Empirie und Theorie — Religionswissenschaft zwischen Gegenstandsorientierung und systematischer Reflexion 31. Jahrestagung der „Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft“ (DVRW), 11.–14. September 2013, Göttingen Spätestens seit Joachim Wachs Prolegomena ist die „Systematische Religionswissenschaft“ ein unverzichtbarer Bestandteil der Religionswissenschaft insgesamt. Begründete Wach damit die Religionswissenschaft als eigenständige nichtreligiöse und nichtnormative Disziplin auf der Höhe seiner Zeit, innerhalb der geisteswissenschaftlichen Koordinaten, wie sie von Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Max Weber oder Heinrich Scholz markiert wurden, so ist im Kontext der rasanten Pluralisierung religionswissenschaftlicher Ansätze, insbesondere im Gefolge des cultural turn und seiner Nachfolger, etwa dem linguistic oder iconic turn, die Notwendigkeit einer eingehenderen Debatte um eine zeitgemäße wissenschaftstheoretische Begründung oder Infragestellung der Integrität unserer Disziplin als empirischer Kulturwissenschaft entstanden. Eine verstärkte Betonung der Kontextgebundenheit von Religion führte zu einer Dominanz von Einzelstudien und ging einher mit der verstärkten Anlehnung an Methodologie und Theoriebildung anderer Fächer, etwa der Soziologie, Psychologie oder der Wirtschaftswissenschaften, die jeweils zu systematischen Leitdisziplinen religionswissenschaftlicher Forschung gemacht wurden. Im Ergebnis bereichern nunmehr neue Forschungsperspektiven, etwa die Religionsästhetik oder das Cognitive Study of Religion, die sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt haben, das Spektrum religionswissenschaftlicher Arbeit. Mit dem Paradigmenwechsel von der Religionsphänomenologie zur Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft und angesichts der zunehmend größeren Aufmerksamkeit, die dem Fach in der breiteren akademischen und außerakademischen Öffentlichkeit zuteil wird, bekommt die bleibende Herausforderung unseres Faches, Empirie und Theorie – mit Wach gesprochen: Religionsgeschichte und Systematische Religionswissenschaft – miteinander zu verbinden, eine neue Dringlichkeit. Wie kann ein übergreifender systematischer Diskurs aussehen, der die Vielfalt der Gegenstände und Ergebnisse der Einzelforschung integriert und eine gemeinsame Sprache sowie theoretische Muster aus der Materialforschung heraus entwickelt? Religionswissenschaft bedient sich einer Vielzahl von methodischen Ansätzen, die sie mit anderen Disziplinen teilt; sie erforscht unterschiedliche Spielarten des Religiösen, aber mit einem spezifischen Blick, der ihre grundsätzliche Vergleichbarkeit voraussetzt. Dies impliziert nicht einen inneren Kern, ein ‚Wesen‘, das zu ergründen wäre, sondern eher ‚Familienähnlichkeiten‘ zwischen verschiedenen Sachverhalten, die unter „Religion“ als heuristischen Oberbegriff subsumiert werden können. Es gilt also, die verschiedenen methodischen und theoretischen Ansätze auf diese Weise nicht einfach nur zu importieren, sondern auch dezidiert in den Dienst dieser religionswissenschaftlichen Perspektive zu nehmen. Die Diskussion um Sinn, Realisierbarkeit und Modalitäten einer postphänomenologischen systematischen Religionswissenschaft wird derzeit intensiv, zum Teil mit fruchtbaren Kontroversen geführt – man denke an die Forderung einer Historischen Religionswissenschaft und Abkehr vom Systematischen, an das Projekt eines Handbuches Systematische Religionswissenschaft, oder nicht zuletzt an die verschiedenen Beiträge die den Umgang mit der Methodenpluralität auf der letzten Tagung in Heidelberg diskutiert haben. Religionswissenschaft, verstanden als empirische Kulturwissenschaft, kann im Bemühen um ein adäquates Erfassen ihres Gegenstandsbereichs nur als ein Forschungsprozess betrieben werden, in dem Akteurs- bzw. Gegenstandsorientierung und systematische Reflexion ineinander greifen. Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Konstruktivismus stellen die Religions- wissenschaft vor die Aufgabe, die Historizität und sozio-kulturelle Kontextgebundenheit ihrer Gegenstände zu reflektieren und adäquate Begriffe in dialektischer Interaktion von Empirie und Theorie zu entwickeln. Die Begriffe und die Sprache, die daraus entstehen, sind somit nie sub specie aeternitatis geprägt, wie es in älteren religionsphänomenologischen oder geschichtspositivistischen Ansätzen mitunter den Anschein hatte, sondern diskursiv entwickelt und somit stets nach verschiedenen Seiten offen: Sie müssen sich am Gegenstandsbereich ebenso wie im Diskurs über bestimmte Themen und Fragestellungen bewähren und weiter geschärft werden. Dies gilt gerade auch für die Umschreibung des Gegenstandes: „Religion“ wird im Bewusstsein seiner nachhaltigen Prägung als Begriff der europäischen Religions- und Geistesgeschichte heuristisch verwendet, um das Arbeitsfeld zu erschließen. Die Schwierigkeiten bei seiner Übertragung auf andere historische, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte nötigen zur permanenten terminologischen Reflexion. Allerdings gilt dies längst nicht mehr nur auf der Seite der Forschenden, sondern auch akteursseitig: Weltweit beziehen sich unterschiedlichste religiöse Protagonistinnen und Protagonisten und ihre „organischen Intellektuellen“ (Gramsci) auf Begriffe wie „Religion“, „Spiritualität“ oder „Magie“ und reflektieren bzw. rekonstruieren diese in ganz eigener Weise, um sich in gesellschaftlichen und religiösen Feldern zu legitimieren und zu positionieren. – Folglich strebt unsere systematische Forschung auch keine geschlossenen Religionstheorien an; dies zeigt etwa die nuancierte Rezeption und Kritik an dem reduktionistischen Ansatz des Cognitive Study of Religion. Vielmehr eröffnet sie einen Raum der spezifisch religionswissenschaftlichen theoretischen Reflexion über Religion und versteht sich dabei als diskursiver Prozess, als theorizing religion. Diese Reflexion kann sich aber nur in der Auseinandersetzung mit Gegenständen bzw. mit religiösen Akteuren fruchtbar vollziehen – indem also Empirie und Theorie eng miteinander verzahnt werden. 2013 laden wir dazu ein, über die Verknüpfung von Gegenstandsorientierung und systematischen Perspektiven zu reflektieren und auf diese Weise das proprium religionswissenschaftlicher Theoriebildung zu erörtern. Der Tagungsort ist mit dieser thematischen Fokussierung eng verwoben: Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde an der Aufklärungsuniversität Göttingen zum ersten Mal in Deutschland nicht nur das Programm, sondern überhaupt der Begriff der „Religionswissenschaft“ erfunden, die in ihrem Aufgabenspektrum dezidiert sowohl empirisch-historische als auch systematische Forschungsperspektiven zu bedenken und konstruktiv aufeinander zu beziehen habe. Diese Programmatik begründet bis heute ein zentrales Leitmotiv für die Fachidentität der Religionswissenschaft: Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler stehen in der kontinuierlichen Verantwortung, diese Integrationsleistung zu realisieren, indem sie ihre konkreten, gegenstandsbezogenen Forschungsinteressen mit systematischen Analyseperspektiven verknüpfen. Hierbei handelt es sich um einen wechselseitigen Prozess: begriffliche und theoretische Konstrukte der Religionsforschung jeweils neu empirisch zu ‚grundieren’ (so etwa im Sinne von „Grounded Theory“) – und umgekehrt: die eigenen empirischen oder historischen Einzelbefunde immer wieder in einem größeren komparativen und systematisch-analytischen Kontext zu reflektieren. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Tagung sowie den offiziellen „call for papers“ (gegen Ende 2012) wird daher leitend sein, dass sich die anvisierten Panels und Einzelbeiträge auf diese doppelte Herausforderung zur empirischen, gegenstandsbezogenen Arbeit an den – und mit den – Konstrukten systematischer Religionsforschung einlassen. Weitere Informationen: www.uni-goettingen.de/dvrw2013 Abteilung Religionswissenschaft Georg-August-Universität Göttingen www.religionswissenschaft.uni-goettingen.de