Kapitel 1: Menschlichkeit – was wir darunter verstehen Im Alltag benutzen wir den Begriff Menschlichkeit, ohne viel darüber nachzudenken. »Das ist doch menschlich«, sagen wir, wenn uns jemand von einer Schwäche erzählt. Auch unsere eigenen kleinen Fehltritte bezeichnen wir gern als menschlich: »Menschlich, allzu Menschliches« – darunter fallen kleine, verständliche Sünden, wenn wir unsere Diät unterbrechen oder uns mit einer Notlüge aus einer verzwickten Lage mogeln. Sprechen wir davon, menschlich mit anderen umzugehen, ändert sich das Gewicht etwas. Dann verstehen wir darunter ein moralisch gutes Verhalten, eine Handlung, die anderen Menschen nützt, ihnen hilft und sie unterstützt. Moralisch gut handeln wir, wenn wir uns an den Werten orientieren, die unsere jeweilige Kultur als erstrebenswert definiert. In unserer westlichen Welt zählen dazu zum Beispiel Mitgefühl, Verständnis, Toleranz, Warmherzigkeit, Achtsamkeit, Respekt. Bei unseren Coachings, aber auch als Arbeitgeber und Privatpersonen haben wir uns immer wieder gefragt: Welche Werte sind uns so wichtig, dass wir unser Handeln an ihnen ausrichten wollen? Was verstehen wir unter Menschlichkeit? Nicht nur bei besonderen Gelegenheiten und an Feiertagen, sondern im Alltag, im Umgang mit uns, mit unseren Familien, mit unseren Mitarbeitern, mit unseren Kunden. Welches soll unsere Leitlinie sein, wenn wir unter Druck geraten oder uns in einem Konflikt wiederfinden? Was uns Menschen von Tieren unterscheidet und uns im weitesten Sinne menschlich macht, ist die Fähigkeit, unser Verhalten über weite Strecken bewusst zu steuern. Wir sind Instinkten und Reflexen nicht hilflos ausgeliefert, sondern können uns entscheiden, wie wir uns gegenüber anderen und uns selbst verhalten. Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl (wir kommen später noch auf ihn zu sprechen) beschreibt dies so: »Zwischen Menschlichkeit – was wir darunter verstehen 19 Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.« Diesen Raum und diese Freiheit können wir nutzen, um nach selbst gewählten Werten und Prinzipien zu handeln. Je weniger Muster und Routinen unser Verhalten bestimmen, je bewusster wir diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion wahrnehmen, umso größer werden unsere Handlungsspielräume. Im Laufe der Jahre haben wir verschiedene Werte und Verhaltensweisen ausgemacht, die für uns die wesentlichen Bestandteile von Menschlichkeit sind. Es handelt sich dabei um: Vertrauen, Selbstvertrauen, Offenheit in der Kommunikation, Authentizität, Handeln zum Wohle aller, Respekt, (Selbst-)Verantwortung, Anerkennung, Tun (Handlungsorientierung), Lernen und Wachsen, Ehrlichkeit und als Basis all dessen der wertschätzende Umgang mit anderen und mit sich selbst. Im Folgenden werden wir diese Begriffe kurz umreißen und sie mit Leben füllen, um dann in den nächsten Kapiteln genauer darauf einzugehen, wie diese Aspekte von Menschlichkeit im beruflichen Alltag zum Tragen kommen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Wichtig ist uns vor allem, dass Menschlichkeit mit all ihren Facetten kein »auswendig gelerntes« Verhalten ist, sondern eine innere Haltung, die die Einstellung und den Umgang mit anderen prägt. Würde es uns nur um ein aufgepfropftes Verhalten gehen, bliebe alle Menschlichkeit äußerlich: Dann wäre dieser »menschliche« Umgang lediglich der Versuch, andere zu manipulieren, damit sie besser in unserem Sinne funktionieren. Das aber würde unserem Bekenntnis zur Ehrlichkeit widersprechen. Jegliche Manipulation lehnen wir strikt ab. Menschlichkeit ist für uns von Wertschätzung und Respekt geprägt. Mit dieser inneren Haltung treten wir anderen gegenüber. Wir unterscheiden dabei drei Ebenen: Menschlichkeit im Umgang mit uns selbst (Selbstbild und Rollenverständnis), im Umgang mit anderen – im Rahmen dieses Buches in erster Linie Mitarbeiter (Personalführung) –, und auf der Ebene des unternehmerischen Handelns (Unternehmensführung). Alle drei Ebenen werden in diesem Buch beleuchtet. 20 Menschlichkeit rechnet sich Die Elemente von Menschlichkeit Die zwölf Bestandteile von Menschlichkeit, die wir oben genannt haben, hängen für uns eng zusammen: Sie bedingen einander, sie überschneiden sich und sie definieren einander. Wie bei einem Puzzle ergeben erst alle Bestandteile gemeinsam das Gesamtbild »Menschlichkeit«. Alle Bausteine sind gleich wichtig. Sie im Alltag umzusetzen, an ihnen zu wachsen und sich weiterzuentwickeln – das wäre das Optimum. Ein Ziel, das wir vielleicht nie erreichen werden, denn auch Fehler und Schwächen sind menschlich. Aber auch sie gehören dazu: Strebten wir nach Perfektion, wagten wir vielleicht nie den ersten Schritt. Deshalb ist es uns wichtig, Fehler zuzulassen – und aus ihnen zu lernen. Wir alle sind mal barsch, ungerecht, eigensinnig – auch das ist menschlich. Es kommt darauf an, dass wir daran wachsen. Unsere zwölf Aspekte von Menschlichkeit haben wir in fünf Themenbereiche gebündelt: »Menschlichkeit anderen gegenüber« umfasst Wertschätzung, Anerkennung und Respekt; unter »Menschlichkeit und Kommunikation« fallen die Stichworte einfach und ehrlich, Authentizität sowie offene Kommunikation; der dritte Bereich »Innere Stärke« bezieht sich auf (Selbst-)Verantwortung, Vertrauen, Selbstvertrauen; »Entwicklung« umfasst: Lernen und Wachsen sowie Tun im Sinne einer Handlungsorientierung; und die Grundlage all dessen bildet der letzte Punkt: »Der nachhaltige Rahmen: Handeln zum Wohle aller«. Menschlichkeit anderen gegenüber Jeder Mensch ist einzigartig und hat seine ganz besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften. Indem wir ihm mit Wertschätzung und Respekt gegenübertreten, ihm Anerkennung zollen und ihn wahrnehmen, begegnen wir ihm auf Augenhöhe – und somit begegnen wir ihm tatsächlich. Wir heben uns nicht höher, wir unterwerfen uns nicht, sondern behandeln ihn oder sie wie unseresgleichen. Wir vergleichen uns auch nicht mit unserem Gegenüber, sondern lassen es, wie es ist. Vergleiche stellen oft eine Hierarchie her: Indem wir sagen, (m)ein Verhalten, (m)ein Handeln ist richtiger als ein anderes, verurteilen wir andere und erhöhen uns selbst. Wertschätzung, Respekt und Anerkennung beschreiben in diesem Sinne eine innere Haltung und etwas Aktives: Es bedeutet, dass wir unserem Menschlichkeit – was wir darunter verstehen 21 Gegenüber positiv und unvoreingenommen entgegengehen und für richtig und gut ansehen, wie sie oder er ist. Ganz schlicht gesagt: Wir gehen davon aus, dass unser Gegenüber ein guter Mensch ist. Vielleicht gibt es Eigenheiten oder Eigenschaften an ihm, mit denen wir nicht so gut zurechtkommen, aber das mindert nicht den Wert des Menschen an sich. Wertschätzung umschließt einen respektvollen Umgang mit diesem Menschen: Nämlich ihn so zu nehmen, wie er ist, ohne ihn manipulieren zu wollen. Wir bringen ihm Achtung entgegen und lassen ihm den Raum, den er benötigt. Wir erkennen ihn dadurch auch an: Wir spiegeln unserem Gegenüber, dass wir seine Person begrüßen, auch wenn sie andere Werte leiten als uns. Anerkennung zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir jemandem aktiv zuhören, ihn bestätigen, ihn bestärken. Auch Lob drückt natürlich unsere Anerkennung aus. Viele Führungskräfte loben ungern. Einige handeln gar nach dem Grundsatz: »Nicht geschimpft ist Lob genug.« Manche haben Angst, es wird ihnen als Schwäche ausgelegt und würde eine Minderung ihrer Autorität bedeuten. Andere fürchten, dass Mitarbeiter durch Lob übermütig und überheblich werden, weniger sorgfältig arbeiten und sofort eine Lohnerhöhung fordern. Doch das sind übertriebene Ängste. Mitarbeiter, die gelobt werden, fühlen sich und ihre Leistungen wahrgenommen und anerkannt. Sie sehen sich bestätigt und bestärkt. Das gibt Auftrieb, motiviert und steigert die Verbundenheit zum Unternehmen. Außerdem bringen sie dem Lobenden mehr Respekt entgegen, da sie seine innere Stärke bemerken: Wer andere lobt, ist in sich gefestigt. Unser Gegenüber wertzuschätzen, ihm mit Respekt zu begegnen und es anzuerkennen, das fließt alles zusammen darin, unser Gegenüber wahrzunehmen, und zwar als Person und nicht als Arbeitsressource. Es gibt Geschichten von Chefs, die einer Mitarbeiterin zufällig auf dem Flur begegnen und ganz jovial fragen, ob sie sich schon eingearbeitet hat – obwohl sie schon seit mehreren Jahren in dieser Firma angestellt ist. Wer so mit seinen Mitarbeitern umgeht, sie nicht sieht, nicht wahrnimmt, darf sich nicht wundern, wenn diese innerlich kündigen. Sicherlich ist Aufmerksamkeit zunächst eine Investition – doch ohne Investition kein Ertrag. Jeder Mensch möchte wahrgenommen werden, das gehört zu den ganz wesentlichen Wünschen eines jeden Individuums. Wer sich nicht gesehen fühlt, zieht sich zurück – das ist für keine Seite angenehm. In einem unserer Coachings sprach ein Manager über Probleme im Team. Um den Hintergründen auf die Spur zu kommen, baten wir ihn, willkürlich gewählte 22 Menschlichkeit rechnet sich Gegenstände so zu anzuordnen, dass sie die Teamsituation widerspiegelten, eine Aufstellung also. Zögerlich begann der Manager, nicht davon überzeugt, dass dies irgendetwas bringen würde – und am Ende stand ein Gegenstand etwas abseits von allen anderen. Auf die Nachfrage, wer das sei, antwortete der Mann: »Das ist eine Mitarbeiterin, die sich nicht richtig einbringt in das Team.« Und ganz unerwartet fiel ihm auf: »Oh, wir haben sie zu unserer letzten Teamveranstaltung überhaupt nicht eingeladen!« Diese Mitarbeiterin wurde nicht wahrgenommen, sondern regelrecht vergessen – daraufhin zog sie sich zurück. Mitunter kann es auch ganz einfach sein. Bei einer Firma, die wir berieten, wirkte eine Mitarbeiterin eine Weile lang gedrückt, als würde sie etwas innerlich beschäftigen und ausbremsen. Auf die Frage ihrer Vorgesetzten, wie es ihr gehe und ob sie ein Problem hätte, antwortete sie, nein, nein, alles okay. Und damit trat tatsächlich eine Änderung ein: In der Folgezeit wirkte sie wieder gelassener und gelöster. Manchmal reicht die einfache Frage: »Wie geht es dir?« Jemanden wertzuschätzen und respektvoll zu behandeln, an dem man alles positiv findet, ist recht einfach. Schwieriger wird es, wenn unser Gegenüber Verhaltensweisen oder Eigenschaften besitzt, mit denen wir nicht so gut zurechtkommen. Hier erst zeigt sich, ob wir andere tatsächlich als vollwertig und ebenbürtig anerkennen und auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren. Uns gelingt das auch nicht immer. Es gibt Menschen, die etwas in uns reizen. Das lässt sich nicht leugnen, es ist zunächst einmal so. Hilfreich ist für uns, uns immer wieder klarzumachen, dass jeder Mensch sein eigenes Potenzial in sich trägt – und dieses Potenzial ist es, was wir anerkennen können. Wir versuchen, diese Fähigkeiten nicht zu verändern oder zu beschneiden, sondern sagen uns: Mein Gegenüber ist genau so, wie es ist – und das ist gut so. Außerdem gibt es in unseren Kanzleien klare Regeln für den Umgang miteinander. Dies gilt zuallererst für uns als Chefs, denn schließlich kommt uns eine Vorbildfunktion zu. Deshalb reden wir zum Beispiel vor anderen über Abwesende ausschließlich so, wie wir auch in ihrer Anwesenheit über sie sprechen würden. Wir fallen niemandem in den Rücken. Dies zeigt den Mitarbeitern, dass sie uns vertrauen können, dass wir ehrlich sind und sie nicht hintergehen, verurteilen oder manipulieren. Wertschätzung, Respekt, Anerkennung und das Wahrnehmen anderer sind für uns keine leeren Worte, sondern sie bestimmen unsere Haltung anderen gegenüber. Menschlichkeit – was wir darunter verstehen 23