Interview: Prof. Dr. Merz-Atalik über den Status quo und künftige Herausforderungen inklusionsorientierter Lehrerbildung Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik ist Professorin für Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung/Inklusion an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt in der inklusionsorientierten Lehrerbildung. Sie hat zahlreiche Modellprojekte begleitet und sowohl in nationalen wie internationalen Forschungsprojekten mitgearbeitet. Im Zuge der Publikation „Inklusionsorientierte Lehrerbildung – vom Schlagwort zur Realität?!“ hat Frau Prof. Merz-Atalik in einem Interview interessante Aspekte des Themas beleuchtet, die an wenigen Stellen ergänzt und aktualisiert wurden. Monitor Lehrerbildung: Frau Merz-Atalik, was verstehen Sie unter dem Begriff der Inklusion? Merz-Atalik: Für mich handelt es sich bei Inklusion um die Partizipation aller Menschen an den Institutionen und Angeboten in unserer Gesellschaft. Im Bereich der Bildung bedeutet sie die Teilhabe an Lernprozessen und Kulturen einer gemeinsamen Schule für alle sowie den Abbau von Barrieren oder Aspekten von Exklusion. Monitor Lehrerbildung: Ist die Vorbereitung auf Inklusion in der Lehrerbildung im Sinne der UN-Konvention realistisch und umsetzbar? Merz-Atalik: Wir können in der ersten Phase der Lehrerbildung nicht alles fundiert grundlegen, was Lehrkräfte später in ihrer schulischen Praxis benötigen. Wir müssen auf jeden Fall stärker daran arbeiten, dass es auch in der dritten Phase der Lehrerbildung, also in der Lehrerfort- und -weiterbildung, viele Angebote gibt, um sich für die ganz spezifischen Inklusionsanforderungen in der eigenen Praxis zu professionalisieren. Die abschließenden Bemerkungen der UNCRPD-Kommission zum Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (Mai 2015) verweisen klar auf die Notwendigkeit alle Lehrkräfte auf diese Aufgaben besser vorzubereiten. "46. (d) Ensure training of all teachers in inclusive education and increased accessibility of the school environment, materials and curricula, ...". Monitor Lehrerbildung: Welche Modelle zur Vorbereitung auf Inklusion sind in der ersten Phase der Lehrerbildung denkbar? Merz-Atalik Ich habe ein Konzept entwickelt, bei dem Module in verschiedenen Förderbereichen für alle Lehramtsstudiengänge angeboten werden (vgl. MerzAtalik 2014)1. Ein solcher Förderbereich wäre zum Beispiel Sprache und Kommunikation. In diesem würden Hochbegabungen genauso thematisiert wie Sprachbeeinträchtigungen und der Studienbereich wäre für alle Lehramtsstudiengänge zugänglich. Monitor Lehrerbildung: Inwieweit werden Lehramtsstudierende auf den Unterricht in inklusiven Schulen vorbereitet? Merz-Atalik In Deutschland dominieren aktuell leider die Infusions-Modelle. Die Problematik von solchen additiven Modulen zur Inklusion ist, dass die Studierenden selber die Vernetzung z.B. mit der Fachdidaktik, den Fachwissenschaften, der Psychologie und der Soziologie herstellen müssen. Oftmals gelingt ihnen diese Integrationsleistung während des Studiums gar nicht, sondern erst in der Schulpraxis, also im Rahmen von Praktika oder später im Referendariat. Monitor Lehrerbildung: Welche Kompetenzen und Kenntnisse müssen (angehende) Lehrerinnen und Lehrer denn unbedingt im Studium erwerben? Merz-Atalik: Das sind einmal Teamarbeit, Kooperationskompetenz und Team Teaching. Man braucht als Basis die Voraussetzung zu wissen, wie man Teamarbeit planen, vorbereiten und gemeinsam reflektieren kann. Der zweite Aspekt ist die individualisierende Gestaltung von Unterricht und Lernumgebung. Die hierzu benötigten Kompetenzen müssen in alle Lehrämter als fächerübergreifende Basisqualifikation eingebunden werden. Der dritte Punkt ist die individuelle Förderung, Entwicklungsplanung und Diagnostik. Natürlich können wir nicht jede Lehrkraft in allen Förderbereichen ausbilden. Aber alle sollten die Möglichkeit haben in ihrem Studium zumindest einen Bereich zu vertiefen. Monitor Lehrerbildung: Sie sprachen von der multiprofessionellen Zusammenarbeit: Wie könnte oder sollte diese zukünftig aussehen? Merz-Atalik: In der letzten Konsequenz meines Konzepts würde es bedeuten, dass wir Lehrerinnen und Lehrer nicht nach niveaudifferenzierten Schulformen, sondern nach Schulstufen ausbilden. Wir hätten eine Primarstufen-, einen Mittelstufen- und einen Sekundarstufenlehrkraft. Diese hätten die Möglichkeit, sich in einem der Förderbereiche zu spezialisieren. Leider existiert in der Praxis immer noch die Annahme, es gäbe ein Modell oder Konzept, das in jeder Klasse funktioniert. Es gibt nach wie vor die Vorstellung, man könnte so etwas wie einen einheitlichen Rahmen entwickeln, wie Inklusion funktioniert. Inklusion sieht natürlich von Klassenzimmer zu Klassenzimmer unterschiedlich aus, je nachdem, welche Kinder und Jugendliche man in der Klasse hat, welche Lernbedürfnisse, Kompetenzen und Stärken, aber auch welche Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Lernen man antrifft. Nicht zuletzt ist die Umsetzung der Inklusion auch abhängig davon, welche Kompetenzen die Lehrkräfte haben, um mit den nicht vorhersehbaren Konditionen zu arbeiten. Monitor Lehrerbildung: Welche Rollen können die Praxisphasen bei der Qualifizierung der angehenden Lehrkräfte für die Arbeit in inklusiv arbeitenden Schulen spielen? Merz-Atalik: Alle Lehramtsstudierenden sollten ihre Praktika in inklusiven Settings absolvieren können, die Effekte für die Einstellungen, die Vorbehalte und Ängste bei Studierenden als auch auf ihre Selbstwirksamkeitserwartung sind international nachgewiesen. Es gibt viele Schulen, die gute Konzepte entwickelt und langjährige Erfahrung haben. Davon müssen wir in den Hochschulen stärker profitieren. Mein dringender Rat wäre, in den Praxisphasen stärker mit den Schulen zusammenzuarbeiten. Monitor Lehrerbildung: Wie steht es denn um die Kompetenz der Lehrerausbilderinnen und Lehrerausbilder? Und wie wird das bestehende Personal weiterqualifiziert, um Inklusion in der Lehrerbildung zu vermitteln? Merz-Atalik: Die Dozierenden an den Hochschulen sind derzeit noch nicht ausreichend für diese Fragen qualifiziert. Das gilt für Deutschland, aber auch für viele andere europäische Länder. Dass jetzt neues Personal an die Hochschulen geholt wird, darf nicht die einzige Lösung bleiben. Es ist viel wichtiger, das bestehende Personal für diese Herausforderungen zu qualifizieren. Monitor Lehrerbildung: Lassen Sie uns kurz über die Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz - Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt (März 2015) sprechen. Wie können Hochschulen bei der Umsetzung unterstützt und welche Anreize können gegeben werden? Merz-Atalik: In der Empfehlung heißt es jetzt erstmalig: "Die Gestaltung von Schulen, in denen Vielfalt als Normalität und Stärke anerkannt und wertgeschätzt wird, ist eine Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer aller Schulen. Der professionelle Umgang mit Inklusion kennzeichnet künftig eine allgemeine Anforderung an die Lehrerbildung. Die Lehrerbildung für eine „Schule der Vielfalt“ ist deshalb eine Querschnittsaufgabe, der sich die Bildungswissenschaften, Fachdidaktiken und Fachwissenschaften im lehramtsbezogenen Studium für alle Lehramtstypen gemeinsam und aufeinander abgestimmt widmen müssen". Anreize für die Lehre und die Forschung könnten der dringende Bedarf in der bereits existierenden inklusiven Praxis sein. Monitor Lehrerbildung: Möchten Sie noch etwas Abschließendes sagen? Merz-Atalik: Die Hochschulen sollten Inklusion als übergreifende Herausforderung für alle Studiengänge erkennen. Auch jemand der Architektur oder Ingenieurwissenschaften studiert, sollte sich mit Fragen der Benachteiligung, der Exklusion auseinandersetzen. Inklusion ist nicht nur ein Thema für die Lehrerbildung, sondern ein Thema für die Hochschulbildung allgemein. Monitor Lehrerbildung: Wir danken Ihnen herzlich für das freundliche und informative Gespräch. 1: Merz-Atalik, Kerstin (2014): Lehrer_innenbildung für Inklusion – „Ein Thesenanschlag“. In: Schuppener, Saskia et al. (Hrsg.): Inklusion und Chancengleichheit. Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik. Klinkhardt: Bad Heilbrunn, 266-277.