2003-Heimweh - Die Schweizer Krankheit

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Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
2003
Heimweh - Die Schweizer Krankheit
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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2003
Margrit Wyder
Wyder Margrit: Kräuter, Kröpfe, Höhenkuren - die Alpen in der Medizin - die
Medizin in den Alpen / Texte aus zehn Jahrhunderten. Zürich 2003.
Heimweh - Die Schweizer Krankheit
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S. 135:
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S. 136: Im Jahre 1688 findet das Heimweh unter der wissenschaftlichen Bezeichnung
«Nostalgia» Eingang in die medizinische Literatur. Es soll Schweizer befallen,
die fern von ihrer Heimat leben müssen. Johannes Hofer beschreibt in seiner an
der Universität Basel erschienenen Dissertatio medica den Verlauf der
Krankheit, die tödlich enden kann, wenn man den davon Befallenen nicht
schnell in die Heimat zurückführt.
Hofer glaubte an die Wirkung einer «unrichtigen Einbildungskraft», die den
körperlichen Krankheitszustand auslöst. Die medizinischen Autoritäten des 18.
Jahrhunderts bemühten sich um eine eigene Erklärung des Heimwehs. Johann
Jacob Scheuchzer sah den Grund in der dicken Luft im Unterland, die den
Bergbewohnern die Adern zusammen presse und das Herz beschwere. Als
Auslöser vermutete man auch den Kuhreihen (Ranz des vaches), bei dessen
Anhören die Schweizer Söldner in Frankreich erkrankten oder desertierten.
Albrecht von Haller dagegen nahm einen Einfluss des «politischen Klimas» in
der Schweiz an: Es führe dazu, dass der junge Mann vor allem unter
Seinesgleichen aufwachse. Ungewohnte Menschen und Umgebungen würden
ihn dann eher krank und unglücklich machen als die Angehörigen anderer
Nationen.
Obwohl die Ärzte bald erkannten, dass das Heimweh nicht nur bei Schweizern
vorkommt, bleibt der Begriff noch lange mit den Alpenbewohnern verbunden
und nährt die romantischen Vorstellungen über die Schweiz.
S. 137:
Die Nostalgie wird entdeckt
§ 1. Das Heimweh, diese so oft tödtende Krankheit, ist bisher von den Aerzten,
gar noch nicht, so sehr sie es auch verdient, beschrieben, ich habe daher, nach
besten Kräften, einen Versuch gemacht, ihre Geschichte zu entwerfen.
§ 2. Der teutsche Nahme, zeigt den Schmerz an, den die Kranken deshalb
empfinden, weil sie sich nicht in ihrem Vaterlande befinden, oder es niemals
wieder zu sehen befürchten. Daher haben denn auch die Franzosen, wegen der
in Frankreich davon befallenen Schweizer, die Krankheit maladie du Pays
genannt: da sie keinen Namen im Latein hat, so habe ich sie nostalgia (von
nos{t}os, die Rükkehr ins Vaterland, und algos Schmerz oder Betrübniss)
benannt.
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§ 3. Das Heimweh, entsteht meiner Meinung nach, von einer unrichtigen
Einbildungskraft, indem der Nervensaft immer nur ein und eben denselben Weg
durch das Gehirn nimmt, und daher nur hauptsächlich, eine Idee, nemlich von
der Rückkehr ins Vaterland, erweckt, welche Idee zugleich mit verschiedenen
bald heftigern, bald gelindern Zufällen verbunden ist. Dass ich diese Krankheit
einer verdorbenen Einbildungskraft zuschreibe, wird jeder für richtig erkennen,
der die Zufälle genau beobachtet. Denn solche Leute werden von wenig äusern
Gegenständen gerührt, und nichts macht einen stärkeren Eindruck auf sie, als
das Verlangen der Rückkehr nach dem Vaterlande: denn da jene Seelenkraft im
natürlichen Zustande, von jedem Gegenstande gleich gut gerührt werden kann,
so muss sie vermindert worden seyn, wenn sie nur von wenigen erweckt wird,
und fast nur eine Idee heget. Ich will auch jedem gern recht geben, der hier
etwas Melancholisches voraussezt, weil die Lebensgeister, wegen der
beständigen Beschäftigung mit einer Idee, ermüdet, zum Theil erschöpft
worden, und deshalb unrichtige Vorstellungen hervorbringen.
§ 4. Nach festgesezten Wesen der Krankheit muss ich nun ihr Daseyn erweisen:
aber wodurch kann dies besser geschehen, als durch Beyspiele, deren man
genug von den Hauptleuten der, in Frankreich dienenden, Schweizer erfahren
kann. Kürzlich habe ich von einem jungen Berner gehört, der sich in Basel
Studierens halber aufhielt, und welcher, nach vorhergegangener Traurigkeit,
endlich ein beständiges schleichendes Fieber, grosse Herzensangst, und täglich
immer üblere Zufälle bekam, so dass seine nächsten Bekannten seinen nahen
Tod erwarteten, und für ihn in der Kirche bitten liessen. Endlich entdeckte ein
Apothecer, aus einigen Umständen das Heimweh, und rieht den Kranken, so
nahe er auch den Tod schien, in einer Sänfte nach Hause zu schicken. Da jener
dies hörte, und die Anstalten zur Befolgung dieses Rahtes bemerkte, so hohlte
der Halbtodte Kranke freyer Athem, und wurde ruhiger. Kaum war er einige
Meilen von Basel, da alle Zufälle schon sehr merklich nachliessen, und
S. 138/9: er war schon gesund, ehe er in Bern kam. Vor kurzer Zeit fiel eine Bäurinn aus
dem Bassler Bezirk, so heftig von einer Höhe, dass sie als todt ins Hospital
gebracht wurde, und einige Tage ohne Bewegung und Empfindung daselbst lag.
Da sie ihr Bewusstseyn wieder erhielt und bemerkte, dass sie unter alten
zänkischen Weibern lebte, wurde sie vom Heimweh befallen, und verwarf alle
Speisen und Arzneyen, so nöthig sie sie hatte, und seufzte nur beständig:
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Ein Soldat des Schweizer Regiments Jenner in Frankreich beim Exerzieren mit
dem Gewehr. Bei den meist aus wirtschaftlicher Not zum Dienst im Ausland
gezwungenen jungen Männern trat das Heimweh häufig auf.
Stich nach Hubert François Gravelot, 1766.
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Ich will heim, ich will heim, auch antwortete sie auf alle und jede Frage, nichts
anders als: ich will heim. Da sie endlich, so schwach sie auch war, von ihren
Eltern nach Haus genommen ward, wurde sie in wenig Tagen, fast ohne alle
Arzeney, wieder völlig besser.
§ 5. Die dieser Krankheit vorzüglich ausgesezten Personen, sind also in fremden
Landen lebende Jünglinge: besondres aber diejenigen unter ihnen, die zu Hause
sehr eingezogen leben, und fast gar keine Gesellschaft besuchen. Wenn nun
solche, obgleich übrigens gut erzogene Kinder, unter andere Nationen kommen,
so können sie sich an keine fremde Sitten und Lebensarten gewöhnen, noch der
mütterlichen Pflege vergessen: sie sind furchtsam, und ergötzen sich nur an den
süssen Gedanken vom Vaterlande, bis sie mit Widerwillen gegen das fremde
Land erfüllt, oder unter mancherley Unbequemlichkeiten leidend, Nacht und
Tag auf die Rückkehr ins Vaterland denken, und daran gehindert, erkranken.
Man hält diese Krankheiten den Schweizern, und besonders den Bernern für
eigen: allein dies zeigen obige Bemerkungen und andere Erfahrungen, als
unbegründet. Aber bey den andern Europäischen Nationen sind dergleichen
Anlagen anders modificirt, da Manche, durch ein blosses beständiges Denken
an den Tod, in gefährliche Krankheiten verfallen, oder sich wohl gar das Leben
dadurch verkürzen. Sollten aber die Schweizer, besonders diesem Urteil
unterworfen seyn, so weiss ich nicht, ob ich es dem Mangel der, zum Frühstück
gewöhnlichen Suppen, oder der schönen Milch, oder der Sehnsucht nach der
vaterländischen Freyheit zuschreiben soll.
§ 6. Der leidende Theil ist die, besonders in Bewegung gesezte,
Einbildungskraft, und vorzüglich derjenige Theil des Gehirns, in welchem die
Bilder jener Gegenstände vorhanden sind.
§ 7. Die nächste Urs ach scheint die beständige Bewegung des Nervensafts in
denjenigen Gehirnfasern, in welchen die Eindrücke vom Vaterlande aufbewahrt
sind. Diese Eindrücke werden von dem öftern Andenken an dasselbe so tief,
dass die Lebensgeister sich alsdenn von selbst dahin begeben, und sie also der
Seele beständig vorstellen, so wie die Dinge, welche einen tiefen Eindruck auf
uns gemacht haben,
S. 140: im Traume uns wieder vorkommen. Denn die Lebensgeister, die sich ein mahl
einen Weg gebahnt, und ihn gleichsam etwas erweitert haben, finden, ihrer
Freyheit, wie im Schlafe, überlassen, denselben Weg leicht wieder.
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Ein gleiches geschieht, bey jedem tiefen Eindrucke wachend, daher die
Gleichgültigkeit gegen andere Gegenstände, und der schwache Eindruck von
ihnen, so wie der Mensch, in ein tiefes Nachdenken versenkt, von äussern
Dingen nicht gestört wird.
§ 8. Zu den entfernten innern Ursachen, gehören jede gefährliche, oder nur
langwührige Krankheiten, in welchen diese Personen nicht gut behandelt, oder
nach Wunsche verpflegt werden: worauf sie, traurig, sich stets nach dem
Vaterlande und den Ihrigen sehnen. Die äussern entfernten Ursachen fliessen
aus der ganz veränderten Lage. Die veränderte Atmosphäre würkt nicht wenig
auf das Blut, und die Nervengeister: das mehrste thun aber die fremden Sitten,
Gewohnheiten, und ganz verschiedene Lebensarten, auch manche andere
Unbequemlichkeiten, vielleicht auch zugefügtes Unrecht, welches alles sie an
das bessere Vaterland zurück erinnert.
§ 9. Die bevorstehende Krankheit, kann man aus der natürlichen Anlage zur
Traurigkeit, dem Widerwillen gegen fremde Sitten, dem Eckel gegen
Gesellschaften, dem heftigen Unwillen über jeden Scherz, das geringste
Unrecht, oder die kleinste Unbequemlichkeit, aus einiger Neigung zum Geiz,
den beständigen Lobsprüchen auf ihr Vaterland, und Geringschätzung aller
andern Gegenden u. dgl. errahten: und wenn sie würklich Unrecht oder
Krankheit erleyden, und daher, tiefsinnig nach der vaterländischen Luft sich
sehnen so ist sie schon sehr nahe. Ihre würkliche Gegenwart entdeckt man an
der beständigen Traurigkeit, dem einzigen Gedanken vom Vaterlande, einem
unruhigen Schlafe, oder beständigem Wachen, Mattigkeit, Unempfindlichkeit
gegen Hunger und Durst, Beängstigung, Herzklopfen, öfterem Seufzen,
Dumlichkeit des Gemüths, das nur auf die Idee vom Vaterlande achtet, wozu
sich öfters beständige, und Wechselfieber gesellen, die ohne ihr befriedigtes
Verlangen, sehr hartnäckig sind.
§ 10. Die Zufälle der Krankheit, lassen sich alle leicht erklären, da die Seele nur
mit einer Idee beschäftigt ist, die Lebensgeister daher nur immer in einer und
derselben Bewegung sind, so sind sie bey allen andern Eindrücken träge. Aus
eben der Ursache, weil die Lebensgeister zu sehr im Gehirne beschäftiget sind,
fliessen sie nicht in gehöriger Menge und Stärke in die Nerven, um die
natürlichen Verrichtungen zu befördern. Daher mangelt die Esslust, oder die
Speisen werden, wegen des mangelnden Nervensaftes, nicht gehörig verdauet
und geben schlechten Milchsaft, aus welchem denn wieder nur wenig
Nervensaft erfolgen kann.
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Dieser wenige Nervensaft wird durch den beständigen Tiefsinn der Seele
erschöpft, daher werden die natürlichen und Muskelbewegungen matt, der
Umlauf des Bluts wird langsam, es wird dick, zu Stockungen geneigt, und
erzeugt, durch die langsame Bewegung des Herzens, und
S. 141:
Das Ziel der Sehnsucht: die Heimat. Abendliche Hirtenszene von Franz Hegi,
nach Gabriel Loty. Titelkupfer der Sammlung von Schweizer-Kühreihen und
Volksliedern von Johann Rudolf Wyss d.J., die 1818 in Bern erschienen ist.
schwache Ausdehnung der Gefässe, Beängstigung: auch erweckt es
schleichende Fieber, und Verstopfungen der Glandeln [Drüsen]. Endlich, nach
erschöpften Lebensgeistern, und der Schwächung aller Verrichtungen,
beschleunigt diese Sehnsucht den Tod. Dass die blosse Einbildung dergleichen
bewirken könne, bezeugt die Erfahrung, und die vielen gesammleten
Beobachtungen des Heinr. v. Heers.
§ 11. Dies Uebel ist heilbar, wenn die Sehnsucht befriedigt wird, unheilbar,
tödlich, wenigstens sehr gefährlich, wenn die Umstände es hindern. Andere
hinzukommende Zufälle, vermehren oft die Gefahr, besonders wenn ein
beständiges, hitziges, oder bösartiges Fieber vorhanden ist. Wenn der Kranke
nicht reisen will, ist das Uebel langwürig, und schwer zu heben.
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S. 142: § 12. Die Anzeigen zur Cur sind: die unordentliche Einbildungskraft zu
verbessern, und die Zufälle zu mildern. Wenn die Krankheit noch nicht alt, die
Kräfte nicht erschöpft, kein Fieber, u. dgl. vorhanden ist, gebe man ein
Laxiermittel, unter irgend einer beliebigen Form. Bey vorhandenem Eckel, oder
deutlichen Zeichen eines zähen Schleims im Magen, verordne man ein
Brechmittel, darauf lasse man, bey vorhandener Vollblütigkeit zur Ader. Gegen die Schwäche, brauche man eine Herzstärkende Mixtur, mit der
Alkermes- und Catechuconsection. Im Fieber, gebe man fixe
Schweisstreibende, mit Herzstärkenden verbundene, Mittel, auch flüchtige
Sachen, wenn das Blut sehr dick, und Beängstigung und Herzklopfen, da ist.
Die beständigen Unruhen und Nachtwachen, hebe man durch schlafmachende
Emulsionen, äusserlich durch balsamische Mittel, mit Bilsenkraut, und
Mohnsaft versezt, welches man in die Schläfe und den Wirbel einreibt. Ein
Wechselfieber hebe man, durch die ihm entgegengesezten Mittel. - Unterdessen
muss man Hofnung zur Rückkehr ins Vaterland machen, so bald es nur die sich
wieder einfindenden Kräfte einigermassen erlaubten, und ihm öftere
Gesellschaft verschaffen, damit die alte Idee dadurch geschwächt werde. Wenn
jedoch, nach diesen, und mehrern ähnlichen zugleich gebrauchten Mitteln, die
Sehnsucht nicht vermindert wird, so muss der Kranke, auf die eine, oder andere
bequeme Art, so schwach er immer auch ist, nach dem Vaterlande geschickt
werden. Nach vielfältiger Erfahrung, sind Alle, entweder schon auf der Reise,
oder gleich nach der Rückkunft wieder besser geworden. Dahergegen die
Mehresten, die diese Reise nicht antreten konnten, nach immer mehr
erschöpften Kräften, endlich gestorben, oder in Wahnwitz, selbst in Tollheit
verfallen sind. Neulich erzählte mir noch ein Pariser Kaufmann, dass einer
seiner Bedienten, von dem Heimweh befallen worden sey und ihn inständigst
um seinen Abschied, den er nicht zu erhalten hofte, gebeten habe. Da ihm der
Kaufmann denselben sogleich ertheilte, so änderte diese plötzliche Freude ihn
so sehr, dass er, nach einigen Tagen von jener Vorstellung sich los machte, und
hernach, ohne jemals einen Rückfall zu haben, in Paris verblieb.
Johannes Hofer: Dissertatio medica (1688, übersetzt 1779)
Dr. Scheuchzers Replik und Erklärung der Krankheit
Der gelehrte Verfasser diser jezt angezogenen Schrift leget die ganze Schuld
diser Krankheit auf eine verworrene Einbildung / welche veranlaset werden
könne durch verschiedene ursachen / als da sind / stetes andenken nacher Hauss,
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eine zarte und forchtsame auferzeuhung / bey welcher den Kindern nicht erlaubt
werde mit Fremden vil umzugehen / oder zureden, eine allzugrosse Liebkosung
der Elteren / sonderlich Müteren / gegen ihre Kinder / welche leicht zeugen
können dise Mutersucht, eine allzu grosse Gewohnheit an unsere Milchspeisen
(welche sonderlich platz findet bey denen An- und Einwohneren der hohen
Alpen) und Müser / ins besonder deren /
S. 143: die man alle morgen den Kinderen einzuschütten / und oft einzuzwingen pflegt,
frömde Speisen / frömde Sitten / allerhand vorkommende ungemach, frömder
Luft, oder was dergleichen mehr seyn kann. Ich meines Orts wil mich bey disem
allem nit aufhalten / sondern meine Gedanken dahin richten / wie es komme /
dass die Schweizerische sonsten so freye / starke / und dapfere Nation sich
überwinden und unterjochen lasse von einer solchen Krankheit / welche dem
ersten ansehen nach sollte eher unter ihre Herrschaft bringen die Italiener /
Franzosen / und andere Völker / denen allen alle oben erzehlte ursachen können
zufallen / und noch über diss nicht wenig zum Heimwehe beytragen eine weiche
zärtlichkeit des Leibs? Ich hoffe disere zum heil des Vatterlands dienende sach
also zu erklären / das dadurch die Ehre unserer Nation gerettet / und
verhoffentlich ein natürlicher Wäg gebahnet werde zur heilung dergleichen
Patienten. Wir Schweizer bewohnen / wie oben erwiesen / den obersten Gipfel
von Europa / athmen desswegen in uns eine reine / dünne / subtile Luft / welche
wir auch selbs in uns essen und trinken / durch unsere Land-Speisen und
Getränke / welche eben denselben Luft enthalten, gewehnen unsere Leiber also /
sonderlich / wann wir bergichte hohe Orte innhaben / das sie nicht stark getrukt
werden / und bey gleich starker gegendtrukung der inneren / in unseren äderlein
sich aufhaltenden Luft / der Kreisslauff des Geblüts / und Einfluss der Geisteren
ohne hinderung / zu der Menschen Gesundheit ihren ordenlichen fortgang
haben. Kommen wir in andere / fremde / nidrige Länder / so stehet ob uns ein
höhere Luft / welche ihrer schwerere Trukkraft auf unsere Leiber um so vil
leichter aussübet / weilen die innere Luft / welche wir mit uns gebracht / wegen
ihrer grösseren dünnung nicht genug widerstehen kan, wie zum exempel eines
Holländers schwerere / inwendige Luft mit gleichen Kräften entgegen stehet der
ausseren auch schweren und dicken / Dunst- und Luftkugel. Ist deme also / so
bewundere sich niemand / wann ein Holländische / oder Französische Luft
unsere Hautzäserlein / äusserste Blut= und Spannäderlein so zusamen trucket /
dass der Lauff des Geblüts / und Geisteren gehemmet / jenes gegen das Herz /
dise aber gegen das Hirn zuruk gehalten / oder getriben werden / also der
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Kreisslauff aller Säften nicht zwar föllig still zustehen / wol aber gemächer zu
gehen / veranlaset wird. Wer ein solches leidet / und nicht genugsame Kräfte hat
/ solchem gewalt zu widerstehen / der spüret ein bangigkeit des Herzens / gehet
traurig einher / zeiget in seinen Worten und Werken an ein grosses verlangen
nach dem Vatterland, schlaffet wenig / und unrühig / seufzet oft bey sich selbs /
nimmet ab an kräften, verrichtet seine Sachen ohne Lust / und ordnung / muss
sich endlich legen an einem hitzigen / oder kalten Fieber / und stirbet
mehrmalen dahin / wann man ihme nicht hoffnung macht / nacher Hauss
zukommen oder auch wirklich auf die heimreise beförderet.
Johann Jacob Scheuchzer:
Beschreibung der Naturgeschichten des Schweizerlands (1706/07)
S. 144:
Rosseau zur Wirkung des «Ranz des Vaches»
Ich habe auf der Tafel den berühmten «Ranz des Vaches» beigefügt, diese
Weise, die den Schweizer Söldnern so lieb war, dass es in ihren Truppen bei
Todesstrafe verboten war, sie zu spielen. Denn sie liess diejenigen, die sie
hörten, in Tränen ausbrechen, desertieren oder sterben, so sehr erregte sie bei
ihnen den dringenden Wunsch, ihre Heimat wiederzusehen. Man würde
vergeblich in dieser Melodie die energischen Akzente suchen, die so
erstaunliche Wirkungen hervorbringen können.
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Diese Wirkungen, die bei den Fremden überhaupt nicht stattfinden, kommen
nur aus der Gewohnheit, aus den Erinnerungen an tausend Gelegenheiten, die,
vergegenwärtigt durch diese Weise bei denen, die sie hören - und sie erinnernd
an ihr Land, ihre früheren Freuden, ihre Jugend und ihr Lebensart -, einen
bittern Schmerz auslösen, dass sie all dies verloren haben. Die Musik wirkt also
genau genommen nicht als Musik, sondern als Erinnerungszeichen. Diese
Melodie, obwohl sie immer noch dieselbe ist, bringt heure nicht mehr die
gleichen Effekte hervor, die sie einst auf die Schweizer ausübte, denn da sie das
Gefühl für ihre frühere Einfachheit verloren haben, beklagen sie diese nicht
mehr, wenn man sie daran erinnert.
Jean- Jacques Rousseau: Dictionnaire de musique (1768)
S. 145:
Abschied des Schweizer Soldaten, dargestellt vom Berner Maler Sigmund
Freudenberger. Die Szene aus dem Jahr 1780 spiegelt in romantisierter Form
die Notlage der armen Bergbevölkerung, die an Geburtenüberschuss litt.
Haller gesellschaftspolitische Erklärung
Das Übel wird heftig, ja tödlich, wenn die Hoffnung auf Heimkehr
entschwindet. Von Soldaten ist bekannt, dass sie noch am selben Tag starben,
an dem ihr Urlaubsgesuch abgelehnt wurde.
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Die Luft hat hierauf keinen Einfluss, deshalb geht es darum, die Ursache zu
entdecken, die vorzüglich gewisse Völker angreift, und die Schweizer
merklicher als die anderen Nationen. Ich glaube einen Teil dieser Ursache in der
politischen Einrichtung der Schweiz bemerkt zu haben. Hierher kommen
wenige Fremde, und kaum einer kann sich hier niederlassen, denn das Recht
dazu ist gebunden an Geburt und Verwandtschaft. Mehr als jede andere Nation
sind die Schweizer zurückhaltend mit ihrem Bürgerrecht. [ ... ] Man heiratet
kaum Auswärtige, und die Familien desselben Ortes verheiraten sich
untereinander beinahe ohne Mischung mit Fremden. Ein Schweizer ist deshalb
von Kindheit an gewöhnt,
S. 146: mit Bekannten zusammen zu leben, mit seiner Familie, mit anderen Familien,
die im Allgemeinen mit der seinen verwandtschaftlich verbunden sind, er ist
gewöhnt, nur Brüder, Cousins, Freunde um sich zu sehen, vereinigt durch
dasselbe Blut und durch die Vertrautheit, die zwischen ihnen entsteht. Unter
Fremden findet er diese Verwandten, diese Jugendfreunde nicht mehr, er erfährt
nicht diese Zuneigung, die aus gemeinsamer Herkunft und langjähriger
Gewohnheit entsteht. Er glaubt sich allein, verirrt, verloren, die Erde ist ihm
eine Wüste.
Albrecht von Haller: Nostalgie, maladie du pays (1777)
….doch das Heimweh trifft nicht nur Schweizer
Eine Traurigkeit aus der vergeblichen Begierde seine Leute wieder zu sehen,
zeugt eine Krankheit die man das Heimweh nennt, und die zuweilen nach einer
kurzen Schwermuth, einem Zittern in den Gliedern und andern nicht sehr
drohenden Uebeln dem Tode überliefert, doch mehrentheils langsam abzehrt.
Die Schweizer sind aus einer überhaupt gegründeten Ueberzeugung von den
Vortheilen ihres Vaterlandes gewohnt diese Melancolie sich allein zuzueignen,
da doch andere Völker so viel Recht dazu haben. Barrere sah das Heimweh in
verschiedenen gezwungenen oder sonst an ihrem Abschied gehinderten
Soldaten aus Burgund. Der sinnreiche Arzt des Spanischen Hospitals in Wien
Herr Auenbrucker hat das Heimweh unter Jünglingen bemerket, die zu der
Oesterreichischen Armee mit Gewalt weggenommen alle Hofnung verloren
hatten ihr erwünschtes Vaterland wieder zu sehen, und daher traurig, still, matt,
einsam, nachdenkend, seufzend, wehklagend, zuletzt unempfindlich und für alle
Pflichten gefühllos wurden. Herr Auenbrucker sagt, dieses unter den
Oesterreichern vor einigen Jahren ziemlich gemeine Uebel sey izt seit einer
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neulichen Anordnung sehr selten, vermöge welcher bey den Oesterreichern die
Soldaten nur auf eine gewisse Zeit gedungen werden, und nach derselben
Verlauf ihren Abscheid erhalten. Schottländische Officiere und Aerzte von
grosser Einsicht haben mir versichert das Heimweh sey bei ihren Landsleuten
gar nicht ungewohnt, und mir deucht es sey allen Menschen gemein die in der
Fremde nicht so angenehm und so glüklich sind als zu Hause. [ ... ] Jeder
Schweizer fühlt endlich wie ich, das Heimweh unter einem andern Namen
mitten auf dem Feuerheerd seiner Hausgötter, wenn er glaubt er lebte
vergnügter in einer andern Stadt oder in einem andern Lande.
Johann Georg Zimmermann: von der Erfahrung in der Arzneykunst (1764)
Was erwartet uns im Heimatland?
Ja lieber guter Vater! - beantworten will ich diese Frage: aber wer kan den
Ocean aller Seelengefühle aus dem Dintenfass tauchen, und mit einfachen
Zügen aufs Papier malen? das weiss der Heimwehkranke Schweizer am besten:
S. 147: Alle Berge sind ihm zu klein, zu sanft, und zu glatt; die steilen schrofen
Hörnertragenden Wolkenstützen felen ihm. Ihm wirds weh am sanft hin
gleitenden Bach, er wünscht Fluthe zu sehn, die vom Himmel herab in den
Abgrund brüllen. Er sizt gern unten im Dunkel, wenn das ewige Eiss in den
Wolken im Abendglanze in königlichen Purpur gehüllt ist, und das findet er nur
zu Hause. Sieht er die braunen Kühe des Abends den Berg herab, nach dem
Strohdach in der ländlichen Baumgruppe nicken, und den Schatten den Berg
hinan schleichen, so wirds ihm wohl, wie dem auszehrenden Christen der seine
baldige Auflösung ahnet: - denn das ist eine Heimathsscene.
Lieber Vater! ein jedes Wesen sehnt sich dahin, wohin es passt.
Johann Heinrich Jung-Stilling: Das Heimweh (1794)
Ein Schlimmes Ende
Zu Strassburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauren an,
Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland musst ich hinüber schwimmen,
Das ging nicht an.
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Ein Stunde in der Nacht,
Sie haben mich gebracht:
Sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus,
Ach Gott, sie fischten mich im Strome auf,
Mit mir ists aus.
Früh Morgens um zehn Uhr
Stellt man mich vor das Regiment;
Ich soll da bitten um Pardon,
Und ich bekomm doch meinen Lohn,
Das weiss ich schon.
Ihr Brüder allzumahl,
Heut seht ihr mich zum letztenmahl;
Der Hirtenbub ist doch nur Schuld daran,
Das Alphorn hat mir solches angethan,
Das klag ich an.
Ihr Brüder alle drey, Was ich euch bitt, erschiesst mich gleich;
Verschont mein junges Leben nicht,
Schiesst zu, dass das Blut 'raus spritzt,
Das bitt ich Euch.
S. 148: O Himmelskönig Herr!
Nimm du meine arme Seele dahin,
Nimm sie zu dir in den Himmel ein,
Lass sie ewig bey dir seyn,
Und vergiss nicht mein.
Clemens Brentano: Der Schweizer (1806)
Kleine Anmerkung zum
zum Wilhelm Tell
Meinem ersten Anblick nach ist alles so recht und darauf kommt es denn wohl
bey Arbeiten, die auf gewisse Effecte berechnet sind, hauptsächlich an. [ ...
Jedoch] bemerke ich so viel: der Schweizer fühlt nicht das Heimwehe, weil er
an einem andern Orte den Kuhreigen hört, denn der wird, so viel ich weiss,
sonst nirgends geblasen, sondern eben weil er ihn nicht hört, weil seinem Ohr
ein Jugendbedürfniss mangelt. Doch will ich diess nicht für ganz gewiss geben.
Johann Wolfgang Goethe: Brief an Friedrich Schiller (1804)
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Das Ende vom Lied war oft der Tod auf dem Schlachtfeld - oder durch Exekution
wegen Fahnenflucht. Drei Soldaten von Schweizer Regimentern in Frankreich in
Schussbereitschaft. Stich nach Hubert Francois Gravelot, 1770.
Wir danken der Verfasserin bestens für die freundliche Wiedergabebewilligung.
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 03/2009
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