LSB(Sankt Augustin)

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LSB (Sankt Augustin)
47(2006)2, 147-150
Anke Abraham: Der Körper im biographischen Kontext. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie des Körpers. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002. ISBN
3-531-13829-4, 496 S., 32,90 €.
Der Körper und damit verbundene Praktiken, besonders die als fragwürdig eingestuften, wie Drogenmissbrauch, Ernährungsstörungen und Selbstverstümmelungen, Fitness- und Schlankheitskult, Tätowierungen, Piercings oder die
Schönheitschirurgie, haben seit Jahrzehnten Hochkonjunktur im öffentlichen
Diskurs. Auch in den Sozialwissenschaften und der Sportwissenschaft kann
diese Hinwendung zum Körper beobachtet werden, was sich in einer steigenden
Zahl von Publikationen zum Themenbereich Körper ausdrückt. Mit der Biographie verhält es sich ähnlich. Seit den 70er-Jahren rückt die Biographie immer
mehr ins Zentrum sozialwissenschaftlicher sowie populärer Diskussionen, was
sich u. a. in eigens eingerichteten Zentren für Biographieforschung bzw. an der
Überschwemmung des Büchermarktes mit (Auto-)Biographien zeigt. Jedoch
haben sich bislang wenige dem Versuch ausgesetzt, die beiden hochaktuellen
Themen Körper und Biographie zusammen zu führen.
Anke Abraham stellt sich in ihrer Habilitationsschrift diese Aufgabe. Genauer
gesagt, möchte sie die soziologische Körperforschung und die soziologische
Biographieforschung miteinander verbinden. Kein leichtes Unterfangen, wie sich
zeigen wird, da eben jener Körper uns zwar so vertraut aber doch so schwer
fassbar ist (Kap. 1.1). Gerade in der Sportwissenschaft, die es genuin mit Körperlichkeit zu tun hat, kann das Buch nützliche theoretische wie forschungsmethodische Einsichten zur Thematik bieten.
Anke Abraham strebt in ihrer Forschungsarbeit an, "die soziale Präsenz des
Körpers in einer bestimmten Kultur einzufangen und auch dies wiederum in einer spezifischen Weise: nämlich in Form jener mentalen sozialen Repräsentationen, die man auch als ’Alltagswissen’ bezeichnen könnte und über die alltagsweltlich handelnde Subjekte in dieser Kultur bezüglich des Körpers verfügen.“
(24) Um dies zu erfüllen, muss sie selber theoretische und methodologische
Vorarbeit leisten. So verfolgt sie in ihrem Buch mindestens drei Ziele: Sie versucht (a) den Körper und Körperlichkeit (wissens-)soziologisch zu verorten, (b)
anhand dessen ein theoretisch begründetes methodisches Instrumentarium für
die empirische Analyse des Phänomens ’Körper’ im biographischen Kontext zu
entwickeln und (c) empirische Daten mit Hilfe dieses Instrumentariums exemplarisch zu analysieren. Anhand der Auflistung der verschiedenartigen Anliegen
wird ersichtlich, dass die Autorin damit leicht zwei Monographien hätte füllen
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können. Sie wird ihrem hohen Anspruch auf den knapp 500 Seiten dennoch in
vollem Umfang gerecht. Sie stellt einerseits umfassendes theoretisches Wissen
in sehr gut strukturierter und verständlicher Form bereit. Andererseits zeigt sie,
wie ausführliche hermeneutische Auswertungen textnah und nachvollziehbar
entwickelt werden können.
Das Buch ist in zwei Teile untergliedert, dem Theorieteil folgt ein Empirieteil. Im
ersten Teil umreißt Anke Abraham die theoretischen Bezüge ihrer Forschungsarbeit. Ein Blick in die Kultur- und Sozialwissenschaften verrät der Autorin, dass
der Körper im soziologischen Diskurs noch keinen festen Platz erhalten hat.
Weder existiert eine ausgearbeitete „Soziologie des Körpers“ (25), anhand derer
man Forschungsfragen ableiten könnte, noch gibt es hinreichendes „methodologische[s] Werkzeug zur Erhebung und Auswertung aussagekräftiger Daten
zum Körper bzw. zur Körperlichkeit“ (27). Wie kann man also einen sprachlosen
Körper sprachlich-kognitiv erfassen, ohne permanent an einem Übersetzungsproblem zu scheitern? (Kap. 1) Ausgehend von diesen Fragen sucht die Autorin
beharrlich nach Erkenntnissen, die ihr bei der Erforschung des Körpers dienlich
sein könnten. Sie spannt den Bogen von den philosophischen Ansätzen Schütz’
und Plessners (Kap. 2) über die wissenssoziologischen Ansätze von Berger &
Luckmann und weiterführend Knorr-Cetina (Kap. 3) bis hin zu biographietheoretischen Ansätzen, besonders von Fischer & Kohli und Fischer-Rosenthal & Rosenthal (Kap. 4). Sie entwickelt schrittweise Kritik an den vorgestellten Positionen, wirft wichtige methodische Fragen auf und stellt weiterführende Überlegungen bezüglich ihrer eigenen empirischen Untersuchung an. Sie geht dabei
immer klar strukturiert vor. Dies hilft auch Leserinnen und Lesern, die wenig vertraut mit den hier vorgestellten Theoriepositionen sind, sich einzulesen und der
Argumentation zu folgen, ohne von den ’theoretischen Gedankengebäuden’ erschlagen zu werden. Dies regt zudem zum Weiterlesen der Originale an. Kapitel
5 steht im Zeichen der Verbindung von biographischem Wissen, autobiographischem Erinnern und Körperwissen. Ausgehend von der Qualität des Erinnerns
und der Hierarchisierung von Erinnerungen fragt sie, wie Körperwissen abgespeichert und erinnert wird und wie implizites, körpergebundenes Wissen mit
seinem nicht-textuellen Charakter dennoch sichtbar und reflektierbar gemacht
werden kann. Dazu überlegt sie im Kapitel 6 wie der Forscherkörper als Erkenntnisquelle in der sozialwissenschaftlichen Forschung genutzt werden könnte. Sie weist darauf hin, dass die „leiblich-affektive Wahrnehmung als ein ’anderer’ Zugang zum Verstehen“ (184) ein besonderes Potential birgt, welches jedoch
kaum zur Kenntnis genommen wird. Die letzten beiden Kapitel des ersten Teils
enthalten gerade für Forscherinnen und Forscher, die sich mit qualitativen Befragungen beschäftigen, reichhaltige Inspirationen.
Im zweiten Teil stellt Anke Abraham ihr methodisches Vorgehen (Kapitel 1 & 2)
und empirische Ergebnisse (Kap. 3 & 4) ihrer Forschungsarbeit vor, also die
„Erhebung und Interpretation jener subjektiven Wissensformen, die Menschen in
’unserer’ Gesellschaft bezüglich des biographischen Aufbaus ihres Lebens und
bezüglich ihrer eigenen sowie der Körperlichkeit entwickeln“ (205). Die Autorin
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nimmt mit Bezug auf die sozialwissenschaftliche Hermeneutik und ihr zugeordnete Verfahren, wie objektive Hermeneutik, narrative biographische Analyse und
Deutungsmusteranalyse, die methodologische und methodische Verortung ihrer
empirischen Forschungsarbeit vor. Die Datengrundlage bilden narrativ biographisch erhobene Interviews mit zehn Männern und acht Frauen der Jahrgänge
1905 bis 1935. Diese Interviews wertet die Autorin durch ein „flexibles eigenes
Vorgehen“ (263) aus. Dazu entwickelt sie, basierend auf Verfahren der objektiven Hermeneutik und soziologischen Biographieforschung, ein mehrschrittiges
Analysemodell. Sie strukturiert die Fälle grob nach Lebensläufen und thematischen Gewichtungen (Bildung/Beruf, Beziehung, Körper, Gefühl). Dann erfolgt
die möglichst kontrastreiche Fallauswahl. Anschließend werden die Eingangssequenzen der ausgewählten Fälle sequenzanalytisch interpretiert, der gesamte
Text narrationsanalytisch ausgewertet und einzelne Textpassagen wiederum
sequenzanalytisch interpretiert. Die folgenden mehr als 200 Seiten des Buches
widmen sich den so entstandenen Auswertungen des empirischen Materials.
Anke Abraham stellt anhand von fünf ausführlichen Einzelfallanalysen „Lebensgeschichten und Körpergeschichten“ (268) vor, die „als ’prototypisch’ im Hinblick
auf geschlechtsspezifische Umgangsweisen mit dem Körper gelten können […]
und weil bei ihnen der Körper in einer besonderen Weise thematisch wird“
(268). Jeder Fall stellt einen anderen Bezug von Körper/Körperlichkeit und Lebensgeschichte dar. Die Autorin zeigt, dass es möglich ist, Einzelfallanalysen
auf unterschiedliche Weise zu präsentieren. Dies hat weder Informationsverlust
zur Folge, noch leidet die Nachvollziehbarkeit der Interpretationen oder die Vergleichbarkeit der thematischen Fokussierungen darunter. Herr D. verfügt über
einen relativ eindimensionalen, auf Leistung fixierten Zugang zu seinem Leben
und auch zu seinem Körper, was zum Problem wird, als ein massives Herzleiden auftritt. Frau C. hat ein einerseits ambivalentes Verhältnis zu ihrem Körper,
da sie ihn als Quelle des Leidens, aber zugleich als Bereitsteller von Kraft und
Energie für die Überwindung dieser Leiden erlebt. Andererseits ist er für sie
wichtiger Bezugspunkt ihrer Identität. Frau F. „trägt“ ihren Körper als Panzer
nach innen und außen. Herr H. zerstört seinen Körper und benutzt ihn, um seine
Sehnsucht nach „Infantilität“ (376) zu erfüllen. Frau E. erlebt ihren „’unweiblichen’ Körper“ (383) als Ursache für Zurücksetzung und Verunsicherung, aber
auch als Quelle ihres Selbstbewusstseins. Alle fünf Falldarstellungen ermöglichen einerseits, in die jeweiligen Lebensgeschichten einzutauchen und andererseits dem Analyseprozess der Autorin Schritt für Schritt zu folgen und kritisch
nachzuvollziehen.
In Kapitel 4 verlässt Anke Abraham die Ebene des Einzelfalls und geht zu fallübergreifenden Analysen über. Diese verortet sie in der Konzeption des Wissens in der alltäglichen Lebenswelt von Alfred Schütz, da sich die „Frage nach
körperbezogenen Diskursen und Deutungsmustern [...] stimmig in diese Konzeption einfügen“ (420) lässt. So bieten Schütz’ Differenzierungen des Wissensvorrates etwa Anregungen zur Strukturierung des körperbezogenen Wissens
(422), welches die Autorin im Folgenden als körperbezogene Diskurse und Deu149
tungsmuster anhand des empirischen Materials herausarbeitet. Ergebnisse ihrer
Interpretationsarbeit sind zum Beispiel, dass der Körper als Gegenstand betrachtet oder auch personifiziert und beseelt wird, dass er als Werkzeug und auf
sein Funktionieren hin wahrgenommen wird, dass er Irritationen auslöst, dass er
kontextualisiert werden muss, um zur Sprache zu kommen oder dass er mit sozialen Kontexten oder Feldern, wie z. B. Sexualität, Krankheit/Gesundheit/körperliche Leistungsfähigkeit, sportiver oder ästhetischer Bewegung verankert ist
(471). Anke Abraham zeigt in ihren Analysen, wie eng der Körper mit sozialen
Deutungen, Erwartungen und Setzungen verbunden ist (479) und sie zeigt
gleichsam, wie man diesen ’auf die Spur’ kommen kann.
Nach der Lektüre des Buches bleibt der Eindruck auf allen Ebenen voll auf die
Kosten gekommen zu sein; angefangen von einem durchgängig sehr guten
Schreibstil und der überlegten Strukturierung, über die schlüssige Darstellung
des theoretischen Rahmens und der methodologischen und methodischen Implikationen bis hin zu den ausführlichen, gut nachvollziehbaren Interpretationen.
Offen bleibt, warum sich die Autorin in ihrem Überblick der „Erforschung des
Körpers in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ (Kapitel 1.2) vorwiegend auf
den deutschen Sprachraum bezieht und nicht stärker auf internationale Unter1
suchungen eingeht. Wichtige Impulse für die Erforschung des Körpers werden
dadurch übergangen.
Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive für das Phänomen Körper interessiert, da es eine gebündelte Darstellung einschlägiger Theorien und deren kritische Rezeption bietet. Die Arbeit
eignet sich des Weiteren für alle, die qualitativ empirisch forschen. Die Autorin
gibt wichtige Anregungen dafür, wie man sich Körperwissen/Körpererfahrung
nicht nur im biographischen Kontext methodisch nähern kann. Auch zeigt sie,
wie man den Forschungsprozess offen legen und somit nachvollziehbar und
plausibel halten kann. Dabei thematisiert sie erfrischend offen theoretische und
forschungsmethodische Probleme und bietet Lösungen dafür an, ohne deren
Grenzen zu verschweigen.
Katrin Albert (Leipzig)
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Einen Überblick zu internationalen Studien gibt z. B. Tanner in International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2001, S. 1279-1281.
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