemeinschaftswährung als rauschender Erfolg gepriesen.
Die Inflation war gut unter Kontrolle und die Länder in
Zentral- und Osteuropa standen Schlange, um dem exklusiven Club beizutreten. Die Kreditkrise und die «grosse
Rezession» versetzten der Glaubwürdigkeit der Währung
jedoch einen schweren Dämpfer. In vielen europäischen
Ländern sind die Defizite und die Schuldenberge auf ungeahnte Höhen angewachsen und die Anlegerinnen und
Anleger machen sich Sorgen, ob die offensichtlichen Brüche in der Eurozone die Union aufspalten könnten.
Unsere Analysen haben ergeben, dass die Union auf der
Basis der wirtschaftlichen Fundamentaldaten im Wesentlichen aus zwei gegensätzlichen Lagern besteht – aus Peripherie- und Kernländern. Die Peripherieländer sind immer
weniger wettbewerbsfähig geworden und ihre Leistungsbilanzen haben sich zunehmend verschlechtert, da ihre
Kosten für die Schuldenfinanzierung stiegen, während ihre
Transfereinnahmen zurückgingen und ihre Handelsbilanzen
immer ungünstiger ausfielen. Im Gegensatz dazu sind die
Kernländer weltweit konkurrenzfähig und konnten ihre
Leistungsbilanzüberschüsse steigern. Interessanterweise
liegt die Wurzel der Probleme der Peripherieländer hauptsächlich im Privatsektor – da die einheitliche Zinspolitik der
Eurozone diverse Konsum- und Wohnimmobilienbooms
schürte.
Die Aussichten für den Euro
Die Eurozone steht am Scheideweg, aber viele der Ausgänge sind blockiert oder kaum gangbar. In der Welt vor
der Eurozone wäre eine Abwertung über den nominalen
Wechselkurs die Methode der Wahl gewesen, um die Probleme anzugehen. In der Europäischen Währungsunion
steht diese Option jedoch nicht zur Verfügung. Eine weitere
Integration Europas in Form einer fiskalischen Koordinierung oder gar eines Fiskalföderalismus könnte theoretisch
funktionieren. Diese Optionen scheinen jedoch politisch
nicht machbar zu sein. Damit bleibt nur noch eine reale
Abwertung – bei der die Regierungen ihre Ausgaben,
Löhne und Preise senken und die Steuern anheben. Auf den
Strassen einiger europäischer Nationen kommt es bereits zu
Protesten, und das noch bevor die schmerzlichen Folgen der
Kürzungen wirklich spürbar sind. In den nächsten drei bis
fünf Jahren dürften die politischen Entscheidungsträger
alles tun, was nötig ist, um die Union zusammenzuhalten.
Kurzfristig kann aber auch eine überraschende und schnelle
Auflösung, ein plötzliches Ausscheiden eines Landes oder
ein Auseinanderbrechen nicht völlig ausgeschlossen werden. Dies ist in unseren Augen jedoch unwahrscheinlich.
Langfristig muss die Eurozone unserer Meinung nach
umgestaltet werden. Das könnte auch heissen, dass einige
Länder die Eurozone verlassen müssen, damit der Euro
überleben kann.
Die Faktoren, die zu den Ungleichgewichten in der Eurozone führten, sind struktureller und fundamentaler Natur.
Daher lassen sie sich durch Rettungspakete oder Sparmassnahmen nicht lösen. Wenn die Kräfte in der Eurozone nicht
auf irgendeine Weise neu verteilt werden, dürfte sie in der
Zukunft immer wieder mit Problemen konfrontiert werden.
Anhaltende Leistungsbilanzungleichgewichte
Leistungsbilanzdefizite und Fiskalbilanzen
In % des BIP
in % des BIP, Blasen zeigen die Grösse der Volkswirtschaften an
6
4
2
0
-2
-4
-6
-8
-10
1992
0
Finnland
Italien
-4
Slowenien
-6
-8
Portugal
-10
-12
1996
Kernländer
Peripherieländer
2000
Eurozone
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
4
Haushaltsdefizit
-2
Die Zukunft des Euro
2004
2008
Österreich
Belgien
Slowakei
Niederlande
Frankreich
Spanien
Griechenland
Irland
-14
Leistungsbilanzdefizit
-16
-15
Deutschland
-10
-5
Leistungsbilanzüberschuss
0
5
10
Leistungsbilanz
Quelle: OECD, UBS WMR
In Kürze
Die Umgestaltung der Eurozone
Unseres Erachtens besteht die Möglichkeit, dass die gegenwärtige Struktur der Eurozone auf lange Sicht nicht überlebt. Der Einheitszins für alle Mitgliedsländer und grosse
strukturelle Unterschiede haben alle möglichen wirtschaftlichen Verzerrungen hervorgebracht. Griechenland, das im
Zentrum der Schuldenkrise steht, verfügt über schwache
wirtschaftliche Fundamentaldaten, die dafür sorgen, dass
das Land selbst im Vergleich zu anderen südeuropäischen
Ländern ausserordentlich schlecht abschneidet. Doch ein
Austritt Griechenlands aus der Eurozone würde die Probleme der Union nicht lösen. Der eigentliche Grabenbruch
geht mitten durch die Eurozone. Es gibt fundamentale
Argumente, warum Länder aus dem Kern oder der Peripherie langfristig einen Austritt aus der Eurozone in Erwägung ziehen könnten.
Interessanter- und überraschenderweise scheint es am vernünftigsten, dass Deutschland ausscheidet. Seine exportgetriebene Wirtschaft und ihre Fokussierung auf Wettbewerbsfähigkeit und fiskalische Zurückhaltung dominieren
die Zinspolitik der Eurozone und die Peripherieländer stecken einfach in einer wirtschaftlichen Zwangsjacke. Die
wichtigste Motivation der Union war jedoch immer politischer Natur und der politische Wille, das europäische Projekt zusammenzuhalten, sollte keineswegs unterschätzt
werden. Hier ist anzumerken, dass das Ausscheiden eines
oder mehrerer Länder aus der Eurozone, wenn dies in einer
strukturierten und geplanten Weise geschieht, für den Euro,
das Wirtschaftswachstum und die politische Integration
langfristig vorteilhaft sein könnte.
Eine langsamere Expansion nach Osten
Der Beitritt zur EWU war für viele zentral- und osteuropäische Länder bisher ein erstrebenswertes Ziel. Die Eurozone,
so glaubte man, bringe Stabilität, fördere den Handel und
schüre die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum. In manchen dieser Länder hat sich die Meinung jedoch geändert,
und das Tempo der Expansion dürfte sich verlangsamen.
Einige Länder profitieren bereits von einem gewissen Grad
der Konvergenz und konnten ihren Handel ankurbeln,
ohne zur Eurozone zu gehören. Die stärkeren Volkswirtschaften – die Tschechische Republik und Polen – sind im
Augenblick möglicherweise nicht allzu begierig, der Eurozone beizutreten, da die wirtschaftlichen Anreize und der
politische Wille geringer sein dürften als vor einigen Jahren. Ungarn und Rumänien haben immer noch genügend
Anreize für einen Beitritt, aufgrund ihrer schwachen wirtschaftlichen Fundamentaldaten ist dies jedoch auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. Bulgarien, Lettland und Litauen
sind dagegen de facto bereits Mitglieder der Eurozone, da
ihre Wechselkurse an den Euro gekoppelt sind. Für diese
Länder scheint es kein Zurück mehr zu geben. Sie werden
versuchen, den Euro bald einzuführen.
Aus der Sicht der Kapitalanlage ist die Zukunft der Eurozone
von grosser Bedeutung. Die unmittelbaren Auswirkungen für
die Anleger sind unserer Meinung nach jedoch gering. Es
steht kaum zu erwarten, dass sich die Union in den nächsten
drei bis fünf Jahren signifikant verändert. Daher würden wir
Investoren raten, sich auf qualitativ hochwertige Euro-Anlagen und eine weltweite Diversifikation des Portfolios zu konzentrieren.
UBS research focus August 2010
5
Kapitel 1
Kapitel 1
Die Existenz des Euro in Gefahr
«In einer Gemeinschaft souveräner Staaten ….. kann
nichts als absolut unumkehrbar gelten. Die Regierungen
können jederzeit ihre Meinung ändern. Genau wie ein
Ehering keine Garantie für den ewigen Bestand der Ehe
bietet, bleibt die Scheidung auch für die Währungspartner eine reale Option».
Benjamin J. Cohen, 2000
Bei der Einführung des Euro im Januar 1999 lautete
bekanntlich die Prognose von Milton Friedman, einem der
angesehensten Wirtschaftswissenschaftler der Zeit, dass
die Gemeinschaftswährung die erste grosse Rezession in
Europa nicht überleben würde. Angesichts der aktuellen
Staatsschuldenkrise, die infolge der «Grossen Rezession»
Griechenland erfasst hat und Spanien, Portugal und möglicherweise noch weitere Länder bedroht, steht zu vermuten, dass die erste grosse Bewährungsprobe für den Euro
gekommen ist. Dabei stellt sich die Frage, ob die europäische Gemeinschaftswährung sich den Herausforderungen
stellen und zurückschlagen kann oder ob Friedman am
Ende Recht behält.
Hinter der Einführung des Euro standen eher politische
als ökonomische Motive. Man glaubte, mit der Schaffung
einer europäischen Einheitswährung dem Traum von
einem geeinten Europa als Garanten für Frieden und Stabilität näherzukommen, den wirtschaftlichen Wohlstand
zu fördern und Europa mehr Geltung in der Welt zu verschaffen, um den USA auf Augenhöhe zu begegnen.
Dabei räumte man zwar ein, dass der Euro eher auf einer
ökonomischen Vision als auf ökonomischer Vernunft
fusste, hoffte aber, dass die Einheitswährung eine strukturelle und wirtschaftliche Annäherung zwischen den
Mitgliedsländern erzwingen würde. Hierzu wurden von
diesen tief greifende wirtschaftliche Strukturreformen
verlangt und die strengen Maastricht-Kriterien (siehe
Seite 7) für die nationale Haushaltspolitik erlassen.
Leider ist die wirtschaftliche Entwicklung jedoch anders verlaufen, als die «Väter» des Euro gehofft hatten. Gut zehn
Jahre nach der Einführung der Gemeinschaftswährung
steht die Europäische Währungsunion (EWU beziehungsweise Eurozone) bereits am Scheideweg. So zeichnen sich
ständig wachsende wirtschaftliche Ungleichgewichte ab,
die inzwischen ein solches Ausmass angenommen haben,
dass sie unseres Erachtens zwangsläufig zu einer Neuordnung oder Aufspaltung der EWU führen werden, ausser die
EWU und ihre Mitgliedsstaaten schaffen Abhilfe durch tief
greifende strukturelle und institutionelle Reformen.
6
Die Zukunft des Euro
In diesem Kapitel erforschen wir die Ursachen der aktuellen Schuldenkrise, indem wir die strukturellen Ungleichgewichte genauer beleuchten. Das zweite Kapitel befasst
sich mit der Zukunft des Euro. Hier gehen wir auf die
Bedingungen ein, von denen die längerfristige Zukunft
der EWU unseres Erachtens abhängt, und erläutern
unsere Erwartungen. Im dritten Kapitel erörtern wir dann
die Möglichkeiten einer Neuordnung der Eurozone einschliesslich eines ungeordneten Auseinanderbrechens. Im
letzten Kapitel nehmen wir schliesslich die Aussenseiterperspektive ein und betrachten die Anreize und Argumente für potenzielle Neumitglieder der EWU in Mittelund Osteuropa. Dabei untersuchen wir die jeweiligen
Auswirkungen auf die Finanzmärkte und geben Empfehlungen für Anlegerinnen und Anleger.
Die Finanzkrise in Europa
Vor nur wenigen Monaten hätten die meisten Beobachter, uns eingeschlossen, noch alle Spekulationen über ein
Ende des Euro zurückgewiesen. Zweifel an der Überlebensfähigkeit der europäischen Währung gab es zwar
auch schon vorher, aber noch nie ist die Gefahr eines Zerfalls der Währungsunion so nahe gerückt wie während
der Staatsschuldenkrise, die Griechenland erfasst hat und
sich auch auf andere Länder auszuweiten droht. Nachdem die Defizite und die Verschuldung in vielen Ländern
der EWU auf ein beispielloses Niveau gestiegen sind, fragen sich die Anleger nun, ob die dadurch verursachten
Spannungen letztlich zum Auseinanderbrechen der Währungsunion führen können.
Einige Regierungen haben auf die Krise bereits mit strikten
Sparprogrammen reagiert, die drakonische Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen vorsehen, welche im
historischen Vergleich ausserordentlich hoch erscheinen.
Dies wirft die Frage auf, ob die Bevölkerung dieser Länder
solche Einschnitte hinnehmen wird. So ist es bereits vereinzelt zu Ausschreitungen und Demonstrationen gekommen,
obwohl die schmerzlichen Folgen dieser Massnahmen
noch gar nicht zu spüren sind. Wie würden sich beispielsweise die Menschen in Spanien, wo die Arbeitslosenquote
jetzt schon bei 20 Prozent liegt, verhalten, wenn sie weiter
ansteigt?
Zudem stellt sich die Frage nach den Auswirkungen dieser Massnahmen auf die Wirtschaft. Schliesslich lässt sich
der Haushalt kaum sanieren, wenn die Kürzungen ihrerseits zu einer weiteren Schrumpfung des BIP führen. Auf
diese Weise kann eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt
Die Existenz des Euro in Gefahr
Die Schaffung der EWU
Nach fast zehnjähriger Vorbereitung wurde am 1. Januar
1999 die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion
(EWU) mit dem Euro als neuer Gemeinschaftswährung
gegründet. Ursprünglich umfasste sie elf Länder, aber
mittlerweile wurde sie auf 16 Länder mit rund 320 Millionen Einwohnern erweitert. Elf der 27 Mitgliedsstaaten
der Europäischen Union (EU) zählen also nach wie vor
nicht zum Euroraum. Während sich einige per Gesetz
(Grossbritannien und Dänemark) oder in der Praxis
(Schweden) verweigern, erfüllt die Mehrheit noch nicht
die Aufnahmekriterien. Estland wird der EWU
voraussichtlich 2011 beitreten.
Die institutionelle Konstruktion der EWU ist ein Unikum,
da sie eine überstaatliche, föderale Währungsbehörde,
die Europäische Zentralbank (EZB), mit einer völlig unabhängigen Finanzverwaltung der Nationalstaaten kombiniert. Da die EWU keine richtige politische Einheit bildet,
gibt es keinen echten gemeinsamen föderalen Haushalt
und keinen europäischen Staat, der hinter der Gemeinschaftswährung steht. Stattdessen haben sich die Mitgliedsstaaten darauf verständigt, den Euro gemeinsam
zu kontrollieren. Das bedeutet, dass sie zwar ihre geld-,
nicht aber ihre fiskalpolitische Souveränität aufgegeben
haben.
werden, bei der eine immer weiter sinkende Wertschöpfung immer stärkere Haushaltskürzungen erfordert, um
die gewünschte Stabilisierung des Defizits zu erreichen.
Die Europäische Union (EU) hat gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen
Währungsfonds (IWF) ein beachtliches Rettungspaket für
Griechenland und die anderen betroffenen Länder der
Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) auf
den Weg gebracht, das von den Finanzmärkten begrüsst
wurde. Dabei stehen beträchtliche Mittel zur Verfügung.
Diese sind jedoch an Bedingungen geknüpft, die noch
grössere Anstrengungen zum Abbau der Defizite verlangen. Somit verhindert der Rettungsfonds ein Abweichen
vom eingeschlagenen Sanierungskurs.
Seit Juni warten die Finanzmärkte nun offenbar ab, ob
die angewandte Strategie greift, das heisst ob eine nennenswerte Senkung der Haushaltsdefizite erreicht wird,
ohne die wirtschaftliche Entwicklung zu bremsen, oder
ob sich die Situation wieder verschärft – vielleicht gerade
aufgrund der Versuche der Regierungen, einen politischen Kurs einzuschlagen, der eine gewisse Aussicht auf
die Überwindung der Probleme bietet.
Dennoch wurden im EU-Vertrag einige Schutzmechanismen verankert, um die Fiskalpolitik der einzelnen Länder
zu harmonisieren und zu reglementieren. Insbesondere
dürfen die EZB und die nationalen Zentralbanken aller
EU-Mitgliedsstaaten, die gemeinsam das Europäische
Zentralbanksystem (EZBS) bilden, keine Kredite an europäische Finanzbehörden gewähren und keine Schulden
der öffentlichen Hand durch direkte Käufe von Staatsanleihen «monetarisieren» (Beistandsverbot). Ausserdem
gelten Haushaltsdefizite, die 3 Prozent des BIP überschreiten, grundsätzlich als «überzogen», und bei Verstössen hat ein Staat gewöhnlich mit Sanktionen und
Strafen im Rahmen des Defizitverfahrens zu rechnen,
soweit er keine besonderen Umstände geltend machen
kann. Diese im Maastricht-Vertrag formulierten Grundsätze wurden zusätzlich durch den so genannten Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) untermauert, der von
den Mitgliedern verlangt, im Laufe des Zyklus einen
«ausgeglichenen Haushalt» oder einen «Haushaltsüberschuss» zu erzielen. Und schliesslich wurde zum Schutz
der Nationalstaaten vor dem finanzpolitischen Versagen
der anderen ein Beistandsverbot in den Vertrag aufgenommen, um gegebenenfalls auftretende Zahlungsschwierigkeiten eines Landes jeweils auf die nationale
Ebene zu begrenzen.
Die staatlichen Haushaltsdefizite sind nicht das
(einzige) Problem
Man könnte leicht vermuten, die Staatsschuldenkrise sei
nur durch die mangelnde Haushaltsdisziplin der Regierungen in einigen Ländern der Eurozone ausgelöst worden.
Das ist zwar an sich nicht falsch, aber die Wurzel des Problems reicht viel tiefer. Grundsätzlich kann man sich einen
Staatshaushalt genauso vorstellen wie einen Privathaushalt. Wenn ein Haushalt mehr ausgibt, als er einnimmt,
dann rutscht das Konto ins Minus und wird damit überzogen. Bei einem Staat funktioniert das genauso, wobei
aber an die Stelle des Bankkontos die Leistungsbilanz
tritt. Der Überziehungskredit eines Privathaushalts wird
gewöhnlich von der Bank finanziert. Dagegen wird das
Leistungsbilanzdefizit eines Staates von anderen Staaten
finanziert, die statt eines Defizits einen Überschuss erzielen. Da es sich bei der EWU um einen relativ geschlossenen Wirtschaftsraum handelt, werden die Defizite einzelner Mitgliedsländer dabei überwiegend durch die Überschüsse anderer Mitgliedsländer finanziert.
UBS research focus August 2010
7
Kapitel 1
Abb. 1.1 lässt ein stetig wachsendes Ungleichgewicht
zwischen den Leistungsbilanzen zweier Ländergruppen
erkennen, die wir als «Kernländer» (Österreich, Finnland,
Deutschland und die Niederlande) und als «Peripherieländer» (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien)
bezeichnen. Zu beachten ist dabei, dass es sich hier um
eine rein statistische Unterscheidung handelt, die nicht
auf politischen oder geografischen Kriterien beruht.1
Irgendetwas veranlasst die Kerngruppe dazu, weniger
auszugeben, als sie einnimmt, während die Länder in der
Peripherie immer stärker ins Minus geraten. Die Leistungsbilanzen der beiden Gruppen entwickeln sich
nahezu spiegelbildlich, was die Vermutung bestätigt,
dass die Nettosparer in den Kernländern die Nettoschuldner in den Peripherieländern finanzieren.
Die Ursache der Ungleichgewichte innerhalb der EWU
Ein überzogenes Konto muss nicht unbedingt schlecht
sein. Dies gilt zum Beispiel, wenn ein Haushalt das geliehene Geld einsetzt, um seine künftige Erwerbskraft durch
Investitionen in eine Ausbildung oder Schulung zu verbessern. Eine solche Verschuldung wird aller Wahrscheinlich-
Um zu veranschaulichen, wie sich die Schere immer weiter öffnet,
haben wir die Mitgliedsstaaten in zwei gegensätzliche Gruppen unterteilt, die wir anhand des k-Means-Algorithmus auf der Grundlage der
Leistungsbilanzdaten und der privaten Sparquoten ermittelt haben,
wobei jeweils der absolute Stand und die erste Differenz herangezogen
wurden. Dabei bilden sich unabhängig von der Wahl der Variablen und
der Entscheidung für den absoluten Messwert oder die Differenz
immer zwei Ländergruppen heraus, nämlich Österreich, Finnland,
Deutschland und die Niederlande einerseits (Kerneuropa) sowie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien andererseits (Peripherie). Die
Zuordnung von Belgien, Frankreich, Italien und Luxemburg hängt
jeweils davon ab, ob der absolute Stand oder die erste Differenz
zugrunde gelegt wird, wobei jedoch die Wahl der Variablen keine Rolle
spielt. Im ersten Fall gehören sie zur Kerngruppe, im zweiten zur Peripherie. In unserer Analyse konzentrieren wir uns auf die extremen
Cluster und lassen Belgien, Frankreich, Italien und Luxemburg ausser
Acht. Allerdings ändert sich an unseren Schlussfolgerungen kaum
etwas, wenn Belgien, Frankreich und Luxemburg dem Kern zugerechnet werden und Italien zur Peripherie gezählt wird.
Das ständige Defizit und das Kernproblem des Euro
Die Überziehung des Privatkontos kann durch zu hohe
Ausgaben des Ehemanns, der Ehefrau oder beider Partner
zustande kommen. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene
kommen als Ursachen des Defizits zu hohe Ausgaben des
privaten Sektors (Privathaushalte und Unternehmen),
der öffentlichen Hand oder beider Seiten in Frage. In der
aktuellen Finanzkrise geht man meistens davon aus,
dass das Leistungsbilanzdefizit grundsätzlich auf zu hohe
Staats-ausgaben zurückzuführen und somit der öffentlichen Hand anzulasten sei. Dies trifft jedoch nicht zu. Aus
Abb. 1.3 geht hervor, dass die Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts von den Regierungen in den
Peripherieländern mehr oder weniger erfüllt wurden.
Allerdings gibt es Ausnahmen. So hat etwa Griechenlands
öffentlicher Sektor zweifellos deutlich über seine Verhältnisse gelebt. Spanien und Irland erzielten jedoch zwischen
der Einführung des Euro und dem Jahr 2007 ausgeglichene
Haushalte oder sogar Überschüsse. Dagegen haben sich
die privaten Ersparnisse, wie Abb. 1.4 zeigt, seit der Einführung des Euro in den Peripherieländern extrem negativ
entwickelt, während die Kernländer über den gesamten
Zeitraum hinweg Nettosparer blieben.
Abb. 1.1: Anhaltende Leistungsbilanzungleichgewichte
Abb. 1.2: Relatives reales BIP pro Kopf im Vergleich
In % des BIP
Indizes und Durchschnittswerte = 100 %
6
4
2
0
-2
-4
-6
-8
-10
1992
140
1
120
100
80
60
40
1996
Kernländer
Peripherieländer
2000
Eurozone
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
8
keit nach nicht von Dauer sein. Genau dasselbe gilt auch
für Staaten. Zweifellos können sich in einem relativ unterentwickelten Land mit einer niedrigen Kostenbasis viele
Möglichkeiten für rentable Investitionen eröffnen. Wenn
Investitionen in ein Land fliessen, fällt seine Leistungsbilanz
negativ aus. Das Land überzieht also sein Konto. Mit steigender Produktivität gehen die Investitionsflüsse aber
zurück und der Kredit wird wieder zurückgezahlt. Tatsächlich wurden die Leistungsbilanzdefizite in der EWU oft so
interpretiert. Wenn dies zuträfe, müsste aber das Pro-KopfEinkommen in den defizitären Ländern ansteigen und sich
demjenigen der Länder annähern, die Überschüsse erzielen. Abb. 1.2 zeigt jedoch, dass sich die Einkommen in der
EWU kaum angenähert haben, was uns zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass die Leistungsbilanzdefizite nicht
durch einen harmlosen Annäherungsprozess bedingt sind.
Die Zukunft des Euro
2004
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1992
1994
1996
1998
2000
Kernländer
Peripherieländer
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
2002
2004
2006
2008
Die Existenz des Euro in Gefahr
Nehmen wir einmal an, dass ein Privathaushalt einen
Überziehungskredit haben muss, also aus irgendwelchen
Gründen an der Rückzahlung seiner Schulden gehindert
wird. Das würde bedeuten, dass mindestens ein Partner,
der Ehemann oder die Ehefrau, einen negativen Saldo
hat. Im privaten Kontext ist das ein unwahrscheinlicher
Fall. Aber für manche Länder ist es sehr schwierig, ihr
Leistungsbilanzdefizit abzubauen oder sogar ein positives
Ergebnis zu erzielen. Wenn einige grosse Volkswirtschaften Überschüsse erwirtschaften, müssen andere zwangsläufig ein Defizit aufweisen. Vor der Krise im Jahr 2007
belief sich das Leistungsbilanzdefizit der in unserem
Modell zur Peripherie gehörigen Länder insgesamt auf
10 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Davon entfielen 8 Prozent auf den Privatsektor und 2 Prozent auf
die öffentliche Hand (das heisst (–8 Prozent) + (–2 Prozent) = –10 Prozent). Infolge der Krise schnellten die
privaten Ersparnisse auf 4 Prozent des BIP in die Höhe,
während das Leistungsbilanzdefizit auf rund 6 Prozent
zurückging. Vor diesem Hintergrund stieg das staatliche
Defizit hauptsächlich infolge sinkender Steuereinnahmen
und steigender Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung
auf 10 Prozent des BIP (siehe Abb. 1.5).
Im wirtschaftlichen Kontext steht dem Überschuss
Deutschlands (und der anderen Kernländer) praktisch
zwangsläufig ein ständiges Defizit (negativer Saldo) der
Peripherieländer gegenüber. Mit dem Beginn der Krise
fuhr dort der private Sektor seine Ausgaben stark zurück,
unter anderem weil Kredite nicht mehr so leicht zu
bekommen waren. Andererseits blieb dem Staat angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und der sinkenden
Steuereinnahmen kaum etwas Anderes übrig, als mehr
Schulden zu machen. Diese Verschiebung des Defizits
vom Privatsektor zur öffentlichen Hand ist die Ursache für
die Staatsverschuldungs- und Defizitproblematik in einigen Ländern der Eurozone, die nun die Existenz der EWU
und des Euro bedroht.
Abb. 1.3: Nettoersparnisse des öffentlichen Sektors
Abb. 1.4: Nettoersparnisse des privaten Sektors
In % des BIP
In % des BIP
8
6
4
2
0
-2
-4
-6
-8
3
0
-3
-6
-9
-12
1992
Anhäufung von Auslandsschulden in den
Peripherieländern
Wenn ein Privathaushalt sein Konto immer weiter überzieht, häuft er Schulden an. Für Länder mit Leistungsbilanzdefiziten gilt genau dasselbe. Dabei erhöhen niedrige Zinsen den Anreiz, immer noch weitere Kredite aufzunehmen. Im Vorfeld der Gründung der EWU in den
90er Jahren sanken die Zinsen für die meisten potenziel-
1994
1996
1998
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1994
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2000
2002
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2008
2004
2006
Kernländer
Peripherieländer
Kernländer
Peripherieländer
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
Abb. 1.5: Sektorbilanzen der Peripherieländer
Abb. 1.6: Netto-Auslandsschulden
(beziehungsweise Auslandsforderungen)
In % des BIP (Näherungswerte)
In % des BIP
Bilanz des
Privatsektors
+
Bilanz des
öffentlichen
Sektors
Bilanz des
= Aussensektors
(Leistungsbilanz)
0
-20
-40
Vor der
Krise
-60
–8%
+
–2%
=
–10%
-80
-100
Während
der Krise
+4%
+
–10%
=
–6%
-120
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
Kernländer
Peripherieländer
Quelle: UBS WMR
Quellen: Lane und Milesi-Ferretti, UBS WMR
UBS research focus August 2010
9
Kapitel 1
len Mitgliedsländer auf das niedrige Niveau, das bisher
für Deutschland gegolten hatte. Dies förderte kreditfinanzierte Ausgaben in den weniger entwickelten Ländern. Allerdings war die Inflation in diesen Ländern deutlich höher als in Deutschland, sodass die realen Zinsen
(das heisst der Nominalzins abzüglich der Inflationsrate)
dort fast auf oder sogar unter null sank2. Was für eine
Schuldenlast dadurch aufgetürmt wurde, lässt sich aus
Abb. 1.6 ablesen, die Aufschluss über die so genannte
Nettogläubiger- beziehungsweise Nettoschuldnerposition
der Länder gibt.
Die Nettoschuldnerposition der Peripherieländer verschlechterte sich rasant von circa 20 Prozent des BIP
Anfang der 90er Jahre auf 100 Prozent im Jahr 2007.
Dagegen gelang es den Kernländern, ihre Auslandsschulden dank ihrer Nettoersparnisse fast auf null zu senken.
Wenn ein Privathaushalt Schulden anhäuft, steigt auch
seine Zinsbelastung. Schraubt er seine Ausgaben nicht
zurück, so kommen zum Überziehungsbetrag auch noch
die steigenden Kreditkosten hinzu. Wie Abb. 1.7 zeigt,
hat die Anhäufung von Auslandsschulden in den Peripherieländern zu steigenden Zinsverpflichtungen geführt, die
hier zusammen mit den Dividenden, Mieten und Gewinnen als Nettofaktorzahlungen bezeichnet werden.
Sinkende Wettbewerbsfähigkeit der Peripherie
Während steigende Zinskosten erheblich dazu beitragen
können, die Verschuldung eines Haushalts in die Höhe zu
treiben, ist andererseits auch die Erwerbskraft ein entscheidender Faktor. Wenn sie im Laufe der Zeit sinkt,
nimmt damit auch die Wettbewerbsfähigkeit auf dem
Arbeitsmarkt ab, wodurch sich die Finanzlage weiter
zuspitzt. Diese Wettbewerbsfähigkeit ist keine absolute,
sondern eine relative Grösse. So können sich die Chancen
des Haushalts auf dem Arbeitsmarkt trotz einer unverändert hohen absoluten Leistungsfähigkeit verschlechtern,
wenn die Mitbewerber konkurrenzfähiger werden. Dies
hat nachteilige Folgen für das Erwerbseinkommen.
Die Kehrseite dieser Politik war eine Nachfrageflaute,
welche die neu gegründete EZB dazu veranlasste, die Zinsen niedrig zu halten. Gleichzeitig verzeichneten jedoch
die Peripherieländer eine stärkere Nachfrageentwicklung
und eine höhere Inflation, wobei von den für dortige Verhältnisse extrem niedrigen Zinsen zusätzliche Impulse ausgingen2. All dies trieb die Löhne und Preise in die Höhe
und schwächte die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu
Deutschland (siehe Abb. 1.8).
Angesichts der steigenden Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands zogen die deutschen Exporte in andere Länder der Eurozone kräftig an. Während zu niedrige Zinsen
die Spanier und Iren ermutigten, sich neue Häuser zu
bauen (und zwar oftmals unter Einsatz in Deutschland
produzierter Baumaschinen), verdoppelten sich die deutschen Exporte zwischen der Einführung des Euro 1999
und Ende 2009. Dabei beträgt das Plus bei den Exporten
nach Italien 75 Prozent und bei den Exporten nach Griechenland über 130 Prozent. Mit dem Handelsüberschuss
Deutschlands wuchsen aber auch die Leistungsbilanzdefizite der schwächeren Volkswirtschaften.
2 So sanken beispielsweise in Portugal die nominalen Zinsen in diesem
Zeitraum von rund 16 Prozent im Jahr 1992 auf 4 Prozent im Jahr 2001.
Die realen Zinsen fielen dabei von rund 6 auf 0 Prozent.
Abb. 1.7: Netto-Faktoreinkommen
Abb. 1.8: Harmonisierter Wettbewerbsindikator der EZB
In % des BIP
Anhand der Verbraucherpreisindizes und des Handels innerhalb und ausserhalb der EWU
2
1
0
-1
-2
-3
-4
-5
-6
-7
1992
115
Sinkende
Wettbewerbsfähigkeit
110
105
100
95
Steigende
Wettbewerbsfähigkeit
90
1994
1996
Kernländer
Peripherieländer
1998
2000
2002
Eurozone
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
10
Für die meisten Länder der Eurozone ist Deutschland der
wichtigste Konkurrent. In den 90er Jahren und nach der
Wiedervereinigung verschlechterte sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, unter anderem weil sein Beitritt
zur EWU zu einem überhöhten Wechselkurs erfolgte. Auf
diesen Rückschlag reagierte Deutschland mit der einzig
praktikablen Gegenstrategie, indem es die Lohn- und
Preisentwicklung über längere Zeit dämpfte.
Die Zukunft des Euro
2004
2006
2008
85
Jan-93
Jan-95
Kernländer
Peripherieländer
Quellen: EZB, UBS WMR
Jan-97
Jan-99
Jan-01
Jan-03
Deutschland
Jan-05
Jan-07
Jan-09
Die Existenz des Euro in Gefahr
Spanien und Irland nutzten die übertrieben niedrigen Zinsen zum Aufbau grosser Bankensysteme, die ihre Immobilienblasen finanzierten. Dann folgte der Zusammenbruch
aufgrund der internationalen Bankenkrise, der die beiden
Volkswirtschaften stark belastete und einen massiven
Anstieg der Staatsverschuldung auslöste. In Griechenland
und Portugal kam es zu einem Boom der Privatausgaben
herkömmlicherer Art, da Privatpersonen feststellten, dass
die extrem niedrigen Zinsen BMWs oder Porsches plötzlich erschwinglich machten, während die Regierungen
sich mit deutschen U-Booten und anderen Rüstungsgütern eindeckten.
Die unterschiedliche preisliche Wettbewerbsfähigkeit der
beiden Gruppen kommt auch in Abb. 1.9 zum Ausdruck,
die Aufschluss über die Handelsbilanzen (das heisst die
Differenz zwischen Exporten und Importen) gibt. Die
Handelsbilanz der Kernländer verbesserte sich kontinuierlich von etwa 1 Prozent des BIP im Jahr 1992 auf über
6 Prozent des BIP im Jahr 2007. Andererseits stieg das
durchschnittliche Defizit der Peripherieländer im selben
Zeitraum von rund 1 Prozent des BIP auf 2,5 Prozent des
BIP.
Transferbezüge als schwindende Einnahmequelle
der Peripherieländer
Der letzte Faktor, der sich auf das Bankkonto eines Privathaushalts auswirken kann, sind Transferzahlungen von
der Regierung oder von einem anderen Privathaushalt.
Beispiele dafür sind die staatliche Vorsorge, Geschenke
und Sozialleistungen. Auf der nationalen Ebene gehören
zu diesen Zahlungen Entwicklungshilfe, Beiträge an internationale Organisationen und Einzahlungen in innergemeinschaftliche Fonds. Auf der Fahrt durch Spanien, Portugal und Irland konnte man in der Vergangenheit oft
Schilder sehen, auf denen steht: «Diese Strasse wurde mit
Mitteln der Europäischen Union finanziert». Diese Transferzahlungen waren für die Peripherieländer eine wichtige Einnahmequelle.
So geht aus Abb. 1.10 hervor, dass die Transferzahlungen Anfang der 90er Jahre über 3 Prozent des BIP der
Peripherieländer ausmachten. Allerdings ist dieser Anteil
stetig bis knapp unter null im Jahr 2007 gesunken.
Unsere Erklärung dafür lautet, dass die europäischen
Transferzahlungen von den Peripherieländern der EWU
in die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten umgeleitet wurden (von denen die meisten den
Euro noch nicht eingeführt haben). Andererseits haben
die Kernländer über den gesamten Zeitraum hinweg
kontinuierlich im Durchschnitt 1 Prozent ihres BIP abgeführt. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass der erhebliche
Umfang der laufenden Nettotransfers einen grossen
Beitrag zur Finanzierung der Defizite in den Peripherieländern geleistet hat.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Leistungsbilanzen der Peripherieländer stetig verschlechtert
haben. Die Gründe dafür sind rückläufige Transferzahlungen, steigende Fremdfinanzierungskosten und eine Verschlechterung der Handelsbilanzen infolge der sinkenden
preislichen Wettbewerbsfähigkeit. Dagegen gelang es
den Kernländern, ihre Leistungsbilanzüberschüsse dank
ihrer sinkenden Fremdfinanzierungskosten und steigenden Handelsüberschüsse auszubauen. Zurückzuführen ist
diese gegensätzliche Entwicklung auf die Einheitszinssätze, welche die defizitären Länder dazu verleitet haben,
sich immer mehr Geld zur Finanzierung ihres Konsums
und ihrer Bauvorhaben zu leihen. Die dadurch ausgelösten Booms haben die Löhne in die Höhe getrieben und
damit die preisliche Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder
insbesondere im Vergleich zu Deutschland stark beeinträchtigt, wo währenddessen eine Politik der Lohnzurückhaltung verfolgt wurde.
Abb. 1.9: Handelsbilanz
Abb. 1.10: Nettotransferzahlungen
In % des BIP
In % des BIP
8
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0
-0,5
-1,0
-1,5
1992
6
4
2
0
-2
-4
1993
1995
Kernländer
Peripherieländer
1997
1999
2001
Eurozone
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank, UBS WMR
2003
2005
2007
2009
1994
Kernländer
Peripherieländer
1996
1998
2000
2002
2004
2006
2008
Eurozone
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quellen: Ameco-Datenbank und UBS WMR
UBS research focus August 2010
11
Kapitel 1
Dadurch schwand die Fähigkeit der defizitären Länder,
Einnahmen durch Handel zu erwirtschaften, was steigende Handelsdefizite zur Folge hatte. Die Leistungsbilanzdefizite wurden dabei vor allem durch zu hohe Ausgaben des Privatsektors und nur in geringerem Masse
durch die Staatsausgaben verursacht. In der Rezession
verlagerten sich die Defizite dann vom Privatsektor zur
öffentlichen Hand, was nicht zuletzt mit den Schwierigkeiten dieser Länder zusammenhing, ihre Leistungsbilanzen vom Minus ins Plus zu drehen. Ein wichtiger Punkt ist
dabei, dass die Ungleichgewichte in der EWU durch rein
strukturelle Faktoren bedingt sind, was bedeutet, dass sie
nach der aktuellen, durch den Konjunkturabschwung
bedingten Annäherung höchstwahrscheinlich wieder auftreten werden. Zur Stabilisierung des Euro muss das
Gleichgewicht zwischen den Ländern der EWU wieder
hergestellt werden, indem Deutschland sich stärker auf
die Binnennachfrage konzentriert, während einige Peripherieländer ihre Exportkraft stärken. Andernfalls riskieren die politischen Entscheidungsträger unseres Erachtens
eine Wiederholung der aktuellen Schuldenkrise in der
Zukunft.
Europa ist mehr als die EWU
Innereuropäische Organisationen
Europäischer
Wirtschaftsraum
Europäische Union
Eurozone
Zypern
Europäische
Freihandelsgemeinschaft
Bulgarien
Irland
Rumänien
Grossbritannien
Liechtenstein
Österreich
Belgien
Finnland
Frankreich
Deutschland
Griechenland
Italien
Luxembourg
Malta
Niederlande
Portugal
Slowakei
Slowenien
Spanien
Tschechische Republik
Island
Schweiz
Dänemark
Estland
Ungarn
Lettland
Norwegen
Schweden
Schengen-Raum
Litauen
Hinweis: Der Schengen-Vertrag ist eine Vereinbarung über den freien Personenverkehr.
Quelle: UBS WMR
12
Die Zukunft des Euro
Polen
Die Existenz des Euro in Gefahr
Wirtschafts- und Währungsunion: Zeittafel
1970
Der nach dem damaligen Luxemburgischen Premierminister benannte Werner-Bericht stellt einen
dreigliedrigen Ansatz zur Verwirklichung der EWU vor.
1978
Einführung des Europäischen Währungssystems, das aus dem Wechselkursmechanismus (WKM) und der
Europäischen Währungseinheit (EWE) besteht.
1989
Der nach dem damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors benannte Delors-Bericht formuliert einen
Dreistufenplan zur Verwirklichung der EWU.
1990
Beginn der Stufe I: Engere Abstimmung der Wirtschaftspolitik und Liberalisierung der Kapitalströme
1991
Ausarbeitung des Maastricht-Vertrags, in dem der Zeitplan für die EWU und die von den Mitgliedern zu
erfüllenden Konvergenzkriterien bestimmt werden.
1994
Beginn der Stufe II: Gründung des europäischen Währungsinstituts (Vorläufer der Europäischen Zentralbank).
1995
EU-Gipfel in Madrid: Die Gemeinschaftswährung erhält den Namen «Euro».
1997
Unterzeichnung des Stabilitäts- und Wachstumspakts; Vereinbarung des neuen Wechselkursmechanismus
(WKM II), der den Euro und die Währungen der nicht teilnehmenden Staaten aneinander koppelt.
1998
Der Europäische Rat beschliesst, am 1. Januar 1999 mit elf Staaten die Phase III der EWU einzuläuten; die Europäische Zentralbank tritt an die Stelle des Europäischen Währungsinstituts; die Wechselkurse werden festgelegt.
1999
Beginn der Stufe III: Der Euro wird zu einer eigenständigen Währung; die Banken und Unternehmen führen
den Euro zu Abrechnungszwecken ein.
2001
Griechenland tritt als zwölftes Land dem Euroraum bei.
2002
Am 1. Januar werden in zwölf Ländern Euro-Scheine und Euro-Münzen in Umlauf gebracht.
2007
Slowenien tritt als 13. Mitglied dem Euroraum bei.
2008
Mit dem Beitritt Zyperns und Maltas steigt die Anzahl der Mitglieder auf 15.
2009
Zum zehnten Geburtstag des Euro kommt mit der Slowakei das 16. Mitglied hinzu.
Quelle: Europäische Kommission
UBS research focus August 2010
13
Kapitel 1
Die Europäische Union und die EWU
Iceland
Sweden
Faeroe
Islands
Finland
Norway
Russia
Estonia
Latvia
Denmark
Lithuania
Belarus
Irish
Republic
United Kingdom
Poland
Netherlands
Ukraine
Belgium
Germany
Czech Republic
Luxembourg
Austria
France
Moldova
Slovakia
Liechtenstein
Hungary
Romania
Switzerland
Slovenia
Croatia
Bosnia &
Herzegovina
Serbia
Bulgaria
Montenegro
Macedonia
Po
rt
ug
al
Italy
Albania
Turkey
Greece
Spain
Cyprus
Malta
EWU/Eurozone
EU-Mitgliedsstaaten, die nicht der EWU angehören
Länder, die weder der EU noch der EWU angehören
Quelle: UBS WMR
14
Die Zukunft des Euro
Die Aussichten für den Euro
Kapitel 2
Die Aussichten für den Euro
«Ich war immer der Ansicht, dass Europa in Krisenzeiten
zusammenwachsen und die Summe der Lösungen sein
wird, die in diesen Krisen gefunden werden.»
Jean Monnet1
Im ersten Kapitel vertraten wir die Ansicht, dass die EWU in
ihrer derzeitigen Form strukturell nicht stabil ist und sich
verändern muss, wenn sie langfristig überleben will. In diesem Kapitel untersuchen wir die Aussichten für eine Veränderung und bilden uns eine Meinung zur Zukunft des Euro.
Strukturelle Ungleichgewichte von der Art, wie wir sie in
Kapitel 1 beschrieben haben, wären nicht aufgetreten,
wenn die EWU eine so genannte «optimale Währungszone» wäre, in der alle Teilnehmer den gleichen Zinssatz
verwenden und sich auch in anderer Hinsicht sehr ähnlich
sind. Aber auch wenn ein Währungsgebiet suboptimal ist,
hätte die Entstehung solcher Ungleichgewichte durch
Anpassungsmechanismen wie Arbeitskräftemobilität und
Lohn- und Preisflexibilität – die wichtige Faktoren für den
Erfolg der US-Dollar-Union sind – verhindert werden sollen.
In der EWU spielen diese Faktoren eine wesentlich geringere Rolle (siehe Abb. 2.1), und unserer Meinung nach
können Reformen zur Verbesserung der Arbeitskräftemobilität und der Preisflexibilität nur ein Teil einer langfristigen
Lösung sein. Die EWU braucht Anpassungsmechanismen,
die viel schneller greifen.
Ausserhalb der Währungsunion würde die erste Methode
zur Überwindung einer schlechten Wettbewerbsfähigkeit in
der Abwertung der nominalen Wechselkurse der Peripherie-
Abb. 2.1: Geringe Arbeitskräftemobilität in Europa
Prozentsatz der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, *2004–2007, **2000–2005
3,5
3,0
länder bestehen. Dies ist zwar keine völlig schmerzlose
Option, wie das jüngste Beispiel von Island zeigt, würde
jedoch die Preiswettbewerbsfähigkeit fast sofort wiederherstellen und es den Defizitländern ermöglichen, durch mehr
Exporte Wachstum zu erzielen. Solange die Länder jedoch
Mitglieder der EWU sind, ist diese Möglichkeit versperrt.
Daher fordern viele Beobachter jetzt eine fiskalische Integration in Form einer fiskalischen Koordinierung oder sogar
einer Fiskalföderation, um den Euro zu retten2.
Eine Fiskalintegration hätte wenig Aussicht auf
Erfolg
Hinter der fiskalischen Integration steht die Idee, die
Ungleichgewichte dadurch auszugleichen, dass die finanziell
besser gestellten Länder einen Teil ihres Wohlstands an die
ärmeren abgeben. Insbesondere die französische Regierung
trat intensiv für eine Form der fiskalischen Integration ein,
die sie als fiskalische Koordination bezeichnete, und welche
die Probleme des Euro lösen sollte. In diesem Zusammenhang bedeutet fiskalische Koordination, dass Länder mit
relativ soliden Staatsfinanzen, insbesondere Deutschland,
Steuern senken und die Staatsausgaben erhöhen würden,
um die Nachfrage in der EWU anzukurbeln. Defizitländer
würden gleichzeitig entgegengesetzte Anpassungen vornehmen. Die höhere Nachfrage aus den «Kernländern»
nach Gütern und Dienstleistungen, die in den «Peripherieländern» hergestellt werden – um bei den in Kapitel 1 vorgestellten Kategorien zu bleiben – würde für eine Zunahme
der Exporte aus der zuletzt genannten Gruppe sorgen und
das nötige exportgetriebene Wachstum schaffen, um diese
Länder aus der Rezession zu manövrieren.
Eine Fiskalföderation würde dies noch weiter treiben und
die Währungsunion durch ein System ergänzen, das einen
Finanzausgleich schafft und geeignete politische Institutionen vorsieht. Eine Fiskalföderation wäre somit ein Eingeständnis, dass die Währungsunion eine politische Union
braucht. Die EWU beruht jedoch auf dem Prinzip einer
2,5
2,0
1,5
1
1,0
Co-Autor der Römischen Verträge
Tatsächlich sagte EZB-Präsident Jean Claude Trichet vor kurzem gegenüber dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments, dass «das Äquivalent für das erforderlich sei, was man in einer fiskalischen Förderation bekomme», um den Euro zu retten. Insbesondere
forderte der EZB-Präsident einen «Quantensprung» bei der Steuerung der
EWU und rief zur Schaffung einer unabhängigen Behörde auf, die vorzugsweise in der EU-Kommission untergebracht werden und über erhebliche Macht zur Koordinierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der
Mitgliedsländer verfügen sollte.
2
0,5
0,0
EU
USA
Arbeitskräftemobilität
zwischen Staaten*
EU
USA
Arbeitskräftemobilität
innerhalb der Staaten**
Quelle: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions
UBS research focus August 2010
15
Kapitel 2
strikt unabhängigen Währungsbehörde in Form der EZB
und lehnt einen fiskalischen Föderalismus grundsätzlich ab.
Eine Kehrtwende zu einer Fiskalföderation wäre demnach
ein wahrhaft historischer Schritt. Hierzu wäre die Koordinierung, Vereinheitlichung und Zentralisierung der meisten
politischen Bereiche nötig, womit die EWU in eine Art
«Vereinigte Staaten von Europa» umgewandelt würde. Einzelne Mitgliedsländer müssten den Grossteil ihrer fiskalund wirtschaftspolitischen Souveränität an eine neue,
übergeordnete Unionsbehörde abgeben, die ihre eigenen
Steuern erheben und die Ausgaben über die Mitgliedsländer verteilen würde.
Theoretisch könnte eine fiskalische Koordinierung und
Föderation die bestehenden Ungleichgewichte beseitigen
und das Auftreten neuer Ungleichgewichte in der Zukunft
verhindern. Unserer Meinung nach ist jedoch keine der
beiden Optionen politisch durchführbar. Wir stellen fest,
dass das alte Zentrum und die treibende Kraft für Europa –
Frankreich und Deutschland – fast diametral entgegengesetzte Meinungen darüber vertreten, wie es am besten
weitergehen sollte. Die Franzosen forderten Deutschland
auf, sein Defizit zu erhöhen und die Ausgaben anzukurbeln, während Deutschland genau gegenteilig reagierte.
Die deutsche Regierung verlangt von allen EWU-Mitgliedsländern eine grössere Haushaltsdisziplin und hat selbst ein
Gesetz verabschiedet, mit dem das Defizit bis 2016 auf
nahezu Null verringert werden soll. Vor allem aber besteht
kaum eine Chance, dass sich die deutsche Haltung in
Zukunft nennenswert ändern wird. Eine fiskalische Koordination würde nicht nur eine einmalige Aufstockung des
Haushalts bedeuten, sondern auch eine signifikante Ausweitung der deutschen Haushaltsdefizite auf viele Jahren
hinaus, während die Peripherieländer ihre Anpassungsprogramme durchführen. Es wurde ins Feld geführt, dass
Deutschland keine andere Wahl habe, als die Defizitländer
in der Peripherie zu unterstützen, zumal das deutsche
Bankensystem den Staatsschulden dieser Länder ausgesetzt
sei. Aber wie wenig politisches Gewicht diese Überlegung
in Wirklichkeit hat, zeigte sich bei der Abstimmung über
das jüngste Rettungspaket im Bundestag: Trotz aller geäusserten Gefahrenpotenziale wurde es nur mit einer Mehrheit
von sieben Stimmen verabschiedet. Unserer Meinung nach
ist es so gut wie unvorstellbar, dass der Bundestag einer
wesentlichen Erhöhung des Haushaltsdefizits zustimmen
würde. Dies wäre kein einmaliger Akt, sondern ein Teil
eines mehrjährigen Programms, und keine Reaktion auf die
erkannten Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft, sondern –
wie es in Deutschland gesehen wird – eine Hilfe für Nachbarn, die dies nicht verdienen.
der fiskalischen Koordination und des Föderalismus nicht
einmal erwünscht wären. Solche Systeme würden unserer
Meinung nach nur Missstimmungen unter den Mitgliedsländern hervorrufen. Nationale Spannungen sind bei Konflikten über die Verteilung von Ressourcen eine starke Zentrifugalkraft. Wenn neue, einkommensschwächere Länder
in die EWU eintreten, werden diese politischen Herausforderungen noch grösser.
Eine reale Abwertung verurteilt die EWU zu einem
langsamen zukünftigen Wachstum
Wenn wir die fiskalische Koordination als französischen
Ansatz bezeichnen, dann wäre die deutsche Lösung die
einer realen Abwertung. Diese erreicht im Prinzip denselben Effekt wie eine Abwertung des nominalen Wechselkurses, bei der im entsprechenden Land die Exportpreise
sinken und der Kauf von Gütern und Dienstleistungen im
Ausland für die inländischen Haushalte teuerer wird. Doch
bei einer realen Abwertung werden die Preise und Löhne
im Inland direkt gesenkt. Aus diesem Grund wird sie auch
als deflationäre Politik bezeichnet und geht häufig mit
Arbeitsmarkt- und anderen Strukturreformen einher, um
die preisunabhängige Wettbewerbsfähigkeit eines Landes
zu verbessern.
Deutschland, das Anfang der 2000er Jahre auf eine solche
Politik setzte, besteht nun auf einer gewissen realen
Abwertung in den verschuldeten EWU-Ländern. Die meisten von ihnen haben unter dem Druck der Griechenlandkrise denn auch bereits drakonische Sparmassnahmen
eingeführt oder angekündigt3. Die Frage ist nur, kann das
funktionieren? Unserer Meinung nach lautet die kurze
und knappe Antwort «nein» oder zumindest «nicht für
jedes Land». Irland, das sehr exportorientiert und flexibel
ist, mag vielleicht in der Lage sein, eine solche Politik
erfolgreich zu realisieren, aber in Bezug auf Griechenland,
Spanien und Portugal sind wir nicht so zuversichtlich.
Erstens ist es in einer Währungsunion leichter gesagt als
getan, einen Überschuss im öffentlichen Sektor zu erzielen.
Wie in Kapitel 1 erklärt, wird ein Land mit einem praktisch
unvermeidlichen Leistungsbilanzdefizit nicht einen Überschuss im öffentlichen Sektor erzielen können, ohne dabei
ein Defizit im Privatsektor hinnehmen zu müssen. Solange
die Leistungsbilanz in einem Sektor defizitär ist, muss ein
Sektor ein Nettoschuldner sein. So machte das spanische
Leistungsbilanzdefizit im Jahr 2007 etwa 10 Prozent des
BIP aus. Es resultierte aus einem Defizit von 12 Prozent im
3
Wenn eine Koordination schon unwahrscheinlich ist, dann
sind die Chancen, dass die EWU auf eine Fiskalföderation
zustrebt, unserer Meinung nach praktisch null. Es wäre ein
historisch beispielloses Ereignis, wenn eine grosse Zahl souveräner Länder friedlich und freiwillig so viel von ihrer Souveränität aufgeben würde. In der Tat scheint die Zeit der
grossen Visionen von der europäischen Integration zu Ende
zu gehen. Vor allem glauben wir, dass solche Mechanismen
16
Die Zukunft des Euro
Das griechische Paket ist das tiefgreifendste: Mit einer Reihe von Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, die sich im Jahr 2010 insgesamt auf 7 Prozent des BIP belaufen, soll das Defizit von 13,6 Prozent
des BIP in den Jahren 2009 bis 2012 auf weniger als 3 Prozent
gedrückt werden. Die spanische Regierung kündigte Pläne zur
Reduzierung ihres Haushaltsdefizits von 11,2 Prozent im Jahr 2009 auf
9,3 Prozent im Jahr 2010 und 6,5 Prozent im Jahr 2011 an. Portugal
plant eine Reduzierung von 9,4 Prozent im Jahr 2009 auf 5 Prozent im
Jahr 2011, während Irland, das 2009 ein Defizit von 14,3 Prozent
hatte, trotz harter Sparmassnahmen 2011 immer noch ein Defizit von
mindestens 10 Prozent haben könnte.
Die Aussichten für den Euro
Privatsektor und einem Überschuss von 2 Prozent im
öffentlichen Sektor. In der Krise schwenkte der Privatsektor
von einem Defizit zu einem Überschuss von 6 Prozent um,
und das Leistungsbilanzdefizit halbierte sich auf circa 5
Prozent. Das heisst, dass das Defizit des öffentlichen Sektors rund 11 Prozent ausmachte. Jetzt strebt der öffentliche Sektor danach, dieses Defizit zu reduzieren. Das heisst,
dass entweder der Privatsektor erneut ein Defizit hinnehmen oder Spanien seine Handelsbilanz und damit seine
Leistungsbilanz verbessern muss. Das wird jedoch schwierig sein, da der grösste Exporteur der EWU, Deutschland,
Massnahmen ergreift, um seine Exportmaschine weiter zu
verbessern (siehe Abb. 2.2).
Zweitens ist eine reale Abwertung äusserst schmerzhaft. In
Griechenland und anderen Peripherieländern ist es bereits
zu Generalstreiks und Protesten gekommen und das noch
bevor die schmerzlichen Folgen wirklich zu spüren waren.
Die Politiker in diesen Ländern werden vor schwierigen Entscheidungen stehen. Lettland setzt derzeit auf eine reale
Abwertung zur Lösung seiner Schuldenprobleme, da es an
seiner Währungskopplung an den Euro festhalten möchte.
Infolgedessen schoss die Arbeitslosenquote in nur zwei
Jahren von rund 5 auf 20 Prozent in die Höhe. Deutschland
machte etwa ein Jahrzehnt mit einer milden Abwertung
durch, um die 25-prozentige geringere Wettbewerbsfähigkeit infolge der Wiedervereinigung wieder wettzumachen.4
In dieser Zeit war das Wachstum schwach und die Arbeitslosenquote stieg um rund 50 Prozent. Spanien, Griechenland, Irland und Portugal müssen ähnliche Einbussen bei
der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland aufholen. Wenn die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern ebenfalls
um 50 Prozent steigt, würde sie in Griechenland von 10
auf 15 Prozent klettern und in Spanien von 20 Prozent auf
nahezu unvorstellbare 30 Prozent.
4
Grossbritannien konnte durch eine Senkung des Wechselkurses im
Laufe von zwölf Monaten eine ähnliche Wettbewerbslücke
überbrücken.
Abb. 2.2: Leistungsbilanzen und Haushaltsdefizite
in % des BIP, Blasen zeigen die Grösse der Volkswirtschaften an
0
Finnland
Italien
Slowenien
-6
Portugal
-10
Österreich
Belgien
Slowakei
Deutschland
Niederlande
Frankreich
Spanien
Griechenland
Irland
-14
Leistungsbilanzdefizit
Leistungsbilanzüberschuss
-16
-15
Insgesamt ist die deutsche Lösung für die Probleme des
Euro kein leichter Weg. Er würde die EWU einer konstanten deflationären Tendenz mit schwachem Wirtschaftswachstum und potenziell hoher Arbeitslosigkeit aussetzen.
Unter dem Schock der Griechenlandkrise haben sich die
Länder bereitwillig einer solchen Vorgehensweise unterworfen. Unserer Ansicht nach ist es jedoch fraglich, ob alle
Peripherieländer an dieser Politik festhalten können und
werden, sobald sie wirklich schmerzhaft wird.
Abb. 2.3: Vor der Krise war die Akzeptanz des Euro
sehr stabil
Haltung der EU-Bürger gegenüber dem Euro seit seiner Einführung, Okt./Nov. 2009, in %
-4
-12
Im Augenblick haben Griechenland und die anderen Peripherieländer einen hohen Kreditbedarf. Und bei einem
Zahlungsausfall würden sie vom Zugang zu den Finanzmärkten beziehungsweise im Fall Griechenlands vom
Zugang zum Rettungspaket abgeschnitten. Sollte es diesen
Ländern jedoch gelingen einen ausgeglichenen Haushalt
zu erreichen, sodass sie nicht mehr auf Kredite angewiesen
sind, könnten eine Zahlungsunfähigkeitserklärung oder
eine Form der Umschuldung eher in Frage kommen. Ein
Zahlungsausfall ist jedoch keine Lösung für das Problem
der strukturellen Unterschiede in der EWU, sodass ein zahlungsunfähiges Land auch einen Rückzug aus der EWU
erwägen könnte.
Haushaltsdefizit
-2
-8
Und es dürfte gar noch schmerzhafter werden. Wenn mehrere Länder in der gleichen Region mit engen Handelsbeziehungen eine Politik der realen Abwertung verfolgen,
verstärken sich die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung und die Beschäftigung noch mehr. Alles in
allem ist eine reale Abwertung eine höchst unangenehme
Option für die verschuldeten EWU-Länder. Sie würde sie
und damit die EWU als Ganzes auf Jahre hinaus zu einem
sehr schwachen Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit verurteilen. In einigen Ländern würde die Verschuldung
gegenüber dem BIP vermutlich trotz der besten Bemühungen der Regierung steigen. In diesem Fall könnten eine
oder sogar mehrere Regierungen zum Schluss kommen,
dass eine staatliche Zahlungsunfähigkeit oder eine Form
der Umschuldung die einzige Option ist.
-10
-5
0
5
10
Leistungsbilanz
Quelle: OECD, UBS WMR
70
60
50
40
30
20
10
0
Herbst 1999
Dafür
Dagegen
Frühjahr 2002
Herbst 2004
Frühjahr 2007
Herbst 2009
Weiss nicht
Hinweis: Frage: «Was ist Ihre Meinung zu folgender Aussage? Bitte sagen Sie, ob Sie dafür oder dagegen sind.
Eine europäische Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung, dem Euro».
Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission, UBS WMR
UBS research focus August 2010
17
Kapitel 2
Massnahmen zur Stabilisierung des Euro
In den kommenden Jahren dürfte es an Reformen der
Finanzpolitik der EWU nicht fehlen. Die Massnahmen dürften unter anderem eine Neuverhandlung des Stabilitätsund Wachstumspaktes umfassen, um ein strengeres Sanktionsregime und Anreize zur Verhinderung übermässiger
Staatsausgaben in die Vereinbarung aufzunehmen. Ausserdem dürfte der Pakt durch einen permanenten Mechanismus zur Krisenbewältigung ergänzt werden, der unter
anderem Bestimmungen für den Extremfall einer Schuldenrestrukturierung eines Landes vorsieht. Für extreme
Umstände, in denen ein Land die Regeln nicht einhalten
kann oder will, müsste auch ein glaubhafter Rahmen für
einen Austritt eines Landes aus der Union geschaffen werden. In Kapitel 1 haben wir gezeigt, dass eine zu starke
Zinskonvergenz in der EWU an den Problemen der Union
mitschuldig war. Wenn es durch die oben beschriebenen
Massnahmen gelingt, ein Umfeld zu schaffen, das eine
korrekte Bewertung des Risikos in den verschiedenen Ländern sicherstellt, würde dies sicher sehr zur Stabilisierung
des Euro beitragen, da die unterschiedlichen Finanzierungskosten die nachteiligen Effekte des einheitlichen Leitzinses
begrenzen würden.
ten wir jedoch für unwahrscheinlich. Darüber hinaus
besteht die Gefahr, dass diese Reformbestrebungen nicht
länger dauern werden als die Krise selbst. Aber auch wenn
solche Reformen durchgeführt werden, bleiben die hohen
Staatsschulden, die im letzten Jahrzehnt angehäuft wurden, weiter bestehen. Wenn ein Zahlungsausfall eines
grossen EWU-Mitgliedslands die einzige Möglichkeit wäre,
die Schulden auf ein tragbares Niveau zu reduzieren,
könnte dies trotz der besten Absichten der politischen Entscheidungsträger eine Zerreissprobe für die EWU herbeiführen.
Wir hatten jedoch argumentiert, dass eigentlich eine Änderung der Ausrichtung in der EWU nötig wäre. Mit anderen
Worten müsste Deutschland auf einen stärker binnenorientierten Wachstumsmodus umschwenken, während einige
der Peripherieländer stärkere Exporte bräuchten. Mit
Finanzreformen allein wird sich das gewünschte Ergebnis
nicht erreichen lasen. Eine Politik zur Unterstützung der
Freizügigkeit von Arbeitskräften über die nationalen Grenzen der EWU hinweg würde eine grössere Flexibilität
ermöglichen und die Wahrscheinlichkeit übermässiger
Ungleichgewichte reduzieren. In einigen Ländern, zum Beispiel in Spanien, wurden Arbeitsmarktreformen (in Bezug
auf die Regulierung und die Renten) bereits in die politische Agenda aufgenommen. Dass solche Reformen die
nötige Umverteilung der Kräfte in der EWU bewirken, hal-
Es ist grundsätzlich noch zu früh, um ein solches Urteil
abzugeben, aber es wäre gut möglich, dass sich der Euro in
seiner derzeitigen Zusammensetzung als Hindernis für die
Integration erweist. Wie eingangs festgestellt, wurde der
Euro aus politischen Gründen und mit einer fragwürdigen
wirtschaftlichen Begründung eingeführt. Wenn sich
herausstellt, dass er nicht funktioniert, sollte die EWU keine
Skrupel haben, die Mitgliedschaft neu zu gestalten, um sie
besser an die wirtschaftliche Realität anzupassen. Eine
neue Generation von Politikern scheint eine pragmatischere Haltung in Bezug auf die europäische Integration
einzunehmen. Künftig werden die wirtschaftlichen und
politischen Kosten gegen die Vorteile abgewogen werden,
die eine gemeinsame Währung in der gegenwärtigen Form
den Mitgliedsländern bringt.
Das Undenkbare denken
In der Nachkriegszeit versuchte Europa, Krisen mit einer
stärkeren Kooperation und Integration zu begegnen. Ein
Auseinanderbrechen der EWU wäre zweifellos ein grosser
Rückschlag. Kanzlerin Angela Merkel sagte vor dem Bundestag: «Es ist eine Frage des Überlebens. Der Euro ist in
Gefahr. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Wenn
wir Erfolg haben, wird Europa stärker als zuvor sein.» Wir
stimmen dieser Einschätzung nicht zu. Die Europäische
Union bestand lange vor dem Euro, und der Euro ist für
den Erfolg der EU nicht ausschlaggebend.
Abb. 2.4: Euro-Akzeptanz in bestimmten Ländern
Haltung der EU-Bürger gegenüber dem Euro seit seiner Einführung, Okt./Nov. 2009, in %
Portugal
Österreich
Spanien
Belgien
Griechenland
Finnland
Italien
Niederlande
Deutschland
Irland
Frankreich
0
Dafür
20
40
60
80
100
0
20
40
60
Weiss nicht
Dagegen
Hinweis: Frage: «Was ist Ihre Meinung zu folgender Aussage? Bitte sagen Sie mir, ob Sie dafür oder dagegen sind. Eine europäische Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung, dem Euro».
Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission, UBS WMR
18
Die Zukunft des Euro
80
100
Die Aussichten für den Euro
Bis vor kurzem waren die Zustimmungsquoten für den
Euro noch stabil (siehe Abb. 2.3 und 2.4). Die GriechlandKrise schuf jedoch Spannungen und führte in einigen Fällen sogar zum Aufflackern eines Nationalismus. Ungeachtet der wirtschaftlichen Vorteile besteht ein wichtiges Ziel
der europäischen Integration und der EWU darin, den Frieden und die Verständigung zwischen den europäischen
Nationen zu fördern. Wenn der Eindruck entsteht, dass die
EWU genau das Gegenteil erreicht, würde ihr Daseinsgrund wegfallen, und radikale Reformen – auch Veränderungen an der Zusammensetzung der EWU – würden
absolut notwendig.
Im Augenblick gibt es keine klaren Pläne für eine geordnete Umgestaltung der EWU-Mitgliedschaft. Wahrscheinlich werden einige Jahre vergehen, bis die nötigen Verfahren und Prozesse, nicht zuletzt für die Bewältigung der
zahlreichen technischen und rechtlichen Aspekte, ausgearbeitet sind. Unserer Ansicht nach würde sich die Aussicht
auf eine Form der konstruktiven Neuordnung erheblich
erhöhen, sobald ein solcher Plan vorliegt. Mit anderen
Worten: Solange niemand wirklich weiss, wie eine solche
Neuordnung aussehen könnte und wie es nachher weiter
geht, wenden sich die politischen Entscheidungsträger
natürlich Massnahmen zu, die ihrer Meinung nach die
Funktionsfähigkeit der Union erhalten.
Fazit
Der Euro leidet nicht nur unter einer vorübergehenden
fiskalischen Krise, sondern unter langfristigen strukturellen
Ungleichgewichten. Innerhalb der Währungsunion sind die
Optionen für die Bewältigung dieser Probleme begrenzt.
Eine nominale Abwertung des Wechselkurses ist nicht
möglich, und eine fiskalische Koordination oder ein fiskalischer Föderalismus wird unserer Meinung nach auf unüberwindbaren politischen Widerstand stossen. Damit bleibt
nur die Option der realen Abwertung – eine Politik, mit der
die EWU-Länder der deflationären Politik Deutschlands
folgen – der Eindämmung des Lohn- und Preisanstiegs bei
gleichzeitiger Reduzierung der Ausgaben und Anhebung
der Steuern. Diese Option ist bestimmt mit grossen Entbehrungen für einige der Peripherieländer verbunden, und wir
bezweifeln, dass auf diese Weise eine echte Umverteilung
der Gewichte in der EWU erreicht werden kann. Längerfristig wird sich die EWU-Mitgliedschaft ändern müssen.
Einige Länder stellen möglicherweise fest, dass sie ausserhalb der Eurozone besser fahren. Dies wird jedoch seine
Zeit dauern. Bisher gibt es keine Pläne für solche Schritte,
und einige Länder möchten vermutlich einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, bevor sie eine Umschuldung mit
einem geordneten Rückzug aus der EWU verbinden.
Den Fall eines ungeordneten Auseinanderbrechens haben
wir bisher nicht besprochen, da sich ein solcher per Definition nicht vorhersagen lässt. Unserer Meinung nach ist ein
solches Szenario aber kaum denkbar, und wir würden ihm
eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 10 Prozent beimessen. In unserem Basisszenario wird die derzeitige Zusammensetzung der EWU mindestens noch für die nächsten
drei bis fünf Jahre bestehen bleiben. Auf längere Sicht halten wir eine gewisse Umgestaltung der Mitgliedschaft der
Union für eine reale Möglichkeit. Insbesondere sind wir der
Ansicht, dass sich eine solche Vorgehensweise als einzige
Möglichkeit erweisen könnte, den Pfad der Kooperation
und Integration in Europa fortzusetzen. Wenn eine solche
Reform erfolgreich durchgeführt werden kann, könnte sie
sogar den Wohlstand und das Wachstum fördern.
UBS research focus August 2010
19
Kapitel 3
Kapitel 3
Die Umgestaltung der
Eurozone
«Es gibt bekannte Bekannte. Das sind Dinge, von denen
wir wissen, dass wir sie wissen. Es gibt bekannte Unbekannte. Damit meine ich, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte: solche, von denen wir nicht wissen,
dass wir sie nicht wissen.»
Donald Rumsfeld1 (2002)
Die Eurozone muss sich verändern. Die Krise hat die fundamentalen Lücken in der finanzpolitischen Governancestruktur aufgezeigt und inzwischen wurden Reformen in Gang
gesetzt. Die Stabilitätsregeln der EWU haben versagt, werden in Zukunft aber sicher verschärft werden. Die EWUArchitektur dürfte durch eine Auffangfazilität für Notfälle
ergänzt werden, möglicherweise in Form eines Europäischen Währungsfonds. Um das langfristige Problem der
strukturellen Unterschiede zu lösen, fordert insbesondere
Deutschland die anderen Länder auf, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Strukturreformen und eine zurückhaltende
Lohn- und Preispolitik zu verbessern. Letzteres wird
schmerzhaft sein, und es ist nicht klar, ob alle Defizitländer
in der Peripherie dies auch wirklich durchziehen können.
Tatsächlich sind wir, wie im letzten Kapitel besprochen, der
Auffassung, dass eine Umverteilung der Kräfte in der Eurozone nur durch eine Form der konstruktiven Neuausrichtung erreicht werden kann, das heisst, dadurch, dass einige
Mitgliedsländer in geplanter und geordneter Weise aus der
Union ausscheiden. Vor allem aber vertraten wir die Meinung, dass eine solche Neugestaltung der Union die europäische Integration nicht zwangsläufig zurückwirft, sondern vielmehr zu einer Voraussetzung für eine weitere
künftige Integration werden könnte. Wir betonen jedoch,
dass diese Szenarien in weiter Ferne liegen. In den nächsten drei bis fünf Jahren dürfte die EWU all ihre derzeitigen
Mitglieder behalten. In diesem Kapitel untersuchen wir die
Fakten, die wir kennen, die Dinge, die wir nicht wissen, und
wie sich die Unbekannten in Bezug auf die EWU künftig
entwickeln könnten.
Eine Neugestaltung – ausgehend vom Kern oder von
der Peripherie
In einem ersten Schritt müssen wir die Stellen finden, die
man aus rein wirtschaftlicher Perspektive als Sollbruchstellen für die EWU bezeichnen könnte. Hierzu erweitern wir
die Ländergruppenanalyse aus Kapitel 1 um eine Reihe
fundamentaler wirtschaftlicher Indikatoren, die wir mit
einem «Flow-Indikator» kombinieren, der Haushaltsdefizite, akkumulierte Inflation und Leistungsbilanzen repräsentiert. Darüber hinaus haben wir einen Bestandsindikator, der Informationen über die Staatsverschuldung und die
Netto-Auslandsvermögen der Länder aufzeigt und dem
Saldo aller Auslandsvermögen und -schulden entspricht.
Wir sehen unseren Indikator als Massstab der Ungleichgewichte. Das Ergebnis unserer Berechnungen ist in Abb. 3.1
zu sehen.
Abb. 3.1 verschafft uns eine klare Vorstellung von den
Unterschieden unter den Ländern in der Union, mit einer
Kerngruppe aus Deutschland, den Niederlanden, Finnland,
Österreich und Luxemburg und einer Peripheriegruppe,
bestehend aus Italien, Spanien, Portugal, Irland und – mit
einigem Abstand – Griechenland. Frankreich fällt zwischen
die beiden Cluster, befindet sich aber näher bei der zweiten Gruppe. Die Kerngruppe im blauen Oval schneidet
sowohl beim Bestands- als auch beim Flow-Indikator besser
ab. Das heisst, diese Länder haben eine niedrigere Staatsverschuldung und hohe Netto-Auslandsvermögen sowie
geringere Haushaltsdefizite und erwirtschaften Leistungsbilanzüberschüsse. Die Peripheriegruppe hat dagegen ein
geringeres Netto-Vermögen beziehungsweise in den meisten Fällen sogar Netto-Auslandsschulden. Diese Länder
haben eine relativ hohe Verschuldung und mit Sicherheit
hohe Haushaltsdefizite.
Griechenland scheint in der EWU geradezu aus der Reihe
zu tanzen, da seine wirtschaftlichen Fundamentaldaten
auffällig schlechter sind als bei den schwächeren Ländern2.
Eine wichtige Schlussfolgerung daraus ist, dass selbst bei
einem Ausscheiden Griechenlands aus der EWU die wichtigsten Unterschiede zwischen den verbleibenden Peripherieländern und den Kernländern weiter bestehen würden.
Daher würde ein möglicher Austritt Griechenlands aus der
EWU das Problem der strukturellen Ungleichgewichte nicht
lösen. Selbst wenn die anderen Peripherieländer ihre
eigene Währungsunion bilden würden, wäre es nicht klar,
ob ein Beitritt Griechenlands zu einer solchen Union vorteilhaft wäre. Am anderen Ende des Spektrums steht die
Schweiz mit den solidesten Fundamentaldaten aller Länder
in unserem Beispiel. Dänemark und Schweden würden bei
2
1
20
Früherer US-Verteidigungsminister
Die Zukunft des Euro
Rückblickend ist festzustellen, dass Griechenland die Bedingungen
für die EWU-Mitgliedschaft nie erfüllt hatte.
Die Umgestaltung der Eurozone
einem Beitritt zur EWU zu den Kernländern gehören, während Grossbritannien – was möglicherweise überrascht –
unter die Peripherieländer eingereiht werden müsste.
Wichtig ist dabei jedoch, dass unsere Analyse nur eine
hypothetische, wirtschaftliche Sollbruchstelle aufgezeigt
hat, die leider quer durch die EWU verläuft. In der Realität
wäre es unserer Meinung nach jedoch schwer vorstellbar,
dass sich Deutschland und Frankreich am Ende in zwei verschiedenen Lagern befinden würden, was nicht zuletzt
gegen eine wichtige Zielsetzung der europäischen Einigung
verstossen würde. Daher wollen wir zum Zweck der Diskussion in diesem Kapitel – im Einklang mit den Aussagen
von Kapitel 1 – annehmen, dass die Peripherie aus Griechenland, Spanien, Portugal und Irland besteht und die
grössten Spannungen zwischen diesen Ländern und der
übrigen EWU bestehen.
Das bisher Undenkbare denken
Deutschland steht im Zentrum des Euroraumes, und wenn
die deutschen Regierungsvertreter die Zukunft des Euro
offen diskutieren, so markiert dies eine bedeutende
Wende. Der Finanzminister erläuterte vor kurzem klar die
Haltung der deutschen Regierung bezüglich eines Austritts
aus der EWU: «... sollte ein Mitglied der Eurozone letztlich
feststellen, dass es nicht in der Lage ist, seinen Haushalt zu
konsolidieren oder seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, könnte dieses Land im schlimmsten Fall aus der
Währungsunion ausscheiden, aber Mitglied der EU bleiben». Das Bemerkenswerte an dieser Stellungnahme ist
nicht nur, dass die deutsche Regierung darin einen geordneten Austritt aus der Union befürwortet, sondern auch,
dass sie andeutet, dass ein solcher Austritt auch unfreiwillig zustande kommen könnte, wenn ein Land bestimmte
Bedingungen nicht erfüllen kann. Obwohl es lange Debatten über die rechtliche Machbarkeit eines Austritts von
Ländern aus der EWU – ob freiwillig oder unter Zwang –
gegeben hat, sind wir der Ansicht, dass diese Diskussionen
nur begrenzten Wert haben. Die Zukunft der EWU ist derart wichtig, dass die Regeln zweifellos geändert würden,
um sie den politischen Interessen anzupassen.
Abb. 3.1: Indikator der Ungleichgewichte in der EWU
Auf der Basis von 5 gleichgewichteten normalisierten fundamentalen Indikatoren, 2009
Flow-Wert
2,5
2,0
Schweiz
Deutschland
1,5
Schweden
Niederlande
1,0
Dänemark
Österreich
0,5
Belgien
Italien
0,0
Malta
Irland
-0,5
Luxemburg
Finnland
Frankreich
Portugal
Bestands-Wert
Slowakei
Slowenien
Zypern
Spanien
-1,0
Grossbritannien
-1,5
Griechenland
-2,0
-2,0
-1,5
-1,0
-0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
Länder ausserhalb EWU
Länder innerhalb EWU
Hinweis: Blasen zeigen die Grösse der Volkswirtschaften an
Quelle: Reuters EcoWin, UBS WMR
UBS research focus August 2010
21
Kapitel 3
Wegbrechen der Peripherieländer
Es wäre vorstellbar, dass ein oder mehrere hoch verschuldete Peripherieländer aus der EWU ausscheiden. Die
Beweggründe hinter einem solchen Schritt könnten unserer Meinung nach darin bestehen, dem Zwang zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit – durch den
schmerzhaften Prozess einer fortgesetzten realen Abwertung durch höhere Steuern, Kürzungen der Staatsausgaben und niedrigere Löhne – zu entgehen. Stattdessen würden diese Länder danach streben, die Eurozone zu verlassen, um ihren Wechselkurs abzuwerten und dadurch die
Wettbewerbsfähigkeit auf rasche und relativ schmerzlose
Weise wiederherzustellen.
Die Kosten einer solchen Veränderung der EWU-Mitgliederstruktur wären zweifellos sehr hoch. Wenn Länder sich
jedoch entscheiden, einen solchen Weg einzuschlagen,
wären sie vermutlich der Ansicht, dass die Vorteile die Kosten überwiegen. Solche Länder könnten möglicherweise
den Austritt aus der Eurozone mit einer Restrukturierung,
das heisst einer Reduzierung ihrer Staatsschulden, kombinieren. Daher wäre ein Austritt aus der EWU und die Einleitung einer Restrukturierung ihrer Schulden für die Peripherieländer erst dann interessant, wenn sie einen ausgeglichenen Haushalt erreicht haben und somit keine Kredite
mehr an den Finanzmärkten aufnehmen müssen. Für Griechenland, das unserer Meinung nach seine Schulden
irgendwann umstrukturieren muss, könnte dies eine gangbare künftige Option sein.
Ein langfristiger Vorteil für Peripherieländer, die aus der
EWU ausscheiden, könnte ein höheres Wirtschaftswachstum dank einer besseren internationalen Preiswettbewerbsfähigkeit sein. Für die Länder, die in der Union verbleiben,
hätte ein solcher Schritt keinen klaren wirtschaftlichen Vorteil, abgesehen von der Tatsache, dass sich die Verpflichtung
zur Finanzierung schwächerer Mitglieder verringern würde
oder ganz wegfiele. Ein politischer Vorteil einer solchen
Abspaltung könnte darin bestehen, dass die verbleibenden
Länder vermutlich in der Lage wären, eine weitere politische
Integration zu verfolgen, wenn sie dies wünschen.
Abb. 3.2: Harmonisierter Wettbewerbsfähigkeitsindikator der EZB
Auf der Basis der Lohnstückkosten
140
130
120
Verlust an Preiswettbewerbsfähigkeit
110
100
90
80
1995 Q1
Gewinn an Preiswettbewerbsfähigkeit
1998 Q1
Deutschland
Irland
2001 Q1
2004 Q1
Griechenland
Spanien
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Konjunkturabschwung
Quelle: EZB, UBS WMR
22
Die Zukunft des Euro
2007 Q1
Frankreich
Italien
2010 Q1
Niederlande
Österreich
Ausscheiden von Kernländern
Eine zweite Option wäre ein Auseinanderbrechen der EWU
infolge des Ausscheidens eines oder mehrerer der finanzstärkeren Länder aus der Union. Wenn der gewählte Kurs
«Sparmassnahmen und reale Abwertung», der in Kapitel 2
besprochen wurde, keinen Erfolg zeitigt, könnte dies die fiskalische Koordinierung oder Föderation wieder auf die
Tagesordnung bringen und ganz allgemein die Verpflichtung der Kernländer zur Finanzierung der Peripherieländer
erhöhen. Aus diesem Grund könnten sich ein oder mehrere
Kernländer für einen Austritt aus der Eurozone entscheiden.
Das Land, das möglicherweise unter solchen Umständen
aus der EWU ausscheiden würde, wäre Deutschland. Eine
neue deutsche Währung würde gegenüber dem verbleibenden Euro deutlich aufwerten. Das heisst, dass die Preiswettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporteure stark
zurückgehen würde. Daher würde die deutsche Wirtschaft
zunächst unter einem solchen Schritt vermutlich stark leiden. Längerfristig würde dies jedoch zu einer begrüssenswerten Umorientierung der deutschen Wirtschaft vom bisherigen Exportfokus auf die Binnensektoren führen. Damit
könnten die Deutschen, die bisher nur wenig von der
Exportstärke ihres Landes profitiert haben, einen höheren
Anteil dessen geniessen, was sie produzieren. Darüber
hinaus würde die Einführung einer neuen deutschen Währung die Staatsverschuldung reduzieren, wenn alte Verträge weiterhin auf den wohl möglich schwächeren, aber
vermutlich stabileren Euro lauten würden.
Ein Ausstieg Deutschlands hätte auch für die anderen
Länder der Eurozone Vorteile. Wie in Kapitel 2 geschildert,
dominiert die grosse exportgetriebene Wirtschaft Deutschlands die EWU. Die Bestrebungen Deutschlands zur Verbesserung seiner externen Preiswettbewerbsfähigkeit zwingt
den übrigen EWU-Mitgliedsländern eine deflationäre Tendenz auf. Sie können entweder versuchen, das deutsche
Modell nachzuahmen oder laufen Gefahr, grosse Defizite
in ihren Leistungsbilanzen anzuhäufen. Ein Blick auf Abb.
3.2 lässt darauf schliessen, dass Deutschland und Österreich in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit eine ähnliche
Entwicklung durchgemacht haben. Die anderen wichtigen
EWU-Länder wie Frankreich, Italien, die Niederlande und
Belgien mussten seit der Einführung des Euro eine beträchtliche Verschlechterung ihrer Preiswettbewerbsfähigkeit
hinnehmen.
Daher ist nicht sicher, ob ein Ausscheiden der fiskalisch
schwächeren Länder aus der EWU das Problem der strukturellen Ungleichgewichte unter den verbleibenden EWULändern lösen würde. Stattdessen könnten sich erneut
Ungleichgewichte aufbauen, diesmal jedoch zwischen
Deutschland und einigen der verbleibenden Kernländer. Die
politische Tragweite und die Konsequenzen eines Ausscheidens von Deutschlands aus der EWU sind weitreichend und
viele Beobachter würden zum Schluss kommen, dass dies
sehr unwahrscheinlich ist. Unseres Erachtens ist die Auffassung, dass Deutschland den Euro selber aufgeben muss,
wenn es ihn retten will, jedoch nicht aus der Luft gegriffen.
Die Umgestaltung der Eurozone
Gefahr eines ungeordneten Auseinanderbrechens
Das Ausscheiden eines Landes aus der EWU wäre sehr kompliziert und vermutlich sehr teuer und es besteht immer die
Gefahr, dass ein solcher Prozess aus dem Ruder läuft. Ein
ungeordnetes Auseinanderbrechen könnte durch eine kritische Masse von Finanzmarktteilnehmern ausgelöst werden,
die zum Schluss kommen, dass eine Neuordnung unvermeidlich ist. Analog zur jüngsten Griechenlandkrise würden
die Kreditrisikoprämien auf Staatsanleihen steigen und es
den Peripherieländern letztlich unmöglich machen, ihre
Schulden zu refinanzieren. Die Garantien der EU und des
IWF würden in Anspruch genommen und könnten sich als
unzulänglich herausstellen. Die EZB müsste ihre Anleihenkäufe erheblich beschleunigen und der Euro würde gegenüber anderen Währungen fallen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass ein Zahlungsausfall eines Peripherielands
nicht zwangsläufig ein Auseinanderbrechen der Eurozone
impliziert. Die politischen Entscheidungsträger stehen daher
vor der wichtigen Herausforderung Pläne auszuarbeiten,
um die Gefahr eines ungeordneten Auseinanderbrechens
zu minimieren. Wenn zum Beispiel zu erwarten steht, dass
ein hoch verschuldetes Land eine neue Währung einführt,
könnte dies zu einer Kapitalflucht führen, da die Sparer
danach streben würden, den Wert ihrer Einlagen zu schützen. Über attraktive Zinsen könnte das Problem allenfalls
teilweise entschärft und ein Teil der Anleger dazu bewogen
werden, ihr Geld in dem Land, das einen Austritt aus der
EWU plant, zu lassen. Kapitalkontrollen hätten möglicherweise denselben Effekt, würden jedoch gegen EU-Regeln
verstossen.
Wiedereinführung nationaler Währungen
Eine Wiedereinführung von nationalen Währungen würde
auch die Frage aufwerfen, ob bestehende Verträge auf die
neue Währung umgestellt werden sollen. Wenn es zu einer
Umstellung kommt, werden Kreditnehmer wünschen, dass
ihre Schulden auf die schwache Währung umgestellt werden, während es Gläubiger vorzögen, wenn ihre Vermögenswerte weiterhin auf die starke Währung lauten würden. Nationale Gesetze zur Umstellung auf die andere
Währung würden vermutlich nur inländische Verträge abdecken, aber nicht solche, die mit Unternehmen und Privatpersonen im Ausland geschlossen wurden. Hier müsste auf
freiwillige Umtauschangebote zurückgegriffen werden. Bei
Betrachtung der Verkaufsprospekte für Anleihen, das heisst
der Konditionen, unter denen Anleihen ausgegeben werden, stellen wir fest, dass eine Umstellung der Währung in
den meisten Fällen nicht vorgesehen ist. Für eine Änderung
dieser Prospekte wäre daher vermutlich die Zustimmung
der Anleiheninhaber erforderlich.
Wenn einzelne Länder die EWU verlassen, aber der Euro
weiter besteht, würde dies nur eine Reduzierung der Zahl
der Mitgliedsländer bedeuten, aber nichts am Status des
Euro als frei handelbarer Währung ändern. Folglich wären
Zahlungen in Euro weiterhin möglich. Ein Land, das sich für
den Austritt aus der EWU entscheidet, wünscht jedoch
höchstwahrscheinlich, dass seine Inlandsschulden auf seine
neue Währung lauten. Gleiches gilt für die meisten inländi-
schen Unternehmen. Freiwillige Umtauschangebote während einer Übergangsfrist könnten unserer Ansicht nach
für austretende Länder eine Lösung sein.
Um die rechtlichen Komplikationen zu reduzieren, gibt es
vermutlich andere Optionen. So könnte die neue nationale
Währung zunächst nur als parallele Abrechnungseinheit
für neue Verträge eingeführt werden – während alle bestehenden Vermögenswerte, Verbindlichkeiten und Verträge
weiterhin auf Euro lauten. Die juristischen Probleme wären
zweifellos kompliziert, aber unserer Meinung nach nicht
unüberwindbar.
Fazit
Wie zu Beginn dieses Kapitels festgestellt, muss sich die
Eurozone verändern. Wir rechnen nicht mit einem Auseinanderbrechen der EWU in den nächsten drei bis fünf Jahren. Aber wie wir oben ausgeführt haben, kann eine
schnelle und ungeordnete Auflösung auch nicht völlig
ausgeschlossen werden. Unserer Meinung nach ist die
gegenwärtige Struktur langfristig nicht stabil und muss
sich ändern. Auseinanderbrechen und Neuordnung sind
bedrohlich klingende Aussichten für den Euro. Wenn ein
solches Ereignis ungeordnet eintritt, wären die Folgen
sicherlich schwerwiegend. Sollte man deshalb jedoch zum
Schluss kommen, dass die EWU-Mitgliederstruktur ungeachtet aller Kosten unverändert bleiben muss? Wir sind
nicht dieser Ansicht. Unserer Meinung nach könnte das
Ausscheiden eines oder mehrerer Länder aus der Union
auf geordnete und geplante Weise eine positive Entwicklung für den Euro und für die Aussichten für das Wirtschaftswachstum und die weitere politische Integration in
Europa sein.
Die wirtschaftlich vernünftigste Bruchstelle verläuft quer
durch die EWU und würde unter anderem Deutschland
und Frankreich trennen. Daher könnte ein möglicher Ausstieg eines oder mehrerer der hoch defizitären Peripherieländer das Problem der dauerhaften Ungleichgewichte in
der EWU unter Umständen nicht lösen. Auch wenn es sonderbar klingen mag, könnte aus wirtschaftlicher Sicht ein
künftiges Ausscheiden Deutschlands aus der EWU als vernünftigste Option erscheinen. Allerdings wurde die EWU
hauptsächlich als politische Union ins Leben gerufen, daher
könnte die Politik die wirtschaftlichen Überlegungen in den
Hintergrund drängen. Aber wie wir immer wieder erlebt
haben, nicht zuletzt seit dem Ausbruch der Finanzkrise,
können die Ereignisse manchmal eine unerwartete Wendung nehmen. Daher erwarten wir, dass die EWU in
Zukunft ebenfalls unerwartete Richtungen einschlägt. Es
gibt immer noch viele Unbekannte, und wir rechnen mit
Überraschungen.
UBS research focus August 2010
23
Kapitel 4
Kapitel 4
Eine langsamere Expansion
nach Osten
«Für mich gibt es einfach zu viele hypothetische Faktoren
um Spekulationen darüber anzustellen, ob ein Beitritt zur
Eurozone der tschechischen Wirtschaft zugute kommen
würde.»
Miroslav Singer1, 2010
In den vorhergehenden Kapiteln vertraten wir die Ansicht,
dass sich die derzeitigen EWU-Mitgliedsstaaten auf gewaltige Herausforderungen in der Zukunft einstellen müssen.
Die Unsicherheit ist gross und die potenziellen wirtschaftlichen Kosten sind hoch. Damit stellt sich die Frage, in welchem Umfang und mit welchem Tempo die Erweiterung
der Eurozone nach Zentral- und Osteuropa weitergehen
kann und wird. Mit Bulgarien, der Tschechischen Republik,
Ungarn, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien gibt es
derzeit sieben Kandidaten in der Region. Die Zukunft dieser Expansionspläne hängt von der Attraktivität der Eurozone für die verbleibenden Kandidaten und von der Beurteilung dieser Länder durch die EU-Kommission und die
Europäische Zentralbank (EZB) ab. Noch wichtiger ist aber
vermutlich der politische Wille zur künftigen EWU-Expansion, sowohl bei den Kandidaten als auch bei den bestehenden Mitgliedsländern.
1
Abb. 4.2: Rückgang der Inflation
Abb. 4.1: Niedrigere Zinsen fördern das
Wirtschaftswachstum
Inflationsgefälle zwischen Beitrittsländern und Industrieländern, in Prozentpunkten
Zinsdifferenzen gegenüber deutschen Bundesanleihen, in Prozentpunkten
30
Irland, Portugal
25
EWU-Beitritt Griechenlands
Griechenland
20
Slowenien
15
Slowakei
10
5
0
-5
1995
1997
Griechenland
Portugal
1999
Die Zukunft des Euro
2001
Spanien
Irland
Quelle: Bloomberg, UBS WMR, per Juni 2010
24
Wie in Abb. 4.2 zu sehen, verzeichneten diese Länder auch
eine deutliche langfristige Verringerung der Inflation. Eine
niedrigere Inflation ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung
für sinkende Zinsen, sondern verbessert auch die gesamtwirtschaftliche Stabilität eines Landes. Somit sind die wirtschaftlichen Anreize für einen Beitritt zur Eurozone in Ländern wie
Ungarn und Rumänien höher, wo die Inflation und die Zinsen
über dem Niveau der derzeitigen Mitgliedsländer liegen.
Ein weiterer Vorteil der Einführung des Euro ist ein stabiler
Wechselkurs gegenüber den wichtigsten Handelspartnern.
Geringere Wechselkursschwankungen unter Handelspartnern fördern den Handel und ausländische Direktinvestitionen und kommen damit dem Wirtschaftswachstum zugute.
Gouverneur der tschechischen Nationalbank
8
7
6
5
4
3
2
1
0
-1
1993
Argumente dafür: niedrigere Zinsen und mehr
Stabilität
Aus wirtschaftlicher Sicht besteht ein wichtiger Vorteil
eines EWU-Beitritts in den deutlich niedrigeren Zinsen.
Abb. 4.1 zeigt die historischen Zinsdifferenzen Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens gegenüber deutschen Bundesanleihen. Der Effekt der Euro-Einführung
könnte unserer Meinung nach nicht deutlicher sein. In
Griechenland ging die Zinsdifferenz von über 7 Prozent auf
nur wenige Basispunkte zurück. Dies reduziert die Last des
Schuldendienstes und unterstützt Investitionen und damit
auch das Wirtschaftswachstum. Wie wir jedoch ausführlich
dargelegt haben, kann diese Zinskonvergenz zu einem
starken, nicht nachhaltigen Konsumwachstum führen.
2003
2005
2007
2009
1990
1994
Griechenland
Irland
1998
Portugal
Slowakei
Hinweis: Schattierter Bereich kennzeichnet Prognose
Quelle: IWF, UBS WMR, per Juni 2010
2002
2006
2010
Slowenien
Jahr des Beitritts zur Eurozone
2014
Eine langsamere Expansion nach Osten
Kasten 1: Die Europäische Union begrüsst Estland in der Währungsunion
Im Mai dieses Jahres erhielt Estland inmitten der Rettungsaktion für Griechenland und der Gefahr des Übergreifens
der Krise auf andere EWU-Länder grünes Licht für den
Beitritt zur Eurozone und führt im Januar 2011 als 17.
Land den Euro ein. Im Gegensatz zur scheinbar unbeirrten Entschlossenheit der EU-Kommission, die Expansion
der EWU voranzutreiben, steht die Europäische Zentralbank (EZB) dem Beitritt Estlands jedoch offenbar skeptischer gegenüber. Die Nachhaltigkeit der Inflationskon-
vergenz in Estland schien der EZB die grösste Sorge zu
bereiten. Dabei war es sicherlich hilfreich, dass Estland
aus wirtschaftlicher Sicht ein Leichtgewicht ist. Sein BIP
macht nur etwa 0,15 Prozent des Gesamtumfangs der
Eurozone aus. Die Euro-Ambitionen von Bulgarien, Lettland und Litauen könnten auf ähnliche Weise profitieren.
Das gemeinsame BIP dieser drei Länder beträgt nur 0,9
Prozent des Gesamt-BIP der Eurozone.
Keine vollkommene Garantie mehr
Abb. 4.1 zeigt die allgemeine Konvergenz der Zinsspreads
(Unterschied zwischen den Zinssätzen von Anleihen verschiedener Länder), hebt aber auch die jüngste Kehrtwende dieses Trends hervor. Die Spreads der schwächeren
Mitgliedsländer stiegen wieder, als ernüchternd deutlich
zu Tage trat, dass die Maastricht-Kriterien – eine Reihe
von Regeln, die «sichere» Obergrenzen für Defizite,
Schulden, Inflation und Wechselkursschwankungen vorschreiben – für den Beitritt zur Währungsunion zwar
zwingend eingehalten werden müssen, für Länder, die
der Gemeinschaft bereits angehören, aber offenbar zu
freiwilligen Richtwerten werden. Für Mitgliedsländer, die
in den kommenden Jahren von den wirtschaftlichen Vorteilen der Eurozone profitieren möchten, wird kein Weg
um die fiskalische Disziplin herumführen. Daher müssen
die Mitgliedsländer bereit und in der Lage sein, sich strikt
an die Maastricht-Kriterien zu halten und damit die Inflation sowie die Höhe der Schulden und Defizite unter
Kontrolle zu halten.
Eine ungewisse Zukunft
Die Zukunft der EWU ist unsicherer denn je. Erstens könnten starke oder schwache Mitgliedsländer gezwungen sein,
die Gemeinschaft zu verlassen. Je nachdem, wer was tut,
könnten die oben genannten gesamtwirtschaftlichen
Anreize zum Beitritt grösser werden (zum Beispiel, wenn
Griechenland beschliesst oder gezwungen wird, aus der
Eurozone auszuscheiden) oder abnehmen (etwa wenn
Deutschland keine Lust mehr hat, die Rechnung für die
schwächeren Mitglieder zu zahlen, und ausscheidet). Die
mangelnde Flexibilität in der EWU-Geldpolitik würde ähnlich beeinflusst. So würde ein Euro ohne Deutschland
höchstwahrscheinlich schwächer werden. Dies würde wiederum dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und einen zeitweiligen Puffer während weltweiter
Rezessionen bilden.
Argumente dagegen: mangelnde Flexibilität der
Geldpolitik
In Rezessionen werten die Währungen aus Zentral- und
Osteuropa in der Regel gegenüber dem Euro und dem USDollar ab. Für ein exportorientiertes Land mit soliden Fundamentaldaten ist eine solche Anpassung ein willkommener vorübergehender Puffer, wenn sich die globale Nachfrage abschwächt, da dies die Wettbewerbsfähigkeit der
lokalen Exportindustrie unterstützt.
Wie in Kapitel 1 zu sehen, verdeutlichte die aktuelle Krise,
dass es vielen der schwächeren Mitgliedsländer in Südeuropa schwer fällt, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit unter den geldpolitischen Rahmenbedingungen
der EZB zu halten. Wenn es den Euro nicht gäbe, hätten
die griechische Drachme, die italienische Lira und die spanische Peseta unseren Schätzungen zufolge in den letzten
zehn Jahren gegenüber der deutschen Mark um rund
20 Prozent abgewertet, was die Wettbewerbsfähigkeit
dieser Länder unter Umständen erhalten hätte.
Die Mitglieder könnten in Zukunft auch aufgefordert werden, schwächere Mitgliedsländer finanziell zu unterstützen.
Bei der jüngsten Rettungsaktion musste die winzige Slowakei schätzungsweise 6 Mrd. Euro zu den Rettungsbemühungen beitragen. Da die Slowakei in ihrem Etat nicht vorgesehen hatte, für Pensionsverpflichtungen ihrer Nachbarländer aufzukommen, muss das Land jetzt Mittel über die
Kapitalmärkte aufnehmen.
Grössere Skepsis auf beiden Seiten
Die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und
einige EWU-Kandidaten betrachten die Expansionspläne
der Eurozone mit zunehmender Skepsis. Während die
Anreize für schwächere Länder wie Bulgarien, Ungarn oder
Rumänien offenbar nach wie vor intakt sind, stimmten die
fiskalischen Probleme Griechenlands die EU-Kommission
und insbesondere die EZB vorsichtiger, wenn es darum
geht, neue potenzielle Problemkinder in die EWU-Familie
aufzunehmen. Im Zuge der Vorbereitung auf den EWU-Beitritt von Estland (siehe Kasten 1) warnte die EZB, dass der
Inflationsdruck steigen könnte, wenn das Land gegenüber
den wohlhabenderen Mitgliedern der Eurozone aufholt.
UBS research focus August 2010
25
Kapitel 4
Andererseits dürften die stärkeren Volkswirtschaften in der
Region, insbesondere die Tschechische Republik und Polen,
in Bezug auf die Einführung des Euro in Zukunft vorsichtiger werden. Diese Länder könnten dem Beispiel Schwedens folgen (siehe Kasten 2), das heisst, sie könnten auf
die Erfüllung der Maastricht-Stabilitätskriterien hinarbeiten,
ohne den Euro tatsächlich einzuführen. Die Erfüllung dieser
Kriterien trägt dazu bei, die Fundamentaldaten zu verbessern und führt auf diese Weise zu niedrigeren Zinsen, grösserer Stabilität und höchstwahrscheinlich höherem Wachstum.
Am Ende ist es eine politische Entscheidung
Es ist zwar wichtig, die wirtschaftlichen Argumente für und
gegen die Übernahme des Euro abzuwägen, der politische
Wille zur Einführung der Gemeinschaftswährung dürfte
jedoch den Ausschlag geben. Wir sind generell der Ansicht,
dass sich das Tempo der EWU-Expansion verlangsamen
wird. In dieser Hinsicht ist es unserer Meinung nach nützlich, zwischen drei Gruppen von Ländern zu unterscheiden.
Einige haben weniger Anreize zur Einführung des
Euro …
Für die Tschechische Republik und Polen könnten die wirtschaftlichen Anreize des Beitritts zur Eurozone nicht ausreichen, um die Aufgabe einer unabhängigen Geldpolitik zu
rechtfertigen. Darüber hinaus war der politische Wille für
einen EWU-Beitritt in diesen Ländern – schon lange bevor
die Finanzprobleme Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder weltweit Schlagzeilen machten – geringer als
in Ungarn oder Rumänien. Aber wenn diese Länder an ihrer
Politik der Haushaltsdisziplin festhalten und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften weiter verbessern,
womit wir rechnen, dürften die lokalen Wertpapierkurse
weiter von diesem «Konvergenzprozess» profitieren. Dies
gilt insbesondere für die Tschechische Republik, die heute
ähnlich niedrige Zinsen hat wie ihr Nachbarland die Slowakei (siehe Abb. 4.3), die seit 2009 Mitglied der Eurozone ist.
… einige bekommen den Euro möglicherweise
nicht …
Im zweiten Block sehen wir Ungarn und Rumänien, zwei
Länder, die immer noch frei konvertierbare Währungen
haben. Der politische Wille, auf die Erfüllung der Maastricht-Kriterien hinzuarbeiten, ist in diesen beiden Ländern
zwar vergleichsweise stark. Aufgrund der schwachen
Fundamentaldaten dieser Länder wird es jedoch noch
einige Zeit dauern, bis sie wirkliche Kandidaten werden.
Die tatsächliche Einführung des Euro ist noch unsicherer
und könnte sich weiter hinauszögern, da die gegenwärtigen Mitglieder und die Europäische Zentralbank vermutlich skeptischer werden. Sobald diese Länder die Stabilitätskriterien tatsächlich erfüllen, könnten sie sich aber auch
entscheiden, dem Vorbild Schwedens zu folgen und dem
Wechselkursmechanismus II nicht beizutreten (siehe
Kasten 2). Wir erwarten jedoch, dass die beiden Länder
weiter auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit ihrer
Volkswirtschaften und die Reduzierung der Defizit- und
Schuldenhöhen sowie der Inflationsraten hinarbeiten. Die
lokalen Wertpapierkurse sollten von diesen Trends profitieren, ungeachtet dessen, ob der Euro am Ende eingeführt
wird oder nicht.
… und einige haben den Punkt überschritten, an dem
eine Umkehr möglich wäre
Bulgarien, Litauen und Lettland (und bis vor kurzem auch
Estland) gehören zu unserer dritten Gruppe von Ländern.
Diese Länder haben ihre Lokalwährungen bereits an den
Euro gekoppelt und gehören dem Wechselkursmechanismus II an (siehe Kasten 3). Um ihre Währungskopplungen
während der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 zu
verteidigen, führten diese Länder strikte Sparmassnahmen
ein, die unter anderem die Senkung der Löhne im öffentlichen Dienst und die Reduzierung von Rentenplänen umfassten. Da diese schmerzhaften Lohn- und Preissenkungen
die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften verbesserten, besteht nun eine geringere Notwendigkeit einer
Kasten 3: Der Wechselkursmechanismus II (WKM II)
Kasten 2: Der schwedische Ansatz
Schweden scheint derzeit keine Pläne zu haben, die schwedische Krone in naher Zukunft durch den Euro zu ersetzen.
Gemäss dem Beitrittsvertrag von 1994 ist jedoch jedes Mitgliedsland der Europäischen Union – mit Ausnahme von
Grossbritannien und Dänemark – dazu verpflichtet, sobald
es die Maastricht-Kriterien erfüllt. Die Teilnahme am WKM II
(siehe Kasten 3) ist jedoch ebenfalls ein erforderliches Kriterium, und da der Beitritt zum WKM II freiwillig ist, hat
Schweden den Wechselkursmechanismus bisher als Hintertür verwendet.
26
Die Zukunft des Euro
Der Wechselkursmechanismus (WKM II) wurde am 1. Januar
1999 eingeführt, um sicherzustellen, dass die Wechselkursbewegungen zwischen dem Euro und anderen EU-Währungen die wirtschaftliche Stabilität innerhalb des gemeinsamen Marktes der Europäischen Union nicht stören, und
um Nicht-EWU-Mitgliedsländern dabei zu helfen, sich auf
den Beitritt zum Euroraum vorzubereiten. Das Konvergenzkriterium der Wechselkursstabilität setzt eine Teilnahme am
WKM II von mindestens zwei Jahren voraus. Derzeit nehmen Lettland, Litauen und Dänemark seit über zwei Jahren
am WKM II teil, aber nur Dänemark erfüllt die MaastrichtKriterien.
Eine langsamere Expansion nach Osten
Wechselkursabwertung. Da sie diese harten Sparmassnahmen unter anderem mit den Plänen zur Einführung des
Euro rechtfertigten, würden die Regierungen dieser Länder
höchstwahrscheinlich einen hohen politischen Preis zahlen,
wenn sie ihre Euro-Ambitionen in einem derart späten
Stadium aufgeben würden. Daher sind wir der Ansicht,
dass der politische Wille zum Beitritt zur Eurozone in diesen Ländern grösser ist als in Ländern mit einem flexiblen
Wechselkursregime. Da es sich darüber hinaus um relativ
kleine Länder handelt, könnten die gegenwärtigen Mitgliedsländer eher bereit sein, diese trotz ihrer schwächeren
Fundamentaldaten und ihrer relativ schlechten Erfolgsbilanz bei der Erzielung wirtschaftlicher Stabilität in die
EWU aufzunehmen (siehe Abb. 4.4 zur Euro-Akzeptanz in
diversen Ländern).
Fazit
Unserer Meinung nach wird Expansion nach Osten infolge
der Krise der Eurozone langsamer fortschreiten als bisher
angenommen. Die stärkeren Volkswirtschaften – die Tschechische Republik und Polen – könnten daher im Augenblick nicht allzu begierig sein, der Eurozone beizutreten, da
die wirtschaftlichen Anreize und der politische Wille geringer sein dürften als vor einigen Jahren. Ungarn und Rumänien könnten dagegen nach wie vor einen Beitritt wünschen, aber ihre Fundamentaldaten sind derzeit zu
schwach, um den Euro in der nächsten Zeit einzuführen.
Für einige Länder, die ihren Wechselkurs an den Euro
gebunden haben, wie Bulgarien, Lettland und Litauen,
scheint es dagegen kein Zurück mehr zu geben, weshalb
sie versuchen dürften, den Euro so bald wie möglich einzuführen. Ihre relativ geringe Grösse könnte dazu beitragen,
die Einführung des Euro zu beschleunigen.
Abb. 4.3: Wenig Aufwärtspotenzial für die
Tschechische Republik
Abb. 4.4: Euro-Akzeptanz in diversen Ländern
Zehnjährige Zinsen von Staatsanleihen, in Prozentpunkten
Haltung der europäischen Bürger gegenüber dem Euro, Oktober/November 2009, in %
Polen
14
Litauen
12
Lettland
Tschechische
Republik
Bulgarien
10
8
6
Estland
4
Ungarn
2
Rumänien
0
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Slowakei
Polen
Ungarn
Tschechische Republik
Quelle: Bloomberg, UBS WMR, per Juni 2010
0
Dafür
20
40
60
80
100
Weiss nicht
Dagegen
Quelle: Eurobarometer der EU-Kommission, UBS WMR
UBS research focus August 2010
27
Auswirkungen für Anlegerinnen und Anleger
Auswirkungen für Anlegerinnen und Anleger
Wir haben die gegenwärtige Situation und die Aussichten für
die EWU ausgiebig besprochen. Für Investoren lautet die wichtigste Frage jedoch: «Wie kann ich mein Portfolio schützen oder
von der Entwicklung der Situation profitieren?» Zunächst einmal
möchten wir betonen, dass die Szenarien, die wir besprochen
haben, nicht über Nacht eintreten werden. Die unmittelbaren
Auswirkungen für die Anleger sind daher gering. Wir raten nicht
zum Verkauf von Anlagen in Euro. Vielmehr sollten sich die
Anleger unserer Meinung nach auf qualitativ hochwertige EuroAnlagen und die Diversifikation ihres Portfolios konzentrieren.
Volkswirtschaftliche Perspektive
In den nächsten drei bis fünf Jahren dürfte das Wirtschaftswachstum in der EWU relativ verhalten bleiben. In Peripherieländern, die sich zu Sparmassnahmen und Lohnzurückhaltung verpflichtet haben oder dabei sind, zur Verbesserung ihrer Haushaltspositionen solche Programme einzuführen, sind die
Aussichten besonders düster. In diesen Ländern dürfte die Nachfragelage schwach bleiben. Deutschland und einige der anderen
finanziell stärkeren, exportorientierten Volkswirtschaften sollten
jedoch vergleichsweise gut abschneiden. Tatsächlich dürfte die
EZB die Zinsen noch für einige Zeit auf dem ausserordentlich
niedrigen Niveau halten, da sie befürchtet, eine Erholung in den
schwächeren Volkswirtschaften abzuwürgen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Inflation niedrig bleiben. Für Deutschland
könnten sich die Zinsen als zu niedrig erweisen. Das heisst, dass
das Wirtschaftswachstum sogar stärker angekurbelt werden
könnte als nötig und die Wachstumszahlen möglicherweise positiv überraschen.
Mittelfristig bleibt die Eurozone intakt
Trotz der jüngsten Schwierigkeiten dürfte die EWU auf Sicht von
drei bis fünf Jahren intakt bleiben. Das heisst, sie wird ihre gegenwärtigen Mitglieder behalten und möglicherweise sogar einige
neue Länder aufnehmen. Infolge der einheitlichen Zinspolitik und
der verschiedenen Rettungsbemühungen ist zu erwarten, dass
sich die Renditen auf europäische Staatsanleihen wieder bis zu
einem gewissen Grad angleichen. Da die Ungleichgewichte
jedoch weiter bestehen, könnte die Staatschuldenproblematik
wiederholt in den Vordergrund rücken. Bei den Staatsanleihen
vieler Peripherieländer ist es bereits zu massiven Verkaufswellen
gekommen. Trotz einer gewissen Entspannung der Lage – dank
diverser Rettungsmassnahmen – würden wir Anlegern nach wie
vor raten, sich von der zusätzlichen Rendite südeuropäischer
Staatsanleihen nicht verlocken zu lassen.
Der Euro selbst wird unserer Meinung nach volatil bleiben, da
die Märkte auf die verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Probleme in der EWU reagieren. Er könnte sich von seinem
Tiefpunkt gegenüber dem US-Dollar erholen, dürfte den US-Dollar als Reservewährung jedoch nicht in Frage stellen. Wir erwarten allerdings nicht, dass der Euro in den nächsten drei bis fünf
Jahren vor einem Zusammenbruch stehen wird.
Der Euro ist seit seinem Höhepunkt bereits drastisch gefallen,
und wir gehen davon aus, dass er gegenüber dem US-Dollar und
möglicherweise auch gegenüber einigen anderen Währungen
wieder etwas an Wert gewinnen wird, wenn die unmittelbare
Krise abflaut.
Im Hinblick auf die Aktienanlage bedeuten die Sparmassnahmen
in Südeuropa, dass insbesondere der Nicht-Basiskonsumgütersektor und Unternehmen, die hauptsächlich an den Inlands-
28
Die Zukunft des Euro
märkten dieser Länder aktiv sind, unter Druck geraten werden.
Im Gegensatz dazu sehen wir Wert- und Wachstumspotenzial
bei deutschen Exportunternehmen – insbesondere solchen, die
nach Asien exportieren. Deutsche Unternehmen sind wettbewerbsfähiger als ihre europäischen Konkurrenten, da die Lohnstückkosten in Deutschland nicht so stark gestiegen sind. Der
weitgehend günstige fundamentale wirtschaftliche Hintergrund,
attraktive Bewertungen und eine stabile Dividendenrendite (von
rund 3%) machen deutsche Aktien attraktiv. In ähnlicher Weise
werden Unternehmensanleihen von solchen Unternehmen in
einem Umfeld der gedämpften Inflation profitieren. Die Immobilienpreise in einigen Peripherieländern mögen zwar attraktiv
erscheinen – wir glauben jedoch, dass sich zu einem späteren
Zeitpunkt günstigere Einstiegspunkte ergeben werden.
Gewisse längerfristige Umgestaltung der Eurozone
Unserer Meinung nach wird sich die Eurozone im Laufe der Zeit
verändern müssen – einige Länder werden beitreten, aber
andere dürften gezwungen sein auszuscheiden. In erster Linie ist
daher die Portfoliodiversifikation von entscheidender Bedeutung, und der Grossteil der Positionen sollte unserer Meinung
nach auf Anlagen und qualitativ hochwertige Unternehmen in
den starken Kernländern entfallen. Über die Wahrscheinlichkeit
eines geordneten oder ungeordneten Austritts von Ländern
haben wir in den vorhergehenden Kapiteln gesprochen. Übergangszeiten sind generell verwirrend und gehen mit Phasen
erhöhter Risikoaversion einher in denen Anlagen, die als sichere
Häfen gelten, steigen. Daher würden wir mit einem Anstieg des
US-Dollar, des Schweizer Franken und des Goldpreises rechnen,
wenn ein Kern- oder Peripherieland aus der EWU ausscheidet.
Wie oben erläutert, gibt es ein nicht unbedeutendes Risiko, dass
Griechenland auf längere Sicht aus der EWU austritt. Darüber
hinaus besteht das Risiko eines Übergreifens auf ähnliche Peripherieländer und die Möglichkeit, dass der Euro zunehmend unter
Druck gerät. Eine Umgestaltung der Eurozone könnte jedoch ein
höheres Wirtschaftswachstum und eine grössere langfristige Stabilität zur Folge haben. Nach einer harten Übergangsphase könnte
die Lockerung der Sparmassnahmen dazu beitragen, den Konsum
und die allgemeine Wirtschaftsaktivität anzukurbeln. Ohne die
Zwangsjacke des Euro werden die Zinsen für europäische Staatsanleihen der verschiedenen Regionen voneinander abweichen und
Risiken werden effizienter bewertet. Langfristig wird der Euro die
wirtschaftliche Stärke der Union widerspiegeln. Wenn zum Beispiel
das bisher stärkste Mitgliedsland ausscheidet, würden wir mit
einem Absinken des durchschnittlichen Wechselkurses, dafür mit
mehr Stabilität rechnen. Auch wenn es widersinnig erscheinen
mag, dürfte die Union wirtschaftlich stabiler und stärker werden,
wenn ihr stärkstes oder ihr schwächstes Mitglied ausscheidet.
Zu Beginn dieses research focus zitierten wir Milton Friedman
mit dem Ausspruch, der Euro würde die erste grosse Wirtschaftsrezession in Europa nicht überstehen. Nimmt man die
Aussage wörtlich, dürfte sie sich unserer Meinung nach als
falsch herausstellen. Stattdessen hatte Jean Monnet, den wir zu
Beginn des zweiten Kapitels zitierten, vermutlich Recht, als er
sagte, dass in Krisenzeiten Lösungen gefunden werden können.
Die EWU hat sich in den letzten Monaten sicherlich als widerstandsfähig und kreativ erwiesen. Es gibt jedoch immer noch zu
viele Unbekannte und viele hypothetische Faktoren, die Politikern und Notenbankchefs Kopfzerbrechen bereiten. Aber eines
ist unserer Meinung nach sicher: Der Euro wird sich anpassen
müssen, wenn er überleben will.
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UBS research focus August 2010
29
Angaben zur Publikation
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Stand Januar 2010.
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Die Zukunft des Euro
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