Leseprobe zum Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen

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Wie ein Kind die Welt erlebt:
Weltbilder
Wenn man sich Gedanken macht, wie die Psyche eines
Kindes im Idealfall einmal aussehen sollte, so müsste das
Ziel sein, dass der 20-jährige Mensch über eine
altersangemessene ausgereifte, anderen gesunden
Erwachsenen vergleichbare psychische Reife verfügt.
Als Psychiater, der sich in seiner täglichen Arbeit
ausschließlich mit Störungen befasst, sind die individuellen,
in der Hauptsache durch Vererbung erlangten Anteile der
Psyche für mich weitestgehend zu vernachlässigen, sie
spielen auch für die hier dargestellten Fehlentwicklungen
keine Rolle. Die zentrale Frage, die für meine Arbeit von
Belang ist, lautet: Welche formbaren Anteile der Psyche sind
wichtig, damit der erwachsene Mensch selbstständig leben
kann? Wie muss sich Psyche entwickeln, damit Menschen
Beziehungen zu anderen Menschen leben können, damit sie
erfolgreich arbeiten gehen können, oder auch damit sie
eigene Gefühle richtig einschätzen und entsprechend
kontrollieren können.
Um das zu leisten, benötigt der Mensch im Wesentlichen
zwei Anteile der Psyche: zum einen sind das psychische
Funktionen wie etwa Frustrationstoleranz,
Gewissensinstanz, Arbeitshaltung oder auch
Leistungsbereitschaft. Diese Funktionen müssen nach und
nach ausgebildet werden, um einen optimalen Aufbau der
Psyche zu gewährleisten. Zum anderen sind dafür
Weltbilder nötig, also eine ganz bestimmte Art und Weise,
wie wir die Welt um uns herum und unsere Position in ihr
wahrnehmen und interpretieren.
In unserer westlich geprägten, christlich orientierten
modernen Gesellschaft sieht das Weltbild im Wesentlichen
so aus, dass wir uns als Individuen im Rahmen einer
größeren Gesellschaft erfahren. Bevor sich dieses Weltbild
beim erwachsenen Menschen etablieren kann, durchläuft
ein Kind bei einer gesunden Entwicklung drei verschiedene
Phasen, in denen sich sein Weltbild jeweils ändert: die orale,
die anale und die magisch-ödipale Phase.
Die orale Phase
Die orale Phase hält von der Geburt bis zu einem Alter von
etwa anderthalb bis zwei Jahren vor. In dieser Phase kann
man das Weltbild des Kindes mit dem Satz »Ich bin, was ich
bekomme« beschreiben. Diese Zeit ist jene, in der die
sofortige Bedürfnisbefriedigung des Kindes eine zentrale
Rolle spielt. Das noch sehr kleine Kind muss in der oralen
Phase die Erfahrung machen, dass eine direkte
Bezugsperson vorhanden ist, die dem Bedürfnis nach
körperlicher Nähe und schnellem Stillen von Hunger und
Durst nachkommt. So wird ein Neugeborenes im
Allgemeinen, wenn es Hunger hat, nicht schreien, da es
noch gar nicht sehen kann, ob die Objekte, die seinen
Hunger stillen könnten, Mutterbrust oder Flasche, in der
Nähe sind. Es fantasiert aber die Nähe der Brust und würde
diese in der Regel durch die sofortige Befriedigung seines
Bedürfnisses bestätigt bekommen, d.h., die Mutter würde
sofort das Kind an die Brust anlegen und es stillen, bzw.,
falls das nicht möglich sein sollte, ihm die Flasche geben.
Das typische Baby-Schreien setzt erst nach etwa vier bis
sechs Wochen ein, wenn das Kind nicht mehr nur Hell und
Dunkel unterscheidet, sondern sich in die Lage versetzt
sieht, zu erkennen, ob die Nahrungsquelle sich in
erreichbarer Nähe befindet oder nicht. Wenn die Brust oder
die Flasche dann nicht vor Ort sind, ist der Schrei ein
Ausdruck der Wut über diesen Zustand.
Wichtige Veränderungen entstehen in dieser Phase auch bei
der Motorik des Kindes, es erschließt sich die Welt zunächst
über das Krabbeln, dann über das beginnende Laufen.
Durch die Erfahrung der immer »größer« werdenden Welt,
fängt das Kind an, sein eigenes Selbst vom Selbst des
jeweiligen Gegenübers in der Umwelt zu unterscheiden. Es
erfährt also »sich selbst«, und es erfährt »das andere
Selbst«, bzw. schlicht und ergreifend die Existenz des
anderen.
Nach der Beschreibung Sigmund Freuds fungiert beim Kind
der Mund in dieser Zeit als erogene Zone, da es einen
erheblichen Lustgewinn aus dem Saugen, Lutschen und
Beißen bezieht. Letzteres kennzeichnet die späte orale
Phase, da in dieser die ersten Zähne des Kindes kommen,
so dass das Beißen eine wichtige Rolle spielt.
Die anale Phase
Die anale Phase findet gewöhnlich im Alter von zwei bis drei
Jahren statt. Für das Weltbild des Kindes ist diese Phase
gekennzeichnet durch den Satz »Ich bin, was ich behalte
oder abgebe«. Übertragen auf das Verhalten des Kindes
gegenüber seiner Umwelt bedeutet das nichts anderes, als
dass das Kind in dieser Phase entdeckt, dass es sich selbst
bestimmen kann und auch darüber bestimmt, ob es sich von
außen bestimmen lässt. Ein Kind kommt also populär
gesprochen in die »Trotzphase«, es versucht zunehmend,
seinen Kopf durchzusetzen und den Erwachsenen dazu zu
bringen, die Bedürfnisse des Kindes in jedem Fall zu
befriedigen.
Die magisch-ödipale Phase
Bei Freud beschreibt die ödipale Phase ein frühes Stadium
der genitalen Phase und gipfelt in der populären
Beschreibung des so genannten Ödipuskomplexes, des
Phänomens also, dass Kinder sich nun zum jeweils
gegengeschlechtlichen Elternteil hingezogen fühlen. In der
modernen Theorie kommt noch hinzu, dass Kinder durch die
plötzlich eingetretene Konkurrenzsituation mit dem
gleichgeschlechtlichen Elternteil vom ausschließlichen
Bezug auf eine Person Abstand nehmen und sich zu diesem
Zeitpunkt erstmals in das System Familie integrieren.
Die umfangreichen Studien Freuds führen an dieser Stelle
zu weit, für meine These ist wichtig, dass Kinder in der
magisch-ödipalen Phase, die im Alter von vier bis fünf
Jahren eintritt, sich über den Satz »Ich bin, was ich mir
vorstelle« definieren. Sie handeln also nach dem Motto »Ich
baue mir die Welt so auf, wie ich sie brauche«. Kinder in
diesem Alter leben folglich für Erwachsene unrealistische
Fantasien aus, funktionieren etwa Gegenstände zu etwas
um, was diese in jenem Moment für sie sein sollen.
Die Phasen, in denen diese kindlichen Weltbilder entstehen,
werden bei einer gesunden psychischen Entwicklung des
Kindes nacheinander durchlaufen, am Ende dieser
Entwicklung ist es in der Lage, zu erkennen, dass eine
Eigenreaktion eine Gegenreaktion im Gegenüber auslösen
kann. In Konflikten kann es beispielsweise nun Eigenanteile
sehen und entsprechend handeln. Im klassischen Sinne ist
das Kind damit schulreif. Das Kind kann diese
Entwicklungsschritte nur nehmen, wenn sich die Eltern
phasenspezifisch verhalten. Diese müssen also dafür
sorgen, dass jede Phase abgeschlossen und in die nächste
übergegangen werden kann. Dieser Vorgang beruht
keineswegs auf Automatismen. Auch später, also nach dem
sechsten Lebensjahr schließen sich weitere
Entwicklungsphasen an, bis schließlich, beginnend im
späteren Jugendalter, unser Erwachsenenweltbild entsteht.
Diese die Entwicklung beschreibenden Bilder beziehen sich
auf die Frage »Wie erlebe ich mich aus mir selbst heraus
innerhalb dieser Welt?« Gleichzeitig entsteht jedoch in
einem anderen Bereich der Psyche eine weitere Sichtweise,
die auf die Frage antwortet »Wie erlebe ich diese Welt als
solche?«
Sobald das Kind krabbelt und läuft, untersucht es alles in
seinem Umfeld auf Funktionen hin, etwa durch Ertasten,
Befühlen oder Belecken. Ein Stuhl beispielsweise wird
zunächst als zum Schieben geeignet erkannt, danach als
Klettergerät. Die Funktion als Sitzmöbel wird von einem
Kleinkind erst sehr spät wahrgenommen.
Auch die Bezugspersonen um das Kind herum werden
entsprechend untersucht. Dabei unterliegt das Kind in der
frühkindlich-narzisstischen Phase vom zehnten bis zum
sechzehnten Lebensmonat der Vorstellung, es könne alles
und jeden steuern und bestimmen, genieße also absolute
Autonomie.
Bis zum dritten Lebensjahr wird dann in weiteren Schritten
die Entdeckung gemacht, dass sowohl Kind als auch
Erwachsener eigenständige Personen sind. Das Kind kann
nun auch erkennen, dass ein Erwachsener größer, stärker
und mächtiger ist. Von diesem Zeitpunkt an reagiert das
Kleinkind in Konflikten auf den Erwachsenen, klassisch
ausgedrückt: »es hört«. Mit Abschluss dieser Phase ist die
Kindergartenreife erlangt, und das Kind reagiert auf
pädagogische Interventionen des Erwachsenen.
Die Situation, wie sie sich mir in meiner täglichen Arbeit
mittlerweile darstellt, zeigt, dass wir auf dem besten Wege
sind, immer weniger Kinder hervorzubringen, die eine
kindgerechte Entwicklung durchlaufen können. Zusätzlich
muss ich feststellen, dass immer weniger Kinder in
ausreichendem Maße psychische Funktionen gebildet
haben. Die Folge: In den letzten 15 Jahren lässt sich eine
enorme Zunahme an Störfeldern im Kinder- und Jugendalter
feststellen, die Auffälligkeiten, mit denen Kinder mir
vorgestellt werden, könnten kaum vielfältiger sein.
So haben wir etwa diverse Schwierigkeiten im motorischen
Bereich. Es können keine koordinierten Bewegungen
ausgeführt werden, besonders die feinmotorischen
Bewegungen, wie sie etwa für das Schreiben unerlässlich
sind, sind oft vollkommen unterentwickelt. Um eine
Vorstellung vom Ausmaß dieser Störung zu bekommen,
muss man sich nur vor Augen halten, dass vor 15 Jahren die
Störung der Motorik im Kleinkindesalter etwa bei 20 Prozent
der Kinder zu sehen war. Heute ist die Schallmauer von 50
Prozent längst durchbrochen, Tendenz steigend.
Das führt in der Folge zu absurd erscheinenden
Auswüchsen. So ist mir ein Kindergarten bekannt, der bis
vor einigen Jahren mit den Kindern gerne einen Ausflug zum
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