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Musikstunde mit Werner Klüppelholz
Piano für Gebildete, Forte für den Rest
Über Lautstärke in der Musik (4)
SWR 2, 5. – 9. 3. 2012, 9h05 – 10h00
IV Forte
Indikativ
„Die meisten Kapellmeister können keine Partituren lesen“, sprach der Spötter Hans von
Bülow. Er hingegen bemühte sich. „Auf einer Orchesterprobe in Meiningen“, erzählt Richard
Strauss, „rief Bülow dem ersten Hornisten zu: ‚Forte!’ Der blies stärker. Bülow klopfte ab und
sagte sanft verweisend: ‚Ich habe Ihnen doch gesagt: Forte.’ Der Hornist blies noch stärker.
Bülow zum dritten Mal abklopfend, mit merklich erhobener Stimme: ‚Erstes Horn: Forte!’ Der
Hornist antwortet verzweifelt: ‚Aber Herr von Bülow, ich kann nicht mehr stärker blasen.’
Bülow, mit mephistophelischem Lächeln und äußerster Süßigkeit im Ton: ‚Das ist es ja
gerade. Ich sage Ihnen die ganze Zeit forte, und Sie blasen fortwährend fortissimo.’“
Forte ist ebenso ein Problem wie alle anderen Lautstärkegrade und ebenso abhängig von
ihnen. Forte und Piano allein, stark und schwach ohne alle Zwischenstufen, ist die primitivste
Form der Dynamik, sie soll eine ganze Epoche beherrscht haben. Das ist die sogenannte
Terrassendynamik im Barock. Nun gibt es in den Noten wenig Indizien für diese Behauptung,
denn dynamische Angaben der Komponisten sind vergleichsweise selten. Eine schlagende
Begründung für die Terrassendynamik sind gewiss die instrumentalen Möglichkeiten; ein
Cembalo etwa kann gar nicht anders spielen als laut oder leise und ist zu Übergängen nicht
fähig. Streicher, Bläser und Sänger können hingegen sehr wohl dynamische Zwischenstufen
bewältigen, ebenfalls in der Barockmusik. Hier demonstriert vom Freiburger
Barockorchester, mit kleinen Crescendi und Decrescendi zwischen Forte und Piano, sehr
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lebendig. Schade, dass Strawinsky das nicht mehr hören kann, der Vivaldi doch für so
langweilig hielt.
Vivaldi: L’Olimpiade, Ouvertüre
5’39“
Freiburger Barockorchester, Ltg. Th. Hengelbrock
DHM 88697 93705
LC 0761
Das Freiburger Barockorchester spielte die Ouvertüre zur Oper „L’Olimpiade“ von Antonio
Vivaldi. Die Leitung hatte Thomas Hengelbrock.
Welche Lautstärke sollte eingehalten werden, wenn dynamische Angaben in den Noten
fehlen, im 18. Jahrhundert zumal? Dann muss von den vorhandenen musikalischen
Elementen indirekt auf die Lautstärke geschlossen werden, etwa von der Harmonik. Die zu
Bachs Zeit schärfste Dissonanz war der verminderte Septakkord. Als Antwort auf die Frage
von Pilatus steht er in der „Matthäus-Passion“ beim Schrei „Barrabam“, heute noch
Gänsehaut erzeugend. Kein Chorleiter käme auf die Idee, ihn Pianissimo singen zu lassen,
hier muss es laut sein. Nun findet sich derselbe Akkord ebenfalls gegen Schluss des b-MollPräludiums im ersten Band des „Wohltemperierten Klaviers“. Dort erscheint er nicht
unvermittelt, urplötzlich, sondern steht am Ende einer spannungsvollen Steigerung mittels
Orgelpunkt im Bass. In diesem Trauerstück sei das „der Aufschrei einer geängstigten Seele“,
wie ein Exeget meint. Was macht Glenn Gould, dem die Welt doch eine fabelhafte Aufnahme
der „Goldbergvariationen“ verdankt? Er beginnt in leiser Melancholie und summt dazu
fröhlich vor sich hin; offenbar fühlt er sich als Pianist nicht ausgelastet oder glaubt, Bach
habe eine Stimme vergessen. Oben auf Seite zwei, was der Notentext gar nicht hergibt,
verfällt Gould in Forte. Dann wird er wieder leiser und im Diminuendo schleicht er sich an
den besagten Akkord heran. Vor der Generalpause kommt unsere Dissonanz, die – siehe
oben – ruhig ein Forte vertragen könnte. Gould versteckt sie, macht aus der Dissonanz ein
Gesäusel, indem er im Pianissimo bleibt, die Fermate über dem Akkord ignoriert, gleich
weiterspielt und dem Akkord überdies ein Arpeggio verpasst. Statt gleichzeitig kommen die
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Töne nach Harfenart hintereinander, was die Dissonanz endgültig weichspült. Bach hat
durchaus Arpeggios im „Wohltemperierten Klavier“ vorgesehen, nur nicht an dieser Stelle.
Mir scheint, die Dynamik bei Bach ist ein letztes Refugium der Anarchie.
Bach: Wohltemperiertes Klavier I, Präludium und Fuge b-moll
9’05“
G. Gould
CBS M3K 42266 LC 0149
Der Pianist und Vokalist Glenn Gould interpretierte Präludium und Fuge b-Moll aus Bachs
„Wohltemperiertem Klavier“, Teil eins.
Kühl kalkulierend hat Mozart zuweilen Forte hingeschrieben, um den Beifall des Publikums
zu entfachen. „So fing ich mit die zwei Violin allein piano nur acht Takt an. Darauf kam gleich
ein Forte. Mithin machten die Zuhörer, wie ich’s erwartete, beim piano sch – und dann kam
gleich das forte. Sie das Forte hören und in die Hände klatschen war eins.“ Daher endet
die große Mehrzahl gerade der Orchester-Stücke bis ins 20. Jahrhundert hinein tatsächlich
im Forte oder Fortissimo. Die Lautstärkegrade Forte und Piano dienen jedoch nicht nur dem
Erleben, sondern zugleich dem Verstehen von Musik. Lange Zeit waren sie das einzige
Mittel, musikalische Strukturen zu verdeutlichen. So hat Mozart ebenfalls komponiert. Beim
Andante der Klaviersonate C-Dur fordert er, dass es „accurat mit dem Gusto forte und piano,
wie es steht, gespielt werden“ muss. dann nämlich wird der Kontrast der einzelnen Phrasen
klarer. Da diese „Musikstunde“ aber nicht in Pianistenbeschimpfung ausarten soll, verzichten
wir auf die Köchelnummer 309 zugunsten der Köchelnummer 551, ebenfalls C-Dur. Mozarts
letzte Sinfonie, der ein britischer Impresario den Beinamen „Jupiter“ gab, ein lauter Gott bei
den Römern, der zuständig war für den Donner. Der erste Satz beginnt bereits mit der
Gegenüberstellung von Forte und Piano und für den weiteren Verlauf gilt, dass die gleiche
motivische Substanz die gleiche Lautstärke erhält. Allerdings mit einigen Ausnahmen von
solch starrer Regel, die aufmerksamen Ohren nicht entgehen werden.
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Mozart: Sinfonie KV 551, 1. Satz
13’23“
Royal Concertgebouw Orchestra, Ltg. N. Harnoncourt
WPCS 21007
Kein LC
Das Royal Concertgebouw Orchestra, geleitet von Nikolas Harnoncourt, spielte den
Kopfsatz von Mozarts „Jupiter-Sinfonie“.
Ein Instrument ist durch den Lautstärkegrad Forte ständig gefährdet, die Gesangsstimme im
Orchester. Der Gesang soll schließlich einen Text verstehbar vermitteln, was schon durch
die Tonhöhe schwierig ist. Ab einer gewissen Höhe klingen alle Vokale wie /a/. Sollte
irgendeine Sopranpartie das Wort „Uhu“ enthalten, so käme im Parkett ein „Aha“ an. Über
das Verhältnis von Lautstärke und Verständlichkeit hat sich Richard Strauss die meisten
Gedanken gemacht. „Orchesterpolyphonie, und sei sie in den zartesten Farben, im
schwächsten Pianissimo, ist nun einmal der Tod des auf der Bühne gesprochenen Wortes,
und der leidige Satan hat uns Deutschen den Kontrapunkt in die Wiege gelegt, damit es uns
auf der Opernbühne nicht allzu wohl ergehe. Wer meine späteren Opernpartituren genau
kennt, wird aber zugestehen müssen, dass bei deutlicher Textaussprache durch den Sänger
die Textworte vom Zuhörer deutlich aufgefasst werden können. Ich höre kein Lob
wohlgefälliger, als wenn mir als Dirigenten meiner ‚Elektra’ die Anerkennung gespendet wird:
‚Heute Abend habe ich mal jedes Wort verstanden.’“ Ob das auch heute Morgen der Fall ist,
kann an einer dreifach preisgekrönten Aufnahme der Staatskapelle Dresden unter Karl Böhm
überprüft werden, am Schluss der „Elektra“ mit dem finalen Mord an Ägisth. Die Interpreten
heißen Uhl, Inge Borgh und Marianne Schech.
Strauss: Elektra, Finale
7’22“
I. Borgh, M. Schech, Sächsische Staatskapelle Dresden, Ltg. K. Böhm
M 0020565007
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Wie relativ die Lautstärke in der Musik ist, wurde bereits festgestellt und ein psychologischer
Sachverhalt macht die Lage noch hoffnungsloser. Lautstärke ist nicht nur abhängig von der
Epoche, dem Instrument oder einem einzelnen Spieler, sondern zugleich von den
musikalischen Vorlieben der Hörer. Da ballert ein Fan Tekkno mit 100 Dezibel aus dem
geöffneten Fenster hinaus und findet das leise wie Blätterrauschen, während ein Verächter
solcher Art elektronischer Musik dabei den Start eines Düsenjets erlebt.
James Watt, Erfinder der Dampfmaschine und heute vertraut als Kilowatt, hielt große
Lautstärke für Sache der Ungebildeten, sie identifizierten sich dabei mit Macht, was gebildete
Menschen nicht nötig hätten. Kommen wir von der aufführungspraktischen zur
lebenspraktischen Bedeutung des dynamischen Grades Forte. Er repräsentiert Stärke,
Entschiedenheit, Kraft, und wer hätte mehr davon als Atlas. Von Schubert, der gestern zu
kurz gekommen war und in extrem guter Textverständlichkeit mit Dietrich Fischer-Dieskau
und Gerald Moore.
Schubert: Der Atlas
2’11“
D. Fischer-Dieskau, G. Moore
DG 415188-2 LC 0173
Ein Forte wird auch dort gebraucht, wo eine Botschaft sich über den allgemeinen
Schallpegel erheben muss, um wahrgenommen zu werden, etwa bei einem Ausrufer. Dafür
findet sich ein geistreiches Beispiel im dritten Finale der „Dreigroschenoper“, entstanden
rund zwei Jahrzehnte und einen Weltkrieg später als das Finale der „Elektra“. Der
Gangsterboss Macheath ist gefangen genommen worden, seine Hinrichtung beschlossene
Sache, als der reitende Bote erscheint, kein anderer als der Polizeipräsident selber, ein guter
Freund von Macheath. Weill parodiert das barocke Rezitativ. Zunächst drei Schläge des
Orchesters, so wie Ludwig der Vierzehnte durch drei Schläge einer Hellebarde angekündigt
wurde. Im Forte dann der Kern der Nachricht, die Freilassung Macheaths. Doch dann klingt
immer phantastischer, was der Bote verkündet. Der Mörder, Vergewaltiger und Brandstifter
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Macheath erlangt nicht nur die Freiheit zurück, sondern wird überdies in einen Aristokraten
verwandelt, ein Schloss wird ihm geschenkt und er bekommt eine Riesen-Rente. Solche
traumhaften Versprechungen begleitet Weill nicht mehr in entschiedenem Forte, vielmehr im
kleinlauten Piano des Klaviers, fast ein Echo der drei Orchesterakkorde, damit die
Unglaubwürdigkeit des reitenden Boten andeutend. Man hat viel herausgehört aus dem
dritten „Dreigroschen-Finale“, Reminiszenzen an die „Zauberflöte“, „Lohengrin“, „Tosca“, das
Ende von Händel-Opern, dabei ist es originaler Weill. Eine Erinnerung an den „Don
Giovanni“ ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Wurde Mozarts Ouvertüre zwölf
Stunden vor der Aufführung fertig, so Weills Finale gerade einen Tag vor der Probe. Wie
dort so auch hier singende Schauspieler: Hannes Hellmann, der es besonders ironisch
machen will, Max Raabe und Sona MacDonald sowie das Ensemble Modern unter Leitung
von HK Gruber, der zugleich den Peachum gibt.
Weill: Dreigroschenoper, 3. Finale, ab Rezitativ
4’44“
M. Raabe, H. Hellmann, S. MacDonald, Ensemble Modern, Ltg. HK Gruber
BMG 7432166133
LC 0316
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