Weisheit und Psychotherapie

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MS-Version. Erschien 2011 in: M. Wollschläger (Hrsg.). Weisheit und Psychotherapie.
Tübingen: dgvt-Verlag, S. 95 – 122
Ohne ein wenig Weisheit geht es nicht
Plädoyer gegen den Reduktionismus in der gegenwärtigen Wirksamkeitsideologie1
Jürgen Kriz
1. Die ärztliche Tradition der Komplementarität von medizinischem Wissen und
ärztlicher Heilkunst.
Soweit es um die körperlichen Beschwernisse des Menschen geht, wird professionelle Heilkunde – und erst Recht die nicht-professionellen, komplementären Alternativen – der Komplexität menschlicher Lebensprozesse hinreichend gerecht. Wie schon die unterschiedliche
Begrifflichkeit für die Ärzteschaft nahelegt, wird einerseits von „Medizinern“ gesprochen,
und damit vornehmlich auf Hersteller und Anwender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, methodisch-technischen Handwerkszeugs und der vielfältigen Hilfsmittel Bezug
genommen. Anderseits spricht man von „Ärzten“ und hat dabei oft das Ideal eines breit
gebildeten, ganzheitlich ausgerichteten und umfassend tätigen Hausarztes2 im Blick: Ein Arzt,
der sich zwar kompetent der Errungenschaften der Medizin zu bedienen weiß, aber darüber
hinaus auch Kenntnisse und Fertigkeiten besitzt, die so nicht in den medizinischen Lehrbüchern zu finden sind und auch nicht so einfach über reines Training erworben werden können.
Es geht also darum, medizinischen Know-how eher als eine Basis zu verstehen auf der dann
eine weiterreichende Lebenserfahrung aufsetzt, mit welcher der Patient, als Gegenüber, aus
dem Blickwinkel ganzheitlicher Zusammenhänge nicht nur als biologischer Organismus
sondern als Mensch gesehen wird, zu dem auch sein Lebenswandel, seine Gewordenheiten
und Laster, die sozialen Bezügen und Belastungen die Lebensprozesse mit ihren Symptomatiken bestimmen. Wegen dieses, über Lehrbücher hinausgehenden Erfahrungsschatzes, wird
die Metapher eines solchen Hausarztes auch eher mit einem Älteren verbunden und weniger
mit der Vorstellung eines Jungakademikers, der die allerneuesten Studien und Vorgehensweisen kennt, weil er sie erst kürzlich im Hörsaal gehört und in Prüfungen wiedergegeben hat,
der vielleicht auf fast alle Fragen und in allen Situationen wie ein wandelndes Lexikon auf die
neuesten Forschungsergebnisse aus randomisierten, kontrollierten Experimentalstudien verweisen kann, der aber sein Gegenüber primär als konkreten Fall aus einer der abstrakten Kategorien statistisch-diagnostischer Prototypen in seinen Lehrbüchern sieht.
Auch wenn diese Gegenüberstellung, zugegebenermaßen, deutlich klischeehaft und prototypisch extremisiert gezeichnet wurde, wird daran eben doch das Spannungsfeld zwischen
1
David Boadella zum 80. Geburtstag (6. Juli 2011) gewidmet
Ich bin mir der Unzulänglichkeit unserer Sprache bewusst, zwischen geschlechtsunspezifischen und sog.
„männlichen“ Bezeichnungen zu differenzieren. Alle mir bekannten Alternativen – von denen ich bisweilen
Gebrauch mache, erscheinen mir gestelzt und gekünstelt, weshalb hier von „Therapeuten“ oder „Ärzten“ etc.
geschrieben wird. Diese sind als geschlechtsneutrale Bezeichnungen gemeint – d.h. „Frauen“ sind nicht „mitgemeint“, weil eben auch keine „Männer“ gemeint sind (und es geht auch um keine anderen, nicht genannten,
biologischen, sozialen, ökonomischen,… Eigenschaften, Rassen, Ethnien …): Es geht um Menschen, die
bestimmtes tun, denken, meinen – oder eben auch nicht.
2
1
medizinisch-technischem Grundlagenwissen und ärztlich-ganzheitlicher Heilkunst deutlich,
welches der ärztlichen Profession seit Anbeginn eigen war. Schon bei Hippokrates und
seinen Ärzteschulen finden wir einerseits die Aufforderung zu systematischen Analyse durch
Beobachtung, Befragung und Untersuchung, was ihn zum Begründer der Medizin als Wissenschaft macht, zum anderen die Ablehnung des (knidischen) Systems, Symptome als isoliert
lokalisierbare Einzelerkrankungen zu verstehen. Stattdessen sah er Symptome eher als
gestörtes Gleichgewicht komplexer dynamischer Regulationsprozesse an und plädierte
dafür, auch psychische, biographische und umweltbedingte Einflüsse mit zu berücksichtigen –
also die Lebensprozesse ganzheitlich zu verstehen und entsprechend heilend zu wirken.
Diese Komplementarität von klar lokalisierbaren Detail-Ursachen und eher unspezifischen
ganzheitlichen Wirkzusammenhängen durchzog auch in der weiteren Entwicklung der
Heilkunde am Menschen die Debatten. Dies wird vielleicht dort am prägnantesten deutlich,
wo versucht wurde, dieses Miteinander gegensätzlicher Teilperspektiven auf die eine oder die
andere „wahre“ Sicht zu reduzieren: Beispielsweise widmete Astrid Mayerle in „Bayern 2“
am 10.8. 2010 dem Hygieniker Ignaz Semmelweis das tägliche „Kalenderblatt“3: Semmelweis war Arzt und Geburtshelfer in Wien und hatte Mitte des 19. Jahrhunderts als erster
erkannt dass Kontaktinfektion eine wesentliche Ursache des Kindbettfiebers ist. Er führte
mehre Studien durch, in denen er zeigte, dass die Sterblichkeitsrate der Mütter von über zwölf
auf bis zu zwei Prozent zurückging, wenn die Geburtshelfer auf mehr Hygiene achten. Doch
seine Lehre, und die entwickelten Desinfektionsmethoden wurden vehement von seinen
Standeskollegen bekämpft und als „spekulativer Unsinn“ abgelehnt, da sie den damals
geltenden Theorien von Krankheitsursachen widersprachen. Semmelweis Ergebnisse wurden
von ihnen nicht einmal geprüft, sondern einfach unbesehen verworfen. Mayerle führt aus:
„Diese Ignoranz hat Methode. Erst 150 Jahre später fand der amerikanische Bestsellerautor
Robert Anton Wilson für genau diese Haltung den treffenden Begriff, nämlich: SemmelweisReflex. Es geht um eine Mischung aus Kollegen-Neid, Bequemlichkeit und verdrängter
Schuld.“
Die Kontroverse ging sogar so weit, dass er von drei "Kollegen" in die "Landes-Irrenanstalt"
eingewiesen wurde - ohne untersucht worden zu sein und ohne dass sein Einweisungszeugnis
die Andeutung einer Diagnose enthielt, wie die erst kürzlich aufgefundene Krankenakte
zeigt4. Dort starb er zwei Wochen nach seiner Einweisung im Alter von nur 47 Jahren – laut
„Zeit“ infolge einer Verletzung, die ihm vermutlich bei einer Auseinandersetzung mit einem
Wärter zugefügt wurde. Den wissenschaftlichen Beweis für die Richtigkeit seiner Thesen
erbrachten erst später die Bakteriologen, und Semmelweis wurde (postum!) als "Retter der
Mütter" verehrt: So ist eine Wiener Klinik nach ihm benannt und in Budapest sogar eine
ganze Universität. Die BRD brachte eine Briefmarke mit seinem Bild in der Serie „Helfer der
Menschheit“ heraus und auch die DDR widmete ihm eine Briefmarke.
Allerdings ist dies eben nur die eine Seite der komplexen „Wahrheit: Bei Thure von
Uexküll (1963) finden wir die andere Seite: "Als man sich z.B. zu Beginn der bakteriologischen Ära auf die Entdeckung immer neuer Erreger konzentrierte, geriet die alte Erfahrung
von den Widerstandskräften des Körpers in Vergessenheit. Man glaubte mit der Entdeckung
des Erregers das Problem der Infektionskrankheiten gelöst zu haben. Es bedurfte drastischer
Hinweise, um die Medizin daran zu erinnern, dass sie mit den neuen Entdeckungen nur einen
3
„Bayern 2“-Kalenderblatt, 10.08.2010, von Astrid Mayerle. www.br-online.de/bayern2/kalenderblatt/kosmosund-natur-ignaz-semmelweis-gerechtigkeit-ID1277464798351.xml
4
Quelle: "Die Zeit" Nr. 33, 1995
2
Teilbezirk erfasst hatte. Der erboste Hygieniker Pettenkofer (nach dem z.B. in München eine
Straße benannt ist J.K.) trank damals eine Kultur lebender Cholerabazillen und bewies durch
sein Überleben den Gegnern, dass der Erreger allein noch keine Cholera ausmacht." Solche
Einsichten förderten die Beachtung und Entwicklung der "Psychosomatik", d.h. die Erkenntnis, dass man zu kurz greift, wenn man - Descartes folgend - den Menschen nicht nur in einen
Körper und eine Psyche auseinander dividiert, sondern auch die komplexen psychosoziale
Eingebundenheiten der Lebensprozesse ignoriert oder auf einseitige Wirkmechanismen
reduziert.
Um auf die Ausgangsfrage des Verhältnisses medizinisch-technischem Grundlagenwissen
und ärztlich-ganzheitlicher Heilkunst zu fokussieren sei betont, dass z.B. neben der spezifischen Identifizierung von Bakterienstämmen und der ebenso spezifischen Bereitstellung von
genau passenden Antibiotika dagegen, von der Medizin natürlich auch spezifische Wirkstoffe
und Vorgehensweisen zur Hebung der allgemeinen Immunabwehr bereitgestellt werden.
Doch wird der o.a. Hausarzt nicht nur auf solche Mittel vertrauen, sondern die Immunschwäche eines bestimmten Patienten durch weitere, eher „unspezifische“ Maßnahmen zu verändern
suchen – gesündere Lebensweise mit mehr Sport, andere Ernährung, Einstellen bestimmter
Lebensgewohnheiten etc. Und er wird dies auf die sehr spezifischen Umstände des Patienten
heilend zuschneiden – und seine Maßnahmen weniger aus in Lehrbüchern über standardisierte
Fälle ableiten.
2. Die Einseitigkeiten in der (deutschen) Psychotherapie
2.1 Von der Vielfalt der Ansätze zur Vielfalt der Verhaltenstherapie
Als vergleichsweise sehr später Sprössling der altehrwürdigen Medizin war auch die Psychotherapie seit Anbeginn von diesem Spannungsverhältnis mit betroffen. So wurde in die
Entwicklung der Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch die zunächst recht
biologisch-mechanistische Sichtweise Sigmund Freuds um die philosophisch-spirituellanthropologische C.G. Jungs und die sozial-funktionelle Alfred Adlers erweitert – Adlers
Bezeichnung „Individualpsychologie“ soll ja gerade die nicht-Teilbarkeit des ganzen
Menschen betonen.
Mehr noch als die inner-psychotherapeutischen Kontroversen aber spiegelt sich das skizzierte
Spannungsverhältnis in der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Behaviorismus wider,
der nicht mehr aus der medizinische Tradition sondern aus einem Zweig der Psychologie
hervorgegangen war: Das 1913 von Watson formulierte Manifest zur „Psychologie, wie der
Behaviorist sie sieht“ war ein ebenso rigoroser wie interessanter Versuch, Psychologie als
„einen Zweig der reinen, objektiven Naturwissenschaften“ zu konzipieren (jedenfalls so, wie
man „Naturwissenschaft“ vorwiegend auf der Basis des 19. Jh. verstand). Dieser Ansatz sah
sich explizit als eine Art „Gegenprogramm“ auch zur Psychoanalyse. Allerdings - dies wird
meist übersehen - bezog sich dieser Gegensatz auf Forschungskontexte: Für die Praxis
hingegen war auch von den führenden Behavioristen die Psychoanalyse anerkannt (die
behaviorale Kritik bezog sich daher primär auf das analytische Erklärungsmodell und die
Forschungsmethodik). Hamilton, nach Watson der führende Vertreter des Behaviorismus,
ließ sich gar als Psychoanalytiker nieder und schrieb 1931: „Tatsächlich betrachte ich sie als
3
die beste erklärende Formulierung, die es zur Zeit gibt, und sie entspricht den Fakten
klinischer Erfahrung genug, um meine Tätigkeit als Psychoanalytiker zu rechtfertigen“
(Schorr 1984, S. 84).
In der nun gut hundertjährigen Geschichte professioneller Psychotherapie ist nun allerdings
ein bedeutsamer berufspolitischer Wandel eingetreten, der nicht ohne erhebliche inhaltliche
Folgen geblieben ist. Während mindestens in den ersten sieben Jahrzehnten Psychotherapie
ganz überwiegend von entsprechend aus- und weitergebildeten Ärzten angeboten wurde und
dabei psychoanalytische Konzepte vorherrschten, ist inzwischen die ärztliche Grundprofession am Anteil der Psychotherapeuten auf weniger als ein Drittel geschrumpft: Laut KBV
standen 2008 insgesamt 4747 Ärztliche PsychotherapeutInnen, ÄP, 12741 Psychologische
PsychotherapeutInnen, PP, und 2850 Kinder- und Jugendlichen PsychotherapeutInnen, KJP,
gegenüber5. Dabei kommen die PP ganz überwiegend, die KJP zu einem sehr großen Anteil
aus der akademischen Psychologie.6 Damit aber bekam die akademische Psychologie einen
zentralen Stellenwert für die Grundausbildung in Psychotherapie. Und es ist naheliegend, dass
die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundpositionen, die Konzepte, die methodologischen und methodischen Leitideen sowie die Menschen- und Weltbilder, die in der
Psychologie vorherrschen, somit auch die Sicht der PsychotherapeutInnen erheblich
beeinflussen.
Nun war zwar auch die Psychologie über Jahrzehnte keineswegs durch das behaviorale Paradigma beherrscht: Bis in die 70er Jahre hinein gab es auch in der BRD bedeutende geisteswissenschaftliche Ausrichtungen innerhalb der Psychologie – und in den Hochschulen war
entsprechend die Psychotherapie mit vielen Professoren besetzt, die ein breites Spektrum an
Ausrichtungen anboten. Obwohl nur die Verhaltenstherapie in den 80er Jahren formell ein
„Richtlinienverfahren“ wurde, gab es bis zum Psychotherapeutengesetz 1999 sowohl in
Kliniken als auch in Ambulanzen für viele andere Ansätze gute Abrechnungsmöglichkeiten.
Die Qualifikation heutiger PP und KJP erstreckt sich denn auch immer noch über ein
erstaunlich breites Verfahrensspektrum.
Allerdings ist es kein Geheimnis, sondern Gegenstand bereits intensiver Diskussion, dass in
der akademischen Psychologie, besonders der „Klinischen Psychologie und Psychotherapie“
in den letzten Jahrzehnten ein Wandel dahingehend eingetreten ist, dass fast alle so bezeichneten Professuren an Universitäten der BRD inzwischen mit Personen besetzt sind, die sich
dem behavioralen bzw. verhaltenstherapeutischen Paradigma zuordnen. Ehemals mit tiefenpsychologischer, humanistischer oder systemischer Ausrichtung besetzte Professuren sind in
diesem Wandlungsprozess weitgehend umgewidmet worden (oder an die Hirnforschung
gefallen). Gleichzeitig hat sich die Verhaltenstherapie allerdings erheblich für eben solche
Konzepte geöffnet und versucht, diese in den Kanon ihrer psychotherapeutischen Techniken
zu integrieren.
So führt – als ein Beispiel - auch die kürzlich veröffentlichte Stellungnahme der BPtK vom
10.11.2009 “zur Prüfung der Richtlinienverfahren gemäß §§ 13 bis 15 der PsychotherapieRichtlinie, Verhaltenstherapie“ u.a. aus: „eine Psychotherapietechnik ist in diesem Sinne als
theorieneutral zu betrachten.“ Dabei können auch „Techniken eingesetzt werden, die ideengeschichtlich anderen Psychotherapieverfahren oder anderen klinisch-wissenschaftlichen
5
Schäfer, Sabine (2010): Aktuelle Statistiken der KBV aus dem Blickwinkel der Psychotherapeuten.
Psychotherapie Aktuell, 2, 1, S. 5-9
6
Bei den KJP hat ein anderer großer Anteil eine pädagogische Grundprofession
4
Entwicklungen entstammen. Beispielsweise sind Entspannungsverfahren, Rollenspiele oder
Achtsamkeitsübungen nicht primär auf dem ideengeschichtlichen Hintergrund der Verhaltenstherapie entstanden, wurden aber in diverse Therapieprogramme auf verhaltenstherapeutischem Hintergrund integriert und in diesem Rahmen angewendet“ (S. 6)
Und Etwas später : „Voraussetzung dafür, dass der Patient von den skizzierten Verfahren
profitieren kann, ist der Aufbau einer vertrauensvollen Patient-Therapeut-Beziehung. Hierzu
gab es in der Verhaltenstherapie zunächst aufgrund mangelnder theoretischer Konzepte
keine eigenständigen „Techniken“, sondern es wurden entsprechende Methoden aus anderen
Therapierichtungen, vor allem der klientenzentrierten Therapie nach Rogers, übernommen
…… Der Therapeut ist angehalten, möglichst echt und authentisch in die Kommunikation
mit dem Patienten zu gehen“( S. 8).
Ferner: „In den letzten Jahren wurden im Rahmen der „Third Wave of Behavioral Therapies“ verhaltenstherapeutische Techniken um die explizitere Thematisierung der Beziehungsebene und aufmerksamkeits- /achtsamkeitsorientierte Techniken erweitert. So wird beispielsweise in der schemafokussierten Therapie nach Young (die eine Weiterentwicklung der
kognitiven Therapie der Persönlichkeitsstörungen nach Beck und somit ein in der Tradition
von kognitiver Verhaltenstherapie stehendes Verfahren darstellt) explizit die therapeutische
Beziehung als Mittel zur Therapie der maladaptiven Schemata des Patienten benannt.
Hierfür werden im Vergleich zu traditionellen verhaltenstherapeutischen Methoden explizite Verhaltensregeln für den Therapeuten auf der Beziehungsebene benannt…“ (S. 8)
(alle Hervorhebungen J.K.)
2.2 Nicht alles Wirksame ist operationalisierbar
Aufgrund dieser Ausführungen könnte man geneigt sein, die ehemals vorhandene Pluralität
der Perspektiven und Ansätze nun im Rahmen der Verhaltenstherapie (VT) angemessen
repräsentiert zu finden. Der gute Wille hierzu soll vielen VTlern auch keineswegs abgesprochen werden. Die Frage stellt sich aber, ob eine entsprechende Bereicherung des verhaltenstherapeutischen Methodenspektrums wirklich möglich ist. Denn die größte Stärke der VT, die
Frage der Aufnahme einer neuen „Technik“ daran zu knüpfen, dass sich diese in experimentellen Designs auf der Basis von sog. „unabhängigen“ (UV) und „abhängigen“ (AV) Variablen als „wirksam“ erweist, ist zugleich die Achillesverse bei einer angemessenen Aufnahme
entsprechender Konzepte (Kriz 2007, 2010).
Dies lässt sich z.B. an einem Konzept wie „Therapeutische Beziehung“ deutlich machen:
Um die Wirksamkeit einer Technik im Rahmen des experimentellen Ansatzes zu überprüfen
müssen die Vorgehensweisen operationalisiert und manualisiert werden. Schließlich will man
als zu prüfende „unabhängige Variable“ ja Technik „T“ untersuchen - und nicht irgendetwas
anderes, was in der Beliebigkeit der Therapeuten steht. Dazu braucht man auch eine Vergleichsgruppe, die „nicht-T“ erhält, denn z.B. „spontane Remission“, reine Zeit- und Entwicklungseffekte oder der Einfluss anderer Aspekte soll möglichst ausgeschaltet bzw. „kontrolliert“ werden. Letztlich müssen auch „T“ und „nicht-T“ unter hinreichend gleichen Bedingungen an hinreichend gleichen Patienten eingesetzt werden – denn sonst liegen die zu überprüfenden Effekte möglicherweise an den unterschiedlichen Patienten oder den „anderen Bedingungen“. Und da nicht alle diese möglichen Einflüsse in die Untersuchung einbezogen
5
werden können, müssen die Patienten den Gruppen zumindest zufällig zugeordnet werden,
um systematische Unterschiede in den Ausgangsbedingungen möglichst zu vermeiden.
Trotz der Kürze, mit der diese Logik hier skizziert wurde, wird deutlich, dass eine solches
Anliegen geradezu notwendig auf die essentiellen Aspekte hinausläuft, welche man ein
randomisiertes, kontrolliertes Vorgehen (randomized controlled trial, RCT) nennt. Doch wie
dieses bei einer Wirkvariablen wie „therapeutischen Beziehung“ konkret umgesetzt werden
soll, bleibt mehr als schleierhaft. Man kann diese „Variable“ schwerlich dosieren, und wie
Psychotherapie ohne eine „therapeutischen Beziehung“ aussehen soll (also „nicht T“) ist
fraglich. Da hilft auch eine pseudo-Operationalisierung kaum weiter, zu der es in den obigen
Formulierungen heißt, in „Übernahme“ von „Methoden“ der „klientenzentrierten Therapie
nach Rogers“ sei der Therapeuten „angehalten“ mit den Patienten „möglichst echt und
authentisch“ umzugehen und dass „explizite Verhaltensregeln für den Therapeuten auf der
Beziehungsebene benannt“ werden. Denn man kann in einem Pharma-Design zwar ein
Medikament nicht geben, bzw. ein Placebo ohne den jeweiligen Wirkstoff verabreichen.
Aber ein Therapeut, der den eben angeführten „Verhaltensregeln“ in einer Kontrollgruppe
zu Untersuchungszwecken nicht folgt, hat natürlich nicht keine Beziehung zum Patienten. Die
Logik des RTC passt also für solche „Variablen“ schlichtweg nicht.
Damit dürfte es auch schwer fallen, die „therapeutische Beziehung“ theoretisch hinreichend befriedigend ins VT-Paradigma zu integrieren. Andererseits wäre aber gerade dies
wichtig, damit nicht bedeutsame Teile der VT-Wirkung in der VT-Theorie gar nicht auftauchen – ein Zustand, der eigentlich auch von jedem VT-Anhänger als überaus unbefriedigend
angesehen werden muss.
2.3 Zum Unterschied zwischen therapeutischem Vorgehen und ihrer wissenschaftlichen
Beschreibung
.Gibt es einen Weg aus dieser Misere? Schließlich ist ja das, was mit „therapeutischer
Beziehung“ gemeint ist, in der Therapierichtung, aus der dies auch nach der obigen
Beschreibung übernommen wurde – dem Personzentrierten Ansatz von Rogers (in der BRD
„als Gesprächspsychotherapie“, GT, benannt) – keineswegs ein vages, am Schreibtisch
erdachtes Konstrukt. Vielmehr sind die Aspekte dieser „therapeutischen Beziehung“ Kongruenz, bedingungsfreie Anerkennung und Empathie – gerade über sehr ausgedehnte
empirische Forschung gefunden worden. Zudem wurden die zentralen Standards – mehrere
Messzeitpunkte, Kontrollgruppen etc. – im Kontext dieser Forschung von Rogers in die
Psychotherapieforschung eingeführt (und wurden erst später dann u.a. auch von der VT als
Forschungsstandards übernommen).
Doch obwohl „therapeutischer Beziehung“ im klientenzentrierten Ansatz neben ihrer
hochelaborierten theoretischen Fundierung auch ein empirisch gewonnenes und detailliert
untersuchtes Konzept ist, besteht ein großer Unterschied in der Auffassung von therapeutischem Vorgehen zwischen der GT und der VT: Denn gute VT bedeutet primär, Methoden
(möglichst operationalisiert) störungsspezifisch anzuwenden; gute Gesprächspsychotherapie
hingegen bedeutet primär, in einem dynamischen Prozess passungsgenau auf den Patienten
bezogen die therapeutische Beziehung auf der Grundlage der Entfaltung von Prinzipien zu
gestalten (z.B. auf Inkongruenz zwischen Erleben und dessen Symbolisierung zu achten).
6
Wenn und wo es gelingen würde, die Konzepte im Rahmen der VT zu operationalisieren und
zu manualisieren, hätten sie wenig mit dem zu tun, was Theorie und Praxis der klientenzentrierten Psychotherapie ihren Therapeuten vermitteln. Beide Herangehensweisen machen
Sinn, beide sind – wie tausende von Fällen belegen – wirksam (wenn auch für unterschiedliche Menschen – nicht: Störungsgruppen – in unterschiedlicher Weise - vgl. Eckert &
Biermann-Ratjen 1990). Sie sind aber nicht beliebig kompatibel oder kombinierbar. Denn
die zentralen GT-Konzepte sind auf einem anderen Abstraktionsniveau und zielen gerade
nicht auf unmittelbare Handlungsbeschreibung ab, sondern auf die Beachtung von Aspekten,
die als Leitideen beim passungsgerechten Handeln dienen. „Verhaltensregeln“ für den
Therapeuten, um „möglichst echt und authentisch zu wirken“ sind deutlich etwas anderes, als
in der Beziehung auf jene Aspekte zu achten, welche die Bedingungen dafür liefern, um echt
und authentisch zu sein.
Die sehr umfangreiche empirische Forschung zur GT, die Rogers und später auch andere
initiiert haben, ist gerade keine experimentelle Forschung im engeren Sinn, wo unabhängige
Variable in Form von Interventionen oder „Beziehung“ hergestellt werden, um auf die
abhängige Variable in Form von Störungen zu wirken. Es gibt kein Programm, welches GTTherapeuten anwenden müssen – oder andersherum: nur anzuwenden brauchen – um eine
gute therapeutische Beziehung im GT-Sinne herzustellen. Dies ist übrigens durchaus etwas,
was manche Anfänger verunsichert, die berechtigterweise gern ein solches Programm hätten,
das ihnen sagt, was genau sie tun müssen, um „nichts falsch zu machen“. Vielmehr tun GTTherapeuten „alles mögliche“, was ihnen liegt, zum Patienten, dessen Leid und zur Situation
passend erscheint, um eine Beziehung zu vertiefen und zu festigen. Und dieses „alles
mögliche“ wird getragen von einer Beziehung die durch unbedingte Zuwendung, Kongruenz
und Empathie gekennzeichnet ist. Auf der Basis dieser Beziehung wird die spezifische
Inkongruenz des Patienten deutlich, verstehbar, symbolisierbar und ins Selbst integrierbar.
Obwohl diese Beschreibung – verglichen mit klar operationalisierten Variablen – sehr
allgemein und unklar erscheinen mag, lässt sich dieser Ansatz sehr wohl empirisch erforschen. So lassen sich im Rahmen einer solchen Forschung das Ausmaß der verwirklichten
Aspekte und die Qualität der Beziehung durch Beobachter sehr wohl beurteilen und in einen
methodisch rekonstruierenden Zusammenhang – inklusive der Verwendung von statistischen
Modellen - mit dem Ausmaß bestimmter Veränderungen setzen. Dies ist nicht weniger streng
empirisch und schon gar nicht weniger „wissenschaftlich“ als den Regeln eines experimentellen Designs zu folgen. Es ist aber eine andere methodologische Grundphilosophie im empirischen Erfassen des Psychotherapieprozesses. Es können sogar die Beobachtungsaspekte im
Rahmen solcher Forschung klar und disjunkt operationalisiert sein; und es sind auch in der
GT-Forschung solche Skalen entwickelt worden. Aber es sei nochmals auf der Unterschied
betont zwischen der Operationalisierung von Handlungsvariablen im Therapieprozess – wie
dies z.B. für die VT typisch ist – und der Operationalisierung von Beobachtungsvariablen im
Rahmen von Forschung, mit denen der Therapieprozess rekonstruktiv beschrieben wird.
2.4 Auch die Verhaltenstherapie kommt nicht ohne das Entfaltungsprinzip aus
Bedauerlicherweise hat der „Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie“ (WBP) in keiner
seiner Veröffentlichungen, Gutachten und Stellungnahmen zu erkennen gegeben, dass er
diesen Unterschied zwischen der Anwendung von Methoden und der Entfaltung von Prinzipien wahrzunehmen oder gar zu berücksichtigen weiß. Sowohl seinen Methodenpapieren als
7
auch dem Tenor seiner Gutachten liegt stillschweigend und unreflektiert die methodologische
Beschränkung auf das erstere zugrunde. Dies ist umso erstaunlicher, als eigentlich ein beachtlicher Anteil der Mitglieder des WBP – besonders jener mit psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Orientierung – in den sonstigen Fachpublikationen keine enge verhaltenstherapeutisch-behaviorale Sicht vertritt. In der überwiegenden Anzahl psychoanalytischer und
tiefenpsychologischer Publikationen wird jedenfalls weniger eine genau operationalisierte
Technik im Sinne einer „unabhängigen Variablen“ im experimentellen Design auf eine Störung angewendet. Vielmehr werden – ähnlich wie oben in der GT beschrieben - Prinzipien
entfaltet, zu denen, beispielsweise in der Psychoanalyse, die Herstellung einer Übertragungsreaktion gehört. Diese dient, so die weitere Eigendefinition der Förderung des Verstehens der
spezifischen Konflikt(abweht)dynamiken und deren symptomgebenden, kompromissbildenden Auswirkungen.
Die dabei ablaufenden Prozesse sind zwar, wie oben ausgeführt, von außen beobachtbar,
ggf. genau registrierbar und evaluierbar – so wie auch gutes Geigenspiel von schlechtem
durch die Registrierung der Tonhöhe, des Rhythmus, der Bogenhaltung mit Winkel, Andruck,
und Streichgeschwindigkeit, das Senken des Spielfingers zur rechten Zeit auf die richtige
Stelle der Saite etc. registriert und evaluiert werden kann. Und man darf sicher sein: wenn all
dies nicht hinreichend erfüllt ist, wird niemand von einem „guten Geigenspiel“ sprechen und
eine positive Beurteilung in einem professionellen Kontext abgeben. Genauso ist allerdings
klar, dass sich zumindest das, was wir heute in den Konzertsälen und auf Tonträger als
„Geigenspiel“ erwarten, nicht mit der Beherrschung der Technik abgedeckt werden kann. Das
eben unterscheidet Geigespielen vom Zusammenbau eines Bücherschrankes aus Fertigteilen,
wo die Prinzipien des korrekten Anwendens der Vorschriften völlig ausreichen. Deshalb ist
Geigenspiel aber eben auch weit mehr als nur Technik - sie gilt als künstlerisches Tun. Und
auch wenn nicht jeder zu einem begnadeten Violinsolisten wird, gilt dieses „mehr als Technik“ selbst für die sehr große Anzahl von professionell ausgebildeten Orchestermusikern.
Dies sei bedacht, damit professionelle Ausbildung nicht vorschnell in Gegensatz zu „Kunst“
oder zu „Weisheit“ gesetzt wird. Auch der o.a. Hausarzt würde sich wohl eher dem Künstler
zuordnen – nicht selten wird von „Heilkunst“ gesprochen – als dem Anwender vorgefertigter
Möbelbau-Programme.
Und wie steht es mit den Psychotherapeuten? Selbst für die eher noch klassische VT – bei
welcher der Gedanke der Anwendung von theoretisch vorgefertigten Programmen vielleicht
noch am ehesten naheliegen könnte – besteht unter Wissenschaftstheoretikern Konsens
dahingehend, dass Psychotherapie-Praxis nicht als Anwendung von Psychotherapie-Theorie
verstanden werden kann. Westmeyer (1978, 1980) hat frühzeitig gezeigt, dass VT nicht als
„angewandte Lerntheorien“ verstanden werden kann. Stattdessen plädiert er dafür, übereinstimmend mit anderen, Theorie im Rahmen von Psychotherapie bestenfalls als Bereitstellung
von „technologischen Regeln“ zu verstehen - nämlich als Aufforderungen, in bestimmten
Situationen bestimmte Maßnahmen zu ergreifen um bestimmte Ziele zu erreichen. Also gilt
selbst hier zumindest auch das Prinzip der Entfaltung von Prinzipien. Und je mehr die VT
Aspekte wie Therapeutische Beziehung, Achtsamkeit etc. explizit in ihre Arbeit einbezieht,
desto deutlichen müsste sie sich von den alleinigen Vorgaben eines engen experimentellen
Paradigmas verabschieden. Denn diese Aspekte sind nicht als unabhängige Variable
herstellbar oder dosierbar.
8
2.5 Das Problem der Reduktion bei der Suche nach Wirkfaktoren
Daher ist es auch fragwürdig, in komplexen Prozessräumen, wie dies für Psychotherapie
typisch ist, nach isolierbaren Wirkfaktoren zu suchen. Denn wie unterschiedlich Wirkzusammenhänge sein können, die nicht in den Bereich fallen, für den das PharmaforschungsParadigma mit seiner Analyse von einzelnen Wirkstoffen angemessen ist, hat Plaum (1999)
ebenso anschaulich wie drastisch dargestellt. Seine kurze – fiktive aber nicht untypische –
Fallgeschichte in einer Kurklinik lautet:
...Aufgrund der Distanz von zuhause war Frau X. in der Lage, ein anregendes Klima, eine
reizvolle Landschaft, positiv auf sich wirken zu lassen, was durch die entspannende Wirkung
der Bäder verstärkt worden ist; dass es Mitpatienten gibt, denen es offenbar schlechter ging
als ihr, hat Frau X. neuen Lebensmut gegeben und sie offener für andere Menschen gemacht;
die daraufhin möglichen Gespräche konnten ihr wiederum veränderte Lebensperspektiven
nahebringen; schließlich hat der Masseur bei Frau X. erotische Gefühle ausgelöst, die wiederum in der geschilderten aktuellen sozialen Situation zur Realisierung eines „Kurschattens“ führten; dieser hat aufgrund seiner anziehenden Wirkung Frau X. zu der Überzeugung
bringen können, dass es doch besser sei, die Diätvorschriften einzuhalten und nicht etwa sich
am Nachmittag ins Café zu setzen, um dort die Sahnetorte zu verspeisen ...
Zu Recht fragt Plaum – die Suche nach Wirkfaktoren in einer komplexen Welt glossierend - „Was hat zur Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes von Frau X. während einer
Kur geführt? Bäder? Massagen? Das Klima? Die Distanz von zuhause? Der Kontakt zu
Mitpatienten? Der ‚Kurschatten’?“ Im gewählten Beispiel muss man sagen: wohl alles
„irgendwie“. Doch nichts wirkt als isolierbarer „Faktor“ als solcher - und auch nicht im Sinne
varianzanalytischer Wechselwirkung „zusammen“. Denn man kann sich gut vorstellen, dass
in Gruppen mit Personen unter „fast“ genau denselben Bedingungen die Gesamtwirkung
völlig unterschiedlich ausfällt. Ein Forschungs-Design, bei welchem der Einfluss des
Kurschattens, oder des Masseurs etc. untersucht werden soll, wäre daher entsprechend
lächerlich. Und bei einem anderen Patienten wirken vielleicht in derselben Kurklinik andere
Aspekte zusammen. Man kann sogar davon ausgehen, dass die Patienten selbst auch etwas
Kompetenz besitzen, aus den reichhaltigen Programmen und komplexen Möglichkeiten einer
solchen Klinik das für sie gut tuende auszuwählen. Und dass es vielleicht reicht, sie bei dieser
Wahl und bei der Reflexion darüber, was gut tut, zu begleiten und zu beraten. Daraus lässt
sich zwar keine RCT-Studie stricken. Dennoch wäre es falsch, Kurkliniken als „unwirksam“
oder „wissenschaftlich nicht anerkannt“ zu brandmarken und aus der BRD zu verbannen, so
wie es in den ambulanten Praxen mit fast allen psychotherapeutischen Angeboten geschehen
ist. Es ist ja sowieso mehr als merkwürdig, dass in deutschen Kliniken sehr wohl vieles von
dem eingesetzt und im Kassensystem abgerechnet wird, was angeblich „nicht wirksam“ sein
soll – neben humanistischen-, systemischen- und körpertherapie-Verfahren auch z.B. Kunst-,
Ausdrucks-, Musik- oder Tanztherapie. Obwohl – oder gerade weil – Kliniken mit sehr
spitzem Bleistift rechnen müssen und bestimmt keine überflüssigen Ausgaben tätigen. Aber
sie wissen, wie gute Hausärzte, um einen eher ganzheitlichen Heilerfolg, der nicht beliebig in
Einzelfaktoren zerlegt werden kann – so wie die einzelnen materiellen Bestandteile einer
Zelle noch kein „Leben“ ausmachen. Dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten, den Erfolg
einer Kurklinik bei den Patienten zu evaluieren um sicherzustellen, dass mit Steuer- und
Krankenkassengeldern nicht einfach Unwirksames bezahlt wird. Denn auch das, was sich
nicht ins enge Korsett von RCT-Studien-Wirksamkeit pressen lässt, kann nicht nur wirksam
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sein, sondern diese Wirksamkeit lässt sich auch wissenschaftlich und methodisch sauber
untersuchen.
2.6 Von der „science-fiction“ mechanistischer Wirksamkeit zur komplexen Weisheit
moderner Naturwissenschaft
Man kann natürlich fragen, woran es liegen mag, dass entgegen der ärztlichen Tradition die
Wissenschafts- und Verbände-Funktionäre der psychologischen Psychotherapeuten das Verständnis von Heilkunde und ihrer Wirksamkeit so einseitig reduziert haben. Meines Erachtens
hängt das mit dem erwünschten Selbstbild der Psychologie zusammen, sich nämlich als eine
„Naturwissenschaft“ zu präsentieren – eine Wissenschaft also, die in breiten Teilen der
Bevölkerung und Politik ihre Nützlichkeit und Fundiertheit nicht gegen ständige Angriffe
verteidigen muss wie etwa die Sozial- und Geisteswissenschaften. Dieses Selbstverständnis ist
nicht nur im Manifest des Behaviorismus ausgewiesen, sondern findet sich auch in vielen
modernen Selbstbeschreibungen wieder. Allerdings ist es die Ironie des Schicksals, dass sich
die realen modernen Naturwissenschaften weit von dem Bild entfernt haben, welches der
Alltagsmensch und auch solche Selbstbeschreibungen der Psychologie unter „Naturwissenschaft“ verstehen. Letzteres sind nämlich im Wesentlichen die Prinzipien eines mechanistischen Weltbildes des 19. Jahrhunderts. Diese gelten allerdings in weiten Bereichen der Alltagstechnologie fraglos weiterhin, und lassen uns daher glauben machen, dass diese Prinzipien
wirklich „der Welt“ zugrunde liegen – und zwar nicht nur bei dem Ausbeulen einer Blechdose, dem Reparieren einer Maschine oder (hinreichend) der Bekämpfung eines Bakterienstammes mit Antibiotika, sondern auch bei komplexeren Lebensprozessen.
Das Grundmodell dieses klassischen Ansatzes ist das Experiment in der oben bereits
skizzierten Weise, wo unabhängige Variable (Therapie-Technik T) in genau kontrollierbarer
Weise auf abhänge Variable (Störung S) wirken und dabei Ausschaltung, die reale oder
zumindest die statistische Kontrolle von systematischen Verzerrungen möglich ist. In der Tat
lassen sich durchaus viele Fragen, welche im Rahmen moderner Psychologie gestellt werden,
optimal durch eine experimentelle Herangehensweise untersuchen. Es handelt sich allerdings
vor allem um Grundlagenforschung, deren Fragestellungen gut an die Erfordernisse dieses
experimentellen Ansatzes angepasst werden können.
Doch schon für Teile moderner Naturwissenschaft – besonders welche im Rahmen von
Systemtheorie beschrieben werden müssen – gilt dieses Modell nur sehr beschränkt. Vieles
was der Alltagsmensch als „wissenschaftlich begründete Prinzipien“ zur Wirkweise zwischen
Ursachen und Wirkungen unterstellt, muss inzwischen - jedenfalls in dieser Allgemeinheit –
in den Bereichen der Mythen verwiesen werden (vgl. Kriz 1996). Sofern sie sich nicht gerade
mit Wissenschaftstheorie oder moderner systemtheoretisch fundierter Naturwissenschaft
beschäftigen, setzen allzu oft leider auch Psychologen bei ihrer sonst elaborierten Forschung
auf diesen Mythen über „wissenschaftliche Wirksamkeitsprinzipien“ an. Sofern aber komplexere, rückgekoppelte Systeme ins Auge gefasst werden, treten völlig andere Phänomene
auf – wie z.B. Emergenz (selbstorganisierte Ordnungsbildung), Phasenübergänge (selbstorganisierte Übergänge von einem Ordnungszustand in einen anderen) mit ihren typischen
Nicht-Linearitäten: Zwischen der unabhängigen Variablen und der Abhängigen gelten dann
keine klassischen Regeln der Form: „je mehr von dem einen desto mehr von dem anderen“
mehr, sondern plötzlich ist der Zustand und die Geschichte des Systems dafür mitentscheiden,
ob auf eine Veränderung der Bedingungen fast keine oder eine massive Reaktion erfolgt (vgl.
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Kriz 1999). Solche Eigenschaften sind aber typische für lebende Systeme – und beim
Menschen kommt sogar noch hinzu, dass nicht die Dinge selbst, sondern die Meinung und
Auffassung über diese Dinge zentral für das Verhalten und Handeln ist. Schon der Verhaltenstherapeut Meichenbaum hat in einer klassischen VT-Studie gezeigt, dass selbst beim
Konditionieren weniger die „unabhängige Variable“ eine Rolle spielt sondern die
Interpretation und das Verständnis dieser Variable bei den betroffenen Menschen
(Meichenbaum 1979).
Eigentlich müssten Psychologen daher als Grundlegung späterer psychotherapeutischer
Tätigkeit an methodischem Know-how neben Statistik und experimentellen Vorgehensweisen
auch methodische Kenntnisse aus dem Bereich der Geistes- Sozial- und Kulturwissenschaften
lernen – z.B. Kenntnissen der Systemtheorie und in qualitativer-ideographischer Datenerhebung und ihrer Analysemethoden (vg. Kriz 2010). Doch dies geschieht kaum oder gar nicht.
Und entsprechend dem Bonmot, dass derjenige der nur einen Hammer besitzt, dazu neigt alles
wie einen Nagel zu behandeln, behandeln eben Psychologen auch das breite Spektrum an
Forschungsfragen in der Psychotherapie mit einem einzigen – und oft unangemessenen –
methodischen Werkzeug. Und entsprechend diesem Werkzeug wird dann rückwirkend die
Anwendung von Programmen (wo das Werkzeug noch einigermaßen greift) gegenüber der
Entfaltung von Prinzipien völlig einseitig überbetont – oder gar als einziger Zugang begriffen.
3. Eine Fallgeschichte
3.1. Zwischen-Resümee: Die Weisheit liegt im Dazwischen bzw. Miteinander
Die Frage, warum sich das Entfalten von Prinzipien im Gegensatz zur Anwendung von
Techniken der RCT-Logik widersetzt, lässt sich auch mit dem Hinweis auf den Ort bzw.
Verursacher der Wirkung diskutieren: Wenn ein pharmazeutischer Wirkstoff im Rahmen
einer medizinischen Studie verabreicht wird, so ist der Verursacher der Wirkung dieser
Wirkstoff. Zwar spielen auch Vermutungen und Glauben des Patienten über die Wirksamkeit
eine Rolle, aber dies wird mit einem Placebo hinreichend kontrolliert – ebenso der unbewusste oder bewusste Einfluss des Wissens des „Verabreichers“ (eben die sog. „Doppelblindstudie“). Jede Beziehung zwischen Verabreicher und Patient ist eher eine Störvariable in
dieser Art „sauberer“ Forschung.
Schon der o.a. Hausarzt aber hat nicht nur eine Beziehung zu seinem Patienten, sondern er
weiß dass es weise ist, diese auch zur Unterstützung der Heilung einzusetzen. Er hätte also
nichts dagegen, ein Placebo zu verabreichen, wenn es im betreffenden Fall wirkt.
Psychotherapeuten haben aber fast nur ihre Beziehung, die sie nutzen können. Diese wird
ergänzt um spezifische Vorgehensweisen und Techniken (die aber zum großen Teil auch
wieder aus „Beziehung“ bestehen – wenn auch verklausuliert und in genauerer Form, Inhalt
und Ausmaß unklar bis unreflektiert). Wie oben schon argumentiert ist nicht einmal versuchsweise die Verabreichung einer Psychotherapietechnik ohne Beziehung möglich. Daher gibt es
auch keine Placebo-Beziehung. Sowohl Patienten als auch Therapeuten machen sich Gedanken – „ihren Reim“ – darüber, was gerade abläuft, was wichtig sein könnte, wie das Erfahrene
zu verstehen ist, etc. Dennoch kann man dann, wenn die Anwendung von Technik stark im
Vordergrund steht, dieser dann noch zu einem gewissen Teil die Verursachung beobachteter
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Veränderung zuschreiben (wenn viele andere Einflussgrößen hinreichend beachtet bzw.
„kontrolliert“ worden sind).
Je mehr es aber um die Entfaltung von Prinzipien geht, je größer also die Freiheitsgrade des
Therapeuten werden, desto weniger gibt es eine „ursächliche“ Intervention oder gar
„Technik“ im komplexen Beziehungsangebot und den sich daraus situationsspezifisch
ergebenden genauen Vorgehensweisen. Mindestens ebenso bedeutsam aber ist, dass vieles im
engeren Sinn gar nicht dem Therapeuten allein zugeschrieben werden kann – denn schon das
Wort Beziehung verweist darauf, dass mindestens zwei Personen beteiligt sind (auch dann,
wenn der Therapeut ein bestimmtes Beziehungsangebot einbringt, muss dieses quasi „angenommen“ werden, was zumindest heißt, dass die konkrete Handlungsrealisation überaus
flexibel und passend gestaltet werden muss). Während eine Technik somit eher beim Therapeuten liegt, liegt die erfolgreiche Beziehung bei beiden. In der Begrifflichkeit des Themas
dieses Bandes könnte man auch sagen: die Weisheit der Psychotherapie liegt hier im komplexen Beziehungsgeschehen – an dem Therapeut und Klient als Organismen, reflektierende
Wesen, Angehörige vielfältiger Sozialsysteme, Verkörperungen und Versinnbildlichungen
vielfältiger biographischer Verfahren etc.
Wer versucht, diese Komplexität in einzelne Wirkfaktoren aufzulösen, könnte – um eine
bekannte Metapher zu verwenden – genauso gut die Fäden aus einem Gewebe ziehen, um
anhand deren Länge und Farbe herausfinden zu wollen, warum das Muster so ästhetisch
wirkte.
3.2. Die Fallgeschichte
Vor wenigen Wochen stieß ich zufällig auf eine Fallgeschichte, bei der sofort die Assoziation
aufkam, sie könnte sich gut zur Demonstration des in diesem Beitrag Gemeinten eignen. Es
handelt sich um die Dokumentation im Rahmen einer Abschlussarbeit in Biosynthese – einer
körperorientierte Form der Psychotherapie, die in dieser Art von David Boadella (1991)
entwickelt wurde. Therapeutin ist Devi Rada Rageth, die diese Arbeit auch publiziert hat
(Rageth 2003). Die Klinik liegt nicht in der BRD sondern in der Schweiz – denn Biosynthese
ist, wie der allergrößte Teil therapeutische Vielfalt, derzeit nur jenseits der Machtgrenzen von
WBP und „Gemeinsame Bundes-Ausschuss“ (G-BA) möglich – also außerhalb der BRD
oder abgedrängt in die Illegalität der „Abrechnungs-Grauzonen“ Die Fallgeschichte kann hier
natürlich nur sehr stark gekürzt und ausschnitthaft wiedergegeben werden - und zu diesem
Zweck wurde teilweise umformuliert, ohne (hoffentlich) etwas vom Sinn zu verändern:
Vorgeschichte: Frau L. wird mit der Diagnose „schwere Konversionsstörung mit ausgeprägtem regressivem
Verhalten; Astasie und Abasie“ (Unfähigkeit zu Gehen und zu Stehen - ohne neurologischen Befund) auf die
Gerontostation der Klinik eingeliefert, da sie, obwohl erst 47-jährig, zu 100% pflegebedürftig ist. Laut Krankenakte leidet Frau L. an einer depressive Erkrankung seit etwa zehn Jahren. Vor drei Jahren wurde ‚Morbus Pick‘
diagnostiziert (unheilbare frontale Hirnatrophie mit rascher Progredienz, die mit der Zeit zu "Verblödung und
Tod" führt) und ihre zunehmende Verhaltensauffälligkeit durch hirnorganische Veränderungen erklärt. Die
Patientin ist seit ca. drei Jahren stuhl- und urininkontinent.
Gemäß Schilderung ihres Ex-Mannes war Frau L. die letzten drei Jahre nicht mehr in der Lage, sich selbst zu
versorgen, zu laufen oder zu stehen, sowie den Haushalt und die Körperpflege zu machen. Durch die langjährige
Bettlägerigkeit entwickelte sich eine ausgeprägte Muskelatrophie der unteren Extremitäten. Sie wurde vom
kantonalen Pflegedienst versorgt.
Sowohl Psychotherapeutin (D.R.) als auch Ärzte sind unsicher, ob Therapie im engren Sinn möglich und indiziert ist, da Frau L. nicht länger als ein paar Minuten am Bettrand sitzen kann, und ‚Morbus Pick‘ mit großen
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Verhaltensstörungen und kognitiven Einbussen verbunden ist. Es wird entschieden, dass D.R. zwar keine
Therapie machen, aber zumindest Unterstützung des Befindens durch Gespräche durchführen solle.
In den Pflegeberichten wird geschildert, das sie bei pflegerischen Maßnahmen besserwisserisch auftrete, und
durch Verweigerung, Abneigung, Entschlossenheit, nichts Neues zu machen, ihren Willen durchsetze. Sie weint,
klagt und jammert über Schmerzen nach wenigen Minuten Sitzen am Bettrand; will nicht einmal mehr dies
versuchen
Therapeutische Begegnung: D.R. schreibt als Handlungsmaxime: „Meine Absicht ist keinesfalls, die Patientin
wieder mobilisieren zu wollen. Ich habe kein Vorhaben, sie zum Sitzen zu überreden.“
Nach drei Sitzungen, in denen Frau L. gern aus ihrer Lebensgeschichte erzählt, berichtet Frau L. zu Beginn der
4. Sitzung (alle am Krankenbett durchgeführt) wieder von starken Schmerzen. Es heißt im Bericht von D.R.:
„Ich schlage vor, dass wir den Schmerz vorsichtig erforschen, ohne über die Schmerzgrenze gehen zu wollen.
Die Patientin ist einverstanden….
Gleichzeitig vergesse ich nicht, dass jede Art von Leistungsanforderung, Anstrengung und Fremdbestimmung
für die Patientin eine Qual darstellt. In solchen Situationen fühlt sie sich schnell missachtet, nicht wahrgenommen und übergangen. Also, Überforderung stellt eine Gefahr dar. Herausfordern, aber nicht Überfordern…
Ihre Knie sind gebeugt und ich lege, mit ihrer Einwilligung, meine Hände seitlich auf ihre Knie. Ich halte und
unterstütze, ohne zu drücken oder zu versuchen, eine Bewegung hervorzurufen. Ich halte einfach ihre Knie,
leicht, aber klar und spürbar.
Wir sprechen über ihre Beine, was sie gerne machen, was sie nicht schätzen, wie sie sich fühlen. Meine Berührung der Beine ist unterstützend und wärmend (Erde und Feuer).
Die Patientin spricht über die Schwäche, Anspruch, Überforderung; über das, was ihre Beine schon alles machen
mussten, wie sie gehorchen mussten, für die Anderen so vieles tun, mitmachen mussten.
Das Wort „müssen“ sprach sie in einem bitteren Ton aus.
Ich lege wärmend meine Hände auf ihre Unterschenkel. Sie berichtet von einem kleinen Hauch von Lebendigkeit
in den Beinen.
Ich lade sie ein, hinein zu hören, ob im Körper irgendwo eine Bewegung entsteht, ein Impuls nach Bewegung.
Was möchten die Beine?
Ihre Beine beginnen sich ganz leicht hin und her zu bewegen, ich unterstütze sie mit meinen Händen sehr sanft,
ich begleite sie nur und versuche nicht, die Bewegung zu verstärken.
Dann werden die Beine wieder ruhig, wie ermüdet.
Meine Hände sind jetzt an ihren Füssen, ich gebe ihnen ein bisschen Halt und nur einen Hauch Widerstand. Sie
beginnt ganz leicht, mit diesem Widerstand zu spielen, sich auf den Kontakt einzulassen. Der Kontakt wird
lebendig und spielerisch.
Ich nehme wahr, dass die Bewegung ihrer Füße auf einmal zögerlich wird, Frau L. atmet leiser, ihr Gesicht
verliert an Lebendigkeit.
Auf Nachfrage berichtet sie, sie habe das Gefühl, dass ich die Führung übernommen habe, sie sei nicht mehr frei.
Dieses Gefühl blockiert sie, das habe sie nicht gerne.
Ich lade sie ein, zu spüren, ob es auch eine andere Möglichkeit gibt, auf meinen "Übergriff" zu reagieren, als
sich zurückzuziehen.
Vielleicht hat sie Lust, ihren Widerwillen, ihren Widerstand zu zeigen?
Sie stößt, zuerst vorsichtig, mit ihren Füssen meine Hände weg. Und dann immer wieder, stärker und kraftvoller.
Die Bewegung wird lustvoll und freudig.
Ich ermutige sie, in ihrem Ausdruck zu bleiben.
Sie ist voll dabei, ihre Beine belebt, ihre Augen funkeln.
’Was stoßen sie weg?’ frage ich vorsichtig.
‚Alles, was mich stört, einengt, jeden, der von mir etwas will, mich zu etwas zwingt, mir etwas befiehlt’
Die Beine stoßen kraftvoll….“
An dieser Stelle wird der Prozess durch eine Pflegeperson unterbrochen, die unangeklopft eintritt. Sie wird von
der Therapeutin sofort hinausgeschickt, aber Frau L. erschlafft abrupt. Es heißt weiter:
„Ich schaue Frau L. an. Sie liegt bewegungslos, ihre ganze Lebensenergie hat sich nach innen zurückgezogen.
Sie wirkt hilflos und verloren.
Ich ermutige sie, aus dem Rückzug rauszugehen, ihre Gefühle zu zeigen. Ich bestätige, dass mich dieses unangemeldete Reinplatzen auch gestört und frustriert hat.
‚Wie kann man nur so?’ kommt leise durch ihre Lippen.
Ich ermutige sie nochmals, dem was in ihr ist, Raum zu geben.
Anfänglich zögerlich, dann mit kräftigerer Stimme, ruft sie aus: ‚Raus, Weg, genug. Ich habe auch das Recht’
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Sie macht die abwehrenden Bewegungen zuerst mit den Beinen, dann beginnen sich auch ihre Arme zu
bewegen: ‚Weg, Weg, Weg.’
Ich unterstütze sie in ihrem Recht, sich zu verteidigen, sich zu wehren, Raum einzunehmen.
Sie tobt und schreit und freut sich an ihrem Ausdruck wie ein kleines Kind. Sie wirft ihr kleines Kissen Richtung
Tür.
Ich fange es auf und werfe es ihr zurück. Sie nimmt das Spiel auf, wirft immer wieder mit dem Kissen nach mir.
Ihre Bewegungen werden schwungvoll. Sie sitzt aufrecht im Bett, ohne es wahrzunehmen“
Es werden noch zwei weitere wichtige Aspekte von der Therapeutin in dieser Sitzung wahrgenommen und
aufgegriffen: Eine Art Spuckbewegung führt dazu, dass Frau L. das Bild von „Sperma in ihrem Mund“
thematisiert und spuckend ausagiert (sie war als Kind von ihrem Opa zum Oralsex missbraucht worden). Und
das Aufkommen einer Art innerer Stimme „ich bin schlecht“, die Frau L. als Zuschreibung ihrer Mutter erinnert.
Die Sitzung endet:
„Ich frage sie, wie sie sich wünscht, die Stunde abzuschließen, ob es noch was gebe, was wir machen konnten.
Ihr Gesicht wird dunkler:
‚Ja, ich weiss, ich sollte noch richtig aufstehen, alleine stehen können, aber ...’
‚Und was sagen die Beine?’
‚Nein, die wollen nicht. Die sind müde.’
Ich erkläre meine Frage von vorher: Ob sie noch etwas machen wolle, ob ihr noch etwas Freude, Spaß machen
würde und nicht, was sie machen sollte oder müsste oder was sie meint, dass ich von ihr erwarte. Was ein Erfolg
wäre.
Sie strahlt: ‚Ich möchte noch ein bisschen spielen, wie am Anfang. Spielen, Freude haben. Bewegen’
Sie sind doch erwachsen.
‚Ja ich bin erwachsen.’ Sie lacht.
‚Und ich bin ein kleines Mädchen, das gerne spielt’.
Wir heißen beide willkommen, das Mädchen und die Frau. Sie haben beide das Recht, da zu sein.
Das Recht haben, da zu sein. Freude und Kraft zu spüren..“
Dass hier etwas Wesentliches geschehen ist, lässt sich auch anhand von Beobachtungsdaten
Dritter objektivieren – nämlich Eintragungen des Pflegepersonals am Tag nach der Sitzung:
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Wieso kann Frau L. heute vom Zimmer ins WC laufen?
Wieso war Frau L. die letzten ein paar Tage derart nass?
Es könnte sein, dass sie immer im Zimmer gelaufen ist, solange sie wusste, dass nur jemand ins Zimmer
kommt, wenn sie läutet.
Überlegte, dass sie evtl. Wasser ins Bett leert.
Fühle mich verarscht.
Weint kaum mehr! Hört oft Musik!
und aus Einträgen in den Folgetagen:
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Sie sitzt alleine auf der Bettkante und erzählt, dass sie sich glücklich und zufrieden fühle. Sie ist jetzt auf der
Erwachsenenebene.
Frau L. wirkt zufriedener. Hört öfter Musik und steckt sich keine hohen Ziele mehr. Sass nach der
Körperpflege auf der Bettkante.
Frau L. ist schon ein paarmal auf WC gelaufen. Danach hat sie selber geduscht, fühlte sich müde danach
und sagte, dass die für heute genug hat.
Frau L. erledigt die Körperpflege fast selbst. War am Morgen in der Körpertherapie und kam nicht per
Rollstuhl zurück sondern laufend. Beteiligte sich im Gruppengespräch.
Sie weint vermehrt und sehnt sich nach Geborgenheit.
War in der Kantine und hat sich einige Seidenschals gekauft.
Will ihre Zähne in Ordnung bringen.
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In den drei weiteren Sitzungen mit D.R. – eine noch am Krankenbett, zur nächsten kommt Frau L. in Begleitung
dann sogar ganz allen zum Therapieraum – steht die Festigung dieses Prozesses im Zentrum, Stabilisierung,
Stärkung der Abgrenzung und gleichzeitige Beachtung, nicht zu viel zu fordern. Bevor Frau L. in eine
Rehabilitationsklinik verabschiedet wird (für 4 Wochen), heißt es im Fallbericht:
„Sie berichtet vom Wunsch, wieder eine Wohnung zu beziehen, oder in einer WG zu leben. Zuerst möchte sie
aber ihre Fortschritte stabilisieren und festigen. Die Zukunft bekommt Konturen“.
Insgesamt endet die Fallgeschichte mit folgenden Angaben:
„Frau L. lebt seit einigen Jahren in einer betreuten Wohngruppe, arbeitet handwerklich in einer geschützten
Arbeitsstätte, hilft bei der Betreuung ihrer Mitbewohner und ist in der Selbstpflege weiterhin völlig selbständig.
Sie ist Großmutter geworden und hat sehr viel Freude an ihrem Enkelkind, dass in ihrer Nähe wohnt.
Und in die Therapie geht sie jede drei Monate.
…
Die ‚Morbus-Pick‘-Diagnose hat sich als Fehldiagnose erwiesen. (Der zweite MRI – Befund zeigte keine
Progredienz der Hirnatrophie).“
3.3 Schlussbetrachtung
Ähnlich wie in der o.a. fiktiven Fallgeschichte von Plaum wissen wir bei dieser realen
Fallgeschichte von Rageth nicht, was nun „wirklich“ zur Veränderung geführt hat. Auch die
Publikation selbst ist keineswegs ein enthusiastisches Bekenntnis zur Biosynthese, sondern
erhebt selbstkritisch die Fragen, was von den vielen anderen Umständen und Pflegeangeboten
der Klinik den Veränderungsprozess unterstützt haben mag. Vermutlich sind hier viele
günstige Aspekte zusammengekommen – im Sinne eines „Kairos“ – von einer achtsamen,
nicht überfordernden therapeutischen Beziehung bis hin zur „Reifung des Wunsches, nach
Veränderung in der Patientin selbst“ (was immer auch damit gemeint sein soll). Nichts davon
hätte in einem RCT-Design einen sinnvollen Platz. Und es dürfte auch große Schwierigkeiten
bereiten, das dargestellte Vorgehen in irgendeinem Sinne als Technik oder als operationalisierte Anweisung in ein Programm aufnehmen zu wollen. So etwas wäre bei Frau L. vermutlich sogar kontraindiziert gewesen, da sich die Abwehr ja gerade auch an programmatischen Anforderungen festmachte.
Statt einer programmatischen Anwendung von als Therapietechnik zu bezeichnenden Vorgehensweisen handelt es sich hier also eher um die patienten- und situationsgerechte
Entfaltung von Prinzipien. Zumal die konkrete Vorgehensweise nicht einmal spezifisch der
Biosynthese zuzuordnen wäre, sondern von vielen Unter-Richtungen der Humanistischen
Psychotherapie hätte gestaltet werden können - vielleicht im Detail mit Unterschieden aber
insgesamt übereinstimmend mit der Entfaltung von Achtsamkeit, Anerkenntnis („positive
regard“) der Bedürfnisse aus dem inneren Bezugsrahmen des Patienten heraus und Unterstützung der Selbstaktualisierungs-Potentiale (s. Kriz 2008).
Trotzdem können auch solche therapeutischen Qualifikationen und Ausbildungen sehr wohl
wissenschaftlich untersucht, evaluiert und somit fundiert weiterentwickelt werden. Dies liegt
in Ländern wie Österreich, wo konkrete Ausbildungsprogramme und Institute anerkannt und
zugelassen werden, mehr in der Logik als in der BRD, wo der G-BA auf der Zulassung
abstrakter Verfahren besteht – unabhängig davon, wie dann diese konkret in Ausbildung
umgesetzt werden. Aber selbst in der BRD wäre dies unter Anwendung evidenzbasierter
Medizin möglich, sofern diese im eben im Sinne der Begründer der evidenzbasierten Medi15
zin verwendet wird und nicht in missbräuchlicher Weise reduziert und allein auf die Logik
der Pharmaforschung reduziert wird. Und auch, wenn ein einzelner Fallbericht, wie der oben
referierte, kein gewichtiges Argument für die Wirksamkeit sein kann, wäre eine große Fülle
solcher nachprüfbaren Fallverläufe durchaus etwas, was nicht ignoriert werden sollte. Zur
Ausbildungsstruktur der „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie“,
GwG, gehörte beispielsweise, dass zur Erteilung des Zertifikates fünf erfolgreich abgeschlossene Behandlungen – dokumentiert mit diagnostischen Unterlagen, Falldarstellungen und
Belegen der Vorgehensweise anhand mehrerer Tonbänder – von einer Supervisionsgruppe
positiv evaluiert werden mussten. Bei rund 2.000 Therapeuten darf man von mindestens
10.000 solcher sorgfältig evaluierten Fälle ausgehen. Es ist schwer nachvollziehbar, warum
die Fülle eines solchen Materials bei der Urteilsfindung über die Wirksamkeit als völlig
irrelevant erachtet wird – im Gegensatz zu einer Laborstudie, in der an vielleicht 20 oder 30
Patienten bestimmte Parameter signifikant verbessert wurden.
Wie argumentiert wurde, erfordert Psychotherapie grundsätzlich auch „Weisheit“ – d.h. nicht
operationalisierbare aber wesentliche Aspekte für erfolgreiches Handeln. Es wäre zu wünschen, dass von diesen Qualitäten der Psychotherapeuten vielleicht ein wenig auf die Beurteiler überschwappt und die Beschränkung auf eine Methodologie des 19. Jahrhunderts überwunden wird. Etwas Weisheit täte auch dem WBP und dem G-BA tut.
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(neuauflage 2009: Darmstadt : Schirner)
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Therapeuten. In: Tschuschke, V.; Czogalik, D. (Hrsg.): Psychotherapie - Welche Effekte
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Kriz, J. (1996): Grundfragen der Forschungs- und Wissenschaftsmethodik. In: Hutterer-Krisch, R.
et.al.: Psychotherapie als Wissenschaft - Fragen der Ethik, Bd. 5 der "Serie Psychotherapie" (Hrsg.:
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UTB/ Facultas (3. Aufl.)
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Kriz, J. (2008): Self-Actualization: Person-Centred Approach and Systems Theory. PCCS-books.
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Kriz, J. (2010): Was leistet das Psychologiestudium und was fehlt ihm im Hinblick auf eine
psychotherapeutische Ausbildung und Tätigkeit? Psychotherapeutenjournal (PTJ), 9, 2, S. 130-140
Meichenbaum, D.W. (1979): Kognitive Verhaltensmodifikation. München: Urban & Schwarzenberg
Plaum, E. (1999): Weshalb fährt der IC 781 am 26. Geburtstag von Sabine M. um 13.49 Uhr mit einer
Geschwindigkeit von 82,5 km/h durch den Bahnhof Eichstätt? Oder: Das Elend mit der Suche nach
reinen Wirkfaktoren in einer hochkomplexen Realität. Gestalt Theory, 21, 191–207.
Rageth, D. R. (2003): Im Fluss des Lebens Eine Leibgeschichte. Energie & Charakter, S. 19-33
Schorr, A. (1984): Die Verhaltenstherapie. Weinheim: Beltz
16
Uexküll, T. v. (1963): Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek
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Westmeyer, H. (1978): Wissenschaftstheoretische Grundlagen der klinischen Psychologie. In:
Baumann, U. et al. (Hrsg.): Klinische Psychologie – Trends in Forschung und Praxis. Bern: Huber,
108-132
Westmeyer, H. (1980): Zur Paradigmadiskussion in der Psychologie. In: Michaelis, W. (Hg.),
Kongressber.d.Dt.Ges.f.Psychol, Göttingen: Hogrefe, 115-126
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Bio - bitte gern kürzen / umformulieren
Jürgen Kriz, Jg. 1944, Dr. phil, Universitätsprofessor em. für „Psychotherapie und klinische
Psychologie“ (1980-2010), Universität Osnabrück; hatte zuvor auch Professuren in Statistik,
Forschungsmethoden und Wissenschaftstheorie (teilweise überlappend – 1999).
Psychologischer Psychotherapeut, Dozent an mehreren Weiterbildungs-Studiengängen zum PP.
Ehrenmitglied d. Systemischen Ges., Berlin, und d. Internat. Ges. f. Logotherapie und
Existenzanalyse, Wien; Vors. des Wiss. Beirats der GwG (2003-8); Mitglied im „Wiss. Beirat
Psychotherapie“ (WBP) (2004-2008).
Zahlreiche Lehraufträge u. Gastprofessuren in Österreich, Schweiz, USA, Lettland, Russland; 2003
„Paul-Lazarsfeld-Gastprofessor“ Uni Wien; 2004 Viktor-Frankl-Preis der Stadt Wien für das
Lebenswerk in Humanistischer Psychotherapie.
Herausgeber der Buchreihe „Basiswissen Psychologie“ (rd. 40 Bände); Mit-Hrsg.
von „Gestalt-Theory“ sowie der Buchreihen „Psychotherapie: Ansätze und Akzente“ und
„Familienpsychologie – Familientherapie – Systemische Therapie“. Wissenschaftlicher Beirat von
„Psychotherapeut“, „Integrative Therapie“, „Existenzanalyse“, „Psychotherapie im Dialog (PiD)“,
„Person“, „Familiendynamik“ und „Person-Centered and Experiential Pychotherapies“.
Arbeitsschwerpunkte: Im Rahmen seiner „Personzentrierten Systemtheorie“ Arbeit an einer
strukturwissenschaftlich fundierter Systemtheorie (Synergetik) mit Psychotherapie/Psychopathologie
ferner: Fragen der Forschungsmethodik. 21 Bücher und ca. 250 Beiträge und über klinischtherapeutische und methodisch-statistische Fragen
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