HERBSTSTRASSE 15 Ein Raum in der Nachbarschaft Das ehemalige Gasthaus in der Herbststraße 15 wird seit Mai 2014 von der Gebietsbetreuung Stadterneuerung (GB*), der Caritas Wien (Projekt Grätzeleltern) und dem 1. Wiener Leihladen (Leila) als offener Raum in der Nachbarschaft betrieben. Das Projekt wird von der österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen eines europäischen Forschungsförderungsprojektes wissenschaftlich begleitet. Als offener Möglichkeitsraum gibt das Projekt keine Inhalte vor, sondern reagiert bewusst auf die realen Anforderungen des konkreten Stadtteils. Ein interdisziplinäres Team (ArchitektInnen, SozialarbeiterInnen, LandschaftsplanerInnen, SoziologInnen, JuristInnen, StadtgeografInnen, etc.) beschäftigt sich in Theorie und Praxis mit dem Stadtteil und fördert den informellen Wissensaustausch unter den BewohnerInnen. ZIELSETZUNG Ziel ist es, die Ressource Raum mit der Ressource des sozialen Kapitals des Stadtteils derart zu verschränken, dass positive Impulse aus der Bevölkerung für das Leben im Stadtteil entstehen. In Zeiten globaler Verunsicherungstendenzen ist die lokale Ebene des Stadtteils ein umso wichtigerer sozialer Anhaltspunkt. Partizipation bezieht sich hier nicht auf ein Projekt, sondern auf das gesamte Leben im Quartier. In Zukunft soll auch ein struktureller Austausch mit lokalen EntscheidungsträgerInnen etabliert werden. UMSETZUNG Das Projekt vermeidet die Arbeit mit fertigen Konzepten. Am Beginn steht die Erkundung und Freilegung von Bedürfnislagen und vorhandenen Kompetenzen. Es wird Wissen generiert, Austausch und Vernetzung gefördert und dadurch die gesellschaftliche Teilhabe verbessert. An erster Stelle der Umsetzung stand (nach Absicherung der Finanzierung für die ersten 2-3 Jahre durch Projektbudgets der GB* und der Caritas) die Suche eines geeigneten Raumes. Mit der Herbststraße 15 konnte ein idealer Raum zu günstigen Konditionen gefunden werden: Ein Eck-Gasthaus, welches über 100 Jahre lang als Ort der Kommunikation diente, jedoch in den letzten Jahren leer stand. Der ungezwungene und informelle Austausch, der in einem Vorort-Gasthaus Tradition hat, soll hier weiterhin stattfinden können. Das GasthausFlair wurde beibehalten. An der Schank im Eingangsbereich bekommt man erste Informationen. Das Programm wird über Kreidetafeln neben der Eingangstür kommuniziert. SCHWERPUNKTE Neben direkten Befragungen von BewohnerInnen und den Kooperationen im Raum wird in der Startphase des Projektes das Konzept verfolgt, durch gezielte Angebote im Raum Kontakte und Vertrauen aufzubauen. Diese Angebote reichen von Näh- und Kochkursen bis hin zur Mietrechtsberatung des Juristen der GB*. Im nächsten Schritt wird Eigeninitiative ermöglicht. Wer etwas im Raum für oder mit anderen machen möchte, kann dies tun. So gibt es beispielsweise nach einem halben Jahr bereits zwei Sprachkurse und ein FoodsharingKochprojekt, die alle ehrenamtlich und auf Eigeninitiative stattfinden. Anfragen mit Ideen mehren sich von Tag zu Tag. Bei allen Aktivitäten dient der Raum als Wissensspeicher: Kochrezepte, Schnittmuster, Kursunterlagen, Bücher, Stadtteilgeschichten uvm. werden in einem begehbaren Regalsystem, dem sogenannten Stadtteilspeicher, archiviert. Per Leseecke, Werkbank und Kopierer steht das hier gesammelte Wissen allen zur Verfügung. Netzwerke werden auf ganz unterschiedlichen Ebenen aufgebaut: Mit lokal angesiedelten Institutionen wie der VHS, Volksschule, Modeschule, aber auch direkt mit Menschen aus der Gegend oder auch mit Arbeitenden (Siebdruckwerkstatt, Cafés, Künstlerin, Angestellte einer Wäscherei). Es wird versucht durch diese Vernetzung das Entstehen von Möglichkeitsräumen und neuen Perspektiven zu unterstützen. Dabei werden gezielt Synergien gesucht (z.B. Kooperation von Nähcafé mit der Modeschule). Einzelne Projekte und Aktivitäten werden für Förderungen eingereicht (z.B. Nähcafé für Frauen MA 57, Kochprojekt WIG, Stadtteilspeicher MA 7, …). Informationen und Erfahrungen aus der Bevölkerung werden an (politische) EntscheidungsträgerInnen weitergegeben. ERGEBNISSE Als erste Ergebnisse können unterschiedliche Gruppen und Einzelpersonen beobachtet werden, welche den Raum für vielfältige Aktivitäten nutzen. Neben dem Verfolgen von ganz konkreten Zielen, wie dem Erlernen und Austauschen von Fähigkeiten, sind auch zusehends einfach „Wohlfühlmomente“ zu beobachten. Darüber hinaus kann das Tun im Raum positive Effekte auf einzelne Biographien haben – zwei Frauen vom Nähkurs bekommen schon Anfragen für Auftragsarbeiten. Mittelfristig kann sich der Raum als Teil einer lokalen, informellen Bildungslandschaft etablieren und für die eine oder den anderen auch einen realen Effekt auf die Chancen am Arbeitsmarkt haben. ORGANISATION / FINANZIERUNG Die Organisation des Raumes liegt hauptsächlich bei den MitarbeiterInnen der GB*7/8/16. Die Auftragnehmer der GB* sind Hauptmieter des Lokales. Im laufenden Betrieb findet eine enge Abstimmung aller Beteiligten statt – GB*, Caritas und Leila bringen gleichberechtigt Ideen ein. Mittels gemeinsamem Kalender und Blog sowie regelmäßigen Treffen gibt es einen intensiven Austausch. Die laufenden Fixkosten für den Raum werden zu vereinbarten Anteilen der Nutzenden gemeinsam beglichen. Im Jahr 2014 gab es zusätzlich eine Unterstützung aus dem Europäischen Forschungsförderungsfonds im Rahmen des ICEC Urban Europe Projektes – sowohl für den Raum, als auch für Personalkosten. Der Großteil an Personalkosten wird derzeit von den beteiligten Institutionen selbst getragen, wobei Leila ein Verein mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen ist, die Caritas einen Großteil des Grätzeltern-Projektes im Raum abwickelt und die GB* aus dem laufenden Basisauftrag derzeit mit fünf MitarbeiterInnen (in Summe etwa eine Vollzeitstelle) vertreten ist. Leila – der erste Wiener Leihladen – ist eine physische Leihplattform für Gegenstände aller Art. Sowohl die nachhaltige Handhabe mit Ressourcen als auch ein vertrauensvoller Umgang untereinander stehen im Vordergrund. Leila sieht sich als Möglichkeit der konsumund statusorientierten Wegwerfgesellschaft entgegenzuwirken. Die Grätzeleltern sind ehrenamtliche MultiplikatorInnen, die andere BewohnerInnen in ihrem Umfeld über Anfrage besuchen. Sie bieten Hilfe zur Selbsthilfe bei verschiedenen Themen des Wohnens und Zusammenlebens – von gesunder Ernährung und Abfallvermeidung über Energiesparen und Schimmelbekämpfung bis zu wohnrechtlichen und sozialen Fragen. Sie bauen Brücken zwischen Menschen in schwierigen Wohnsituationen und professionellen Beratungsangeboten und Ansprechstellen. Die Grätzeleltern werden vom Projektteam der Caritas Wien begleitet und unterstützt. Die Gebietsbetreuung Stadterneuerung (GB*) ist als kostenlose Service-Einrichtung der Stadt Wien tätig. Die GB* berät und informiert zu Fragen des Wohnens, des Wohnumfeldes, der Infrastruktur, der Stadterneuerung, des Gemeinwesens und des Zusammenlebens in der Stadt. Für die Anliegen der BewohnerInnen engagieren sich ArchitektInnen, Raum-, Stadtund LandschaftsplanerInnen, RechtsexpertInnen und MediatorInnen. KONKRET Ein Tag in der Herbststraße 15 (kondensiertes Programm): 08.45: Ich gehe durch den Hintereingang ins Lokal, um von Innen den Rollbalken aufzumachen. 08.50: Die Frau, die das Nähcafé leitet, kommt und bereitet Teller, Tee und Nähmaschinen vor. 08.55: Die ersten Frauen des Nähcafés treffen ein; intensives Geplauder beginnt. Auch die Forscherin von der Österr. Akademie der Wissenschaften ist wieder dabei – sie näht wie immer fleißig mit. Nebenbei führt sie manchmal Interviews mit den Teilnehmerinnen. 09.00: Pünktlich beginnen die Nähmaschinen zu rattern. 10.03: Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin vom Leiladen kommt, um den Leila-Betrieb aufzunehmen, kramt zuerst ein bisschen in den Regalen des Leila-Lagers herum und setzt sich mit dem Laptop an die Schank. 10.37: Eine ältere Bewohnerin von gegenüber kommt ganz aufgeregt herein, weil sie das Gerücht gehört hat, dass ihr Haus abgebrochen werden soll – sie wird zur Mietrechtsberatung ins Büro weiter gebeten. Zur Beruhigung gibt es einen Tee und Kuchen. 10.59: Eine Kleingruppe der Näherinnen gönnt sich eine Stärkung an der Schank – die Lautstärke steigt. 12.00: So pünktlich wie der Beginn, löst sich das Nähcafé wieder auf – nach dem schnellen Aufräumen brechen die Frauen in alle Richtungen auf. 12.47: Das Mädchen aus der Volksschule nebenan kommt wie so oft mit ihrer Oma herein und fragt, ob es heute wieder Saft und Kuchen gibt, und sie setzten sich an einen Tisch. 13.00: Vom Team der GB* sind mittlerweile drei Leute da, weil es gleich eine Besprechung mit der VHS über mögliche Kooperationen gibt. Um 13.00 beginnt auch die Grätzeleltern-Sprechstunde der Caritas. 13.17: Ein älterer Mann kommt etwas zaghaft auf der Suche nach dem Leihladen herein – er verschwindet für einige Zeit im Lager der Bibliothek der Dinge. 13.50: Jetzt kommt auch der Mietrechtsexperte der GB* herein, weil um 14.00 Uhr ein Termin mit einer Bewohnerin aus der Gegend wegen einer Delogierungsprävention angesetzt ist. 14.43: Zwei Personen vom GB* Team schwirren aus, um im Park ein paar Interviews mit BewohnerInnen zu führen. 15.43: Einige jüngere Leute kommen herein – sie sind etwas zu früh für den Deutschkurs um 4 Uhr und setzen sich einstweilen an einen Tisch ganz hinten. Einer entdeckt die neue Bestückung des Stadtteilspeicher-Möbels und nimmt sich eine Box mit Kochrezepten zur Lektüre heraus. 16.10: Während der Deutschkurs langsam beginnt, kommt eine Frau herein, die fragt, was der Raum eigentlich ist und ob man ihn mieten kann? Immer wieder kommen einzelne Mitwirkende der Grätzeleltern herein und beraten sich. 17.00: Die Leute von der GB* verabschieden sich; auf dem Heimweg wird noch ein Innenhof besichtigt, der zur Begrünung ansteht. 19.00 Nach dem Sprachkurs sperrt der Deutschlehrer das Lokal zu – Schluss für heute!