Susanne Buckesfeld M.A. Einführungsrede: En passant - Figur und Raum in der Malerei von Ruth Bussmann und Jan de Vliegher In der Gegenüberstellung der Gemälde von Ruth Bussmann und Jan de Vliegher wird die unterschiedliche Behandlung eines gemeinsamen Themas deutlich – die Beschäftigung mit der Figur im Raum. Beide Künstler – sowohl Bussmann als auch de Vliegher – interessiert die Art und Weise, wie sich Menschen im Raum bewegen, wie sie den Raum für sich nutzen und nutzbar machen. Genauer gesagt beobachten beide, wie sich Menschen draußen, im öffentlichen Raum verhalten. Es geht ihnen dabei weniger um die Schaffung von Räumen durch Architektur und Städtebau, vielmehr wird der Raum durch die Handlung der Menschen in seiner Funktion definiert. Hannah Ahrendt spricht beispielsweise von „Erscheinungsräumen“, die durch das Miteinander von Gruppen entstehen, und die viel flüchtiger und momentaner sind als die begrenzten Räume, die durch gebaute Strukturen erschaffen werden. Um solche offenen und flüchtigen sozialen Raumkonstellationen geht es sowohl Bussmann als auch de Vliegher in einem Großteil ihrer Gemälde, so dass neben dem Raum eine weitere Kategorie bedeutsam wird: es ist dies die Kategorie der Zeit. „En passant“ – im Vorübergehen – lautet daher der Titel dieser Ausstellung, womit das wesentliche Verhältnis zwischen Raum und Zeit in den Blick kommt und auch, auf welche Weise es sich jeweils in der menschlichen Figur manifestiert. Der Raum entsteht gewissermaßen erst in der Zeit, in der Bewegung der Figur durch den Raum. Es sind Passanten oder Flaneure, die den Raum in der Bewegung vermessen und dabei je anderen Motiven nachgehen. Im Unterschied zum Flaneur hat der Passant ein Ziel vor Augen, dem er sich nähert – dem Flaneur wird dagegen das genussvolle Wandeln durch den Raum nachgesagt, er lässt sich treiben, wendet sich mal hier, mal dorthin, um zu sehen und gesehen zu werden, wobei er in der Fortbewegung buchstäblich mehr oder weniger tiefsinnige Gedankengänge entwickelt. Während in der Malerei von Ruth Bussmann Passanten zu sehen sind, scheint de Vliegher sich eher dem Flaneur zu widmen. Damit kommt auch jeweils ein anderes Verständnis von Zeit ins Bild. Die Figuren in der Malerei Ruth Bussmanns sind unterwegs – sie haben uns den Rücken gekehrt und scheinen in die Tiefe des Bildraumes vordringen zu wollen. Offensichtlich haben sie ein Ziel vor Augen, das sie anvisieren, auch wenn es uns, den Betrachtern, unbekannt bleibt. Dabei verharren die gezeigten Menschengruppen inmitten ihrer Bewegung und scheinen in einem Moment des Fortschreitens wie festgefroren, so dass sie gleichsam der Zeit enthoben sind. Es ist eine Schwellensituation, in der die Gruppen von Menschen oder auch die Einzelnen dauerhaft befangen sind, so dass in meinen Augen eine Art permanenter Sehnsuchtsraum entsteht, denn keiner von ihnen erreicht tatsächlich sein Ziel. Zu dieser zeitlichen Entrücktheit trägt auch die Gestaltung des Raumes bei, durch den die Menschen schreiten – es ist ein vollkommen abstrakter, lediglich durch die Linie des Horizontes oder des Schattenwurfes angedeuteter Raum. Erst durch die Aktion der sich bewegenden Figuren wird die farbige Fläche überhaupt als Raum wahrnehmbar, erst da sich die Figuren miteinander, aufeinander zu oder voneinander weg bewegen, entsteht der Raum als soziale Größe. Denn Bussmann gibt uns keinerlei Hinweise auf den Ort, wo sich die Figuren befinden – ihr Schlendern, die Kleidung oder das Licht deuten zuweilen die Nähe eines Strandes an, in anderen Fällen erzählen Plastiktüte und gut gefüllter Rucksack vom alltäglichen Einkaufsgang, doch ist der Raum dabei keineswegs konkretisiert. So wird einerseits deutlich, dass es sich um Zeitgenossen handelt, die ihren gewohnten Gängen nachgehen, andererseits werden die Figuren dabei in einem fortwährenden Zustand der Unentscheidbarkeit gezeigt. Wir sehen, dass die Menschen in den Gemälden Ruth Bussmanns Passanten sind, die vorübergehen, doch die Bewegung kristallisiert sich in einem Moment von unendlicher Dauer. Ganz anders in der Malerei Jan de Vlieghers: hier sind Raum und Figur in einer dynamischflüchtigen Vergänglichkeit begriffen. In der Betrachtung seiner Malerei ist ein genau umgekehrtes Verhältnis zwischen Raum und Zeit gegeben: Nun ist es, als würden wir, die Betrachter, die urbanen Szenerien gleichsam im Vorübergehen, en passant, wahrnehmen. Alles scheint in lebhafte Bewegung versetzt, was durch den schnellen pastosen Duktus und die treffliche Farbchoreografie in den Gemälden bewirkt wird. Es begegnet uns das südliche Flair Venedigs, jener italienischen Stadt, die nicht nur in Kunst, Literatur und Film seit Jahrhunderten die Phantasie der Menschen anregt – heute handelt es sich bekanntlich um ein bevorzugtes Ziel zahlreicher Italienreisender. Wir bekommen also touristische Flaneure zu sehen, Menschen, die sorglos über Plätze und Märkte schlendern oder gemeinsam in Straßencafés pausieren. Anders als bei Bussmann sind die Menschen hier ihrer unmittelbaren Umgebung nicht enthoben, Figur und Raum bilden vielmehr eine Einheit in der Zeit: der sonnig beleuchtete Raum wird in den Gemälden de Vlieghers genauso flüchtig dargestellt wie die Masse der Touristen, die zum Sightseeing unterwegs sind. Alles scheint unmittelbar in Bewegung begriffen, wir erhaschen nur einen kurzen Augenblick, bevor sich im nächsten Moment alles in ganz anderen Konstellationen zeigen könnte. Ebenso flüchtige Blicke gewährt uns de Vlieger in solche Innenräume wie den eines Restaurants oder eines Konzertsaals, die trotz ihrer Dunkelheit von den hier und da weiß gesetzten Lichtreflexen ebenfalls in höchstem Maße belebt werden. So gibt die Malerei Jan de Vlieghers ein zeitgenössisches Bild jener Flaneure, die die Boulevards europäischer Großstädte in den Gemälden der Impressionisten oder etwa in den Romanen von Marcel Proust bevölkern. Der exzentrische Lebensstil der Flaneure ist heute in gewisser Weise demokratisch geworden und lässt sich offenbar beim Besuch so sehenswerter Städte wie Venedig von nahezu jedermann verwirklichen. Es ist ein unbeschwertes Flanieren, das dem Genuss der Schönheit des Raumes gilt und daher auf ganz andere Weise als in den Gemälden Bussmanns den alltäglichen Räumen und dem gewöhnlichen Gang der Zeit entrückt ist. In den Gemälden Jan de Vlieghers begegnet uns vielmehr ein positiv besetzter, heiterer Gegenraum, den die Urlauber in einer Stadt wie Venedig zu finden hoffen. Beiden Künstlern wird so der offen zugängliche Raum, den sie uns zeigen, zu einer mehr oder weniger fragwürdigen Kategorie. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett spricht sogar vom Verlust des öffentlichen Raumes, den er zunehmend in den Städten der USA beobachtet. Urbane Plätze sind nicht mehr in erster Linie Orte der politischen Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Repräsentation, sondern werden hauptsächlich nur noch deswegen durchmessen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Auf der anderen Seite existieren spezielle Topographien wie Venedig, die eigens wegen ihrer Sehenswürdigkeit besucht werden, um dort in aller Muße dem Vergnügen nachgehen zu können. Beide Künstler nun sind in ihren Gemälden auf der Suche nach dem verloren gegangenen Raum: Ruth Bussmann, indem sie uns das Befangensein der Menschen zwischen Woher und Wohin in der Uferlosigkeit des Farbraumes eindringlich vor Augen führt. Die Gemälde von Jan de Vliegher dagegen veranschaulichen unser Bedürfnis nach dem repräsentativen Raum, das in der flüchtigen Unbeschwertheit des Reisens Erfüllung findet. Beide Künstler geben so letztlich der Sehnsucht des Menschen Ausdruck, sich selbstbestimmt Raum zu schaffen.