Hansdieter Hoyer »Die Stadt ist noch da« Architektur in Leipzig zwischen Stadthaus und Mehrgeschosser hobusch + kuppardt architekten An der Ecke Arndtstraße / Brandvorwerkstraße planen die Architekten Hobusch und Kuppardt zwischen der überwiegend gründerzeitlichen Bebauung diesen mehrgeschossigen Block. Über einer Tiefgarage ent­stehen im Erdgeschoss Abstell- und Heizungsräume sowie eine Wohnung mit ­Gartenzugang. Als Verkleidung ist ein »strukturelles Muster« in Naturstein beziehungsweise mit Fliesen vorgesehen. Vor die Fassade der oberen Etagen wird ein Metallgewebe gehängt, das gleichzeitig als Fenster­läden dient. Baubeginn ist in diesem Jahr. 14 Bürogemeinschaft Baukomplex, Architekt Martin Faßauer Ansicht einer Stadtvilla, die zur Zeit in der Scharnhorststraße Ecke Altenburger Straße gebaut wird. Der Entwurf zeigt, wie das Gebäude die Architektur der Umgebung zwischen Gründerzeit, Art-Deco und Neubauten des MDR aufnimmt und neu interpretiert, indem durch die versetzten Geschosse die charakteristischen vorspringenden Erker und Loggien entstehen. Unter dem Hochparterre befindet sich die Tiefgarage. Das großzügige Entree an der Ecke soll an den zerstörten gründerzeitlichen Vorgängerbau mit der Gastwirtschaft »Schlachthofeck« erinnern. »Es gibt immer zwei Städte, die der Wirklichkeit und die des Gedankens.« Der Essayist und Verleger Wolf Jobst Siedler formulierte das in seinem längst zum Klassiker avancierten Buch »Die gemordete Stadt«. Die Leipziger Wirklichkeit nach 1990 sah etwa so aus: Zu­ nächst war da die Boomtown, die auch Spekulanten anzog, dann folgte der Drang vieler Leipziger gen Westen und nach draußen vor die Stadt. Leipzig schrumpfte, verlor Einwohner in der Größenordnung einer Großstadt. Etwa sechzigtausend Wohnungen standen leer. Weshalb die Stadt nicht wenige Plattenbauten abreißen ließ, aber auch manch altes Haus und manchmal sogar ein denkmalgeschütztes. Das ist noch alles gegenwärtig. Nichtsdestoweniger war es gestern, denn nun wächst Leipzig, und zwar ziemlich schnell, jedenfalls schneller als viele erwartet haben. Aus der Schrumpfstadt wird die Schwarmstadt. Das ist schön für die Stadt, für ihre unzähligen Brachen und Lücken. Um das Jahr 2000 zählte man in den Gründerzeitvierteln an die achthun­ dert Baulücken. Und was bedeutet das für die Stadtgestaltung, für das architektonische Selbstverständnis, für das noch immer in hohem Maße gründerzeitlich geprägte Gesicht der Stadt? Besteht heute die Chance für eine Annäherung von wirklicher und gedachter Stadt im Siedlerschen Sinne? Die 1990er Jahre lieferten für besagte Annäherung nur we­ nige Beispiele: herausragende Architektur blieb rar. Die Stadt gewann vor allem durch Sanierung einiges von ihrem alten Glanz zurück. Mehrgeschossige Wohnbauten aus dieser Zeit sehen oft aus als hätten sie schon Jahrzehnte hinter sich, schmutzig, schäbig, billig. Selbst das Renommeeviertel links und rechts der Waldstraße blieb nicht verschont. Als »über­ einander geschichtete Container« charakterisiert der Architekt Bernd Sikora eine in dieser Zeit dort erfolgte Lücken­ schließung. Doch je mehr Leipziger wegzogen, desto weniger mehrgeschossige Gebäude entstanden. Die neue Wirklichkeit hieß »Stadthaus«. Aber auch deren architektonische Resulta­ te sind nicht erst aus heutiger Sicht mehr als ernüchternd. Meist sind die Häuser zweigeschossig. Sie sind damit nur halb so hoch wie ihre Nachbarn, sie sind kubisch und zur Straße hin eher abweisend. So auch in Connewitz, wo zudem noch Farbbeutel und Graffiti die Fassaden zieren. Dem Stadtbild insgesamt haben die Stadthäuser nichts gebracht. Die Kritik ist dementsprechend verhalten, wenn nicht gar vernichtend. »Neue Schäbigkeit«, schreibt der Architekturhistoriker und -kritiker Arnold Bartetzky. Und an anderer Stelle sagt er, das sei »totale Architekturverweigerung, eine Nulllösung«. Die Stadt sei vergewaltigt worden, gestehen selbst zahlreiche Architekten ein. Doch dieses Kapitel einer Stadtreparatur ist beendet. In einer Schwarmstadt wird der Baugrund wertvoller und insofern der Ruf nach mehrgeschossigen Gebäuden zwingend lauter. Bedeutet das nun die Rückkehr zu Architektur und Städtebau? Stellen die neuen Vier- oder Fünfgeschosser lediglich gestapel­ te Stadthäuser dar? Ein einhelliges Urteil wird es zum gegen­ wärtigen Zeitpunkt nicht geben können, noch ist kein vollstän­ diges Bild entstanden, zumindest kein Stadtbild. Es gibt Pläne und Überlegungen, Brachen zu bebauen, wie etwa das Gelände östlich des Hauptbahnhofs oder den Wilhelm-Leuschner-Platz, und es gibt zunehmend Lückenschließungen in der ganzen Stadt. Arnold Bartetzky, bekannt für seine Art, zugespitzt zu for­ mulieren, hatte sich bei den in den letzten Jahren entstande­ nen Stadthäusern bereits an den Erdgeschosszonen »gesto­ ßen«, die sich – wie er sagt – »gegen die Öffentlichkeit verbarrikadieren«, indem mit »Garage und Klo die Eingewei­ de präsentiert werden«. Wenn der Geschosswohnungsbau dort anknüpfe, dann sei »das eine Verwahrlosung der Alltags­ architektur; ein Abstieg in die unterste Liga der Baukultur« Leipziger Blätter · Sonderausgabe Leipzig wächst drohe. In der Tat sind zahlreiche Objekte vor allem durch Garagentore »verbarrikadiert«. Architekten räumen ein, dass das durchaus »weh tut«, geben aber gleichzeitig zu bedenken, dass heute kaum jemand im Erdgeschoss wohnen möchte. Und außerdem hätten Häuser aus der Gründerzeit, an denen sich Neubauten in der Regel orientieren, oftmals eine Tor­ einfahrt. Das stimmt, doch eine Toreinfahrt ist eben keine geschlossene, abweisende Wand. Wie also umgehen mit dieser tristen Wirklichkeit, ­Erdgeschosse vorrangig als Parkplätze zu nutzen, die sich in Innenhöfen in der Regel verbieten. Die sächsische Bauordnung gibt die Anzahl der Pkw-Stellplätze vor, ein bis zwei Plätze pro Wohnung. Gelingt es nicht, diese bereitzustellen, können Stellplätze nach der sogenannten Stellplatzablösesatzung auch gegen eine Gebühr »freigekauft« werden. Der Preis hierfür fällt je nach Lage unterschiedlich hoch aus. Soweit die Wirklichkeit. An der Prager Straße werden die Leipziger aber vielleicht bald ein Beispiel für die »Stadt des Gedankens«, sozusagen die »Stadt von morgen« finden. Dort baut die CG-Gruppe (CG steht für Christoph Gröner, der zu den Gesellschaftern der Firma zählt) das ehemalige Technische Rathaus zu Wohngebäuden um. Der lange Trakt soll in vier Blöcke geteilt werden. Neu wird dabei sein, dass hier andere Wohnkonzepte als bisher üblich vorgesehen sind. Geplant wird das »Dorf in der Stadt« mit einer sogenannten sharing ­economie für Bewohner, die nicht mehr alles selbst besitzen müssen (schon gar nicht ein eigenes Auto), die vielmehr teilen, teilhaben wollen. »Es geht nicht mehr darum, Eigentum und Prestigeobjekte anzusammeln, sondern darum, dass Pro­ dukte und Dienstleistungen bequem zugänglich sind.« Gewiss muss man sich an diese Lebensweise, die von weniger Privat­ heit und mehr Gemeinschaft geprägt ist, erst gewöhnen, beginnt doch in unserer Kultur das tradierte Bauen zunächst damit, einen Zaum zu ziehen oder eine Hecke um sich herum zu pflanzen. Aber vielleicht steckt die »Generation mobil« auch gerade erst in den Kinderschuhen. Der Architekt Martin Faßauer nennt es »erste Gehversuche«. Doch diese Versuche sind dringend notwendig. Architekturkritiker wie Niklas Maak bestätigen: »Wir stecken beim Thema Behausung noch tief in Leipziger Blätter · Sonderausgabe Leipzig wächst der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Wohnen und Leben passen nicht mehr zusammen.« Und noch eine Wirklichkeit: Leipzig ist eine grüne Stadt. Aber dieses Grün wächst auch dort, wo einst Häuser standen. An dieses »Grün um die Ecke« haben sich die Bewohner gewöhnt. Deshalb regt sich schnell Protest, so wie etwa an der Prager Straße, wo ein Investor auf freien »grünen« Flächen Studen­ tenappartements, aber auch Läden und ein Parkhaus bauen will. Ob nun hier oder anderswo – vielleicht hilft es auch in diesem Falle, die Stadt neu zu denken. Ein Beispiel aus ­Kopenhagen: Dort wurde ein Parkhaus gebaut, auch deshalb, damit auf dem bisherigen, aber nunmehr von Autos befreiten Parkplatz Bäume wachsen können. Zur Wirklichkeit einer Stadt gehören auch die Baupreise und die mit ihnen zusammenhängenden Mietpreisentwicklungen. Der aktuelle Mietpreis: »Acht- oder Achtfünfzig sind das Mindeste«, sagt Stadtbauamtsleiter Jochem Lunebach. Wenn aber bezahlbare Wohnungen immer knapper und Neubauten wie in Sachsen nicht gefördert werden, dann allerdings wird es höchste Zeit, daran zu erinnern, worauf bereits Clara Zetkin einst eindringlich hinwies, dass nämlich die Architektur die sozialste aller Künste ist. Zukünftige Wohnanlage an der Weißen Elster, Nonnenstraße Ecke Industriestraße, Langheinrich + Manke Architektur Langheinrich + Manke Architektur Denda-Architekten Das »Riverhouse« zwischen Holbein­ straße und Weißer Elster nach einem Entwurf des Architekten Manfred Denda auf dem Gelände einer ehemaligen Automanufaktur. Die dem Wasser zugewandte Seite ist als öffent­ liche Uferpromenade, unter anderem mit Ateliers, Gastronomie und Bootsanleger gedacht. Im hinteren Teil des Ensembles sind Gewerbe­einrichtungen geplant. Die kristallin wirkenden Baukörper sollen an Speichergebäude am Wasser erinnern. 15 Langheinrich + Manke Architektur In der Körnerstraße haben die Architekten des Büros Langheinrich + Manke eine gelaserte, rostig erscheinende Stahlblechwand entworfen, die neugierig macht. Doch Ernüchterung stellt sich ein, wenn hinter dem floral verzierten Lochmuster Autos sichtbar werden. Die Abbildung zeigt einen geplanten Neubau in der Altenburger Straße, dessen Erdgeschoss nach dem gleichen Prinzip gestaltet werden soll. Architekten haben bisweilen den Eindruck, dass sie von ver­ schiedenartigsten Wünschen, zahlreichen Absichten und Zwängen diverser Verordnungen und Regelungen regelrecht in die Zange genommen werden. Auch wenn sie sich als Dienstleister verstehen, nichtsdestoweniger »wollen wir doch schön bauen« (Berthold Crimmann). Zum Thema »schön bauen« ein kurzer Abstecher in die Londoner Wirklichkeit. Dort gibt es Stadtviertel, in denen müssen vorhandene Lücken nach strengen Vorschriften in einem pseudoviktorianischen Stil geschlossen werden. Wäre das auch eine Option für Leipzig? Die Antwort der befragten Architekten: »Das wollen wir nicht!« Beispiele wie der goldstrahlende Reiher auf den ­postmodernen Erkern an der Wundtstraße in der Südvorstadt sind in Leipzig auch eher selten. »Städtebau muss Entwicklung sein und sich in Proportionen dem Vorhandenem annähern.« (Martin Faßauer) »Aber man muss es können.« (Adrian Reut­ ler) In der Gletschersteinstraße liest sich das so: »Nicht spektakuläre Architektur im Sinne eines ›aus der Reihe tan­ zen‹, sondern vielmehr eine Architektur der Zurückhaltung, die ihre Nachbarbebauung einbezieht und damit respektiert […] Die Asymmetrie der Nachbarhäuser in Gestalt unter­ schiedlich hoher Erker wird beim Neubau durch die Balkone angedeutet.« (Architekt Torsten Luka) Dieses Gebäude tanzt aber doch ein wenig aus der Reihe. Es ist ein Passivhaus mit Lüftungsanlage und Wärmerückgewinnung. Die Nebenkosten sind niedrig. Schade, dass man das einladende Entree nicht be­ sichtigen kann: Lehmputz, die Wand- und Bodenfliesen in einem Grünton, die an gründerzeitliche Hauseingänge erinnern sollen. Selbst die Briefkästen sind aus Eichenholz. An Leipzigs reiche Baukultur aus der Vergangenheit fühlt sich auch Martin Faßauer gebunden und nicht an irgendeine »Eingebung«. Für eine Brache an der Scharnhorststraße Ecke Altenburger Straße hat er eine Stadtvilla entworfen, die ihre Vorbilder in der Umgebung findet. Die Gebäude aus verschie­ denen Bauepochen fallen fast durchgängig durch weite Aus­ kragungen wie Erker und Balkone auf, darunter findet sich mit ihren spitzwinkligen Erkern und Giebeln auch die Archi­ tektur des Art-Deco-Stils. Der Architekt hat aus dieser Um­ gebung seine Idee entwickelt, er hat das jeweils zweite Ge­ schoss versetzt, gewissermaßen gedreht, was die ge­wünschten Erker und Loggien hervortreten lässt. Bauen und Baukunst in Leipzig anno 2015 – noch ergibt sich kein vollständiges, eher ein lückenhaftes Bild, auch deshalb, weil die »Stadt des Gedankens« noch sehr von der Wirklichkeit beherrscht wird. Ein letztes Beispiel: An der Gottschedstraße, also in einer zentrumsnahen Gegend mit gehobener Wohnart, entsteht derzeit ein Eckhaus. Das Erd­geschoss ist eine Garage. Ist das die Wirklichkeit, die Zukunft, dass Architektur bisweilen weniger eine ästhetische und vielmehr eine ökonomische Disziplin ist? Die Stadt also als »Abbild der Renditebestrebun­ gen der Bauwirtschaft« (Niklas Maak)? Natürlich nicht immer und überall, dennoch gibt es solche Tendenzen. Aber noch ist die Stadt nicht verloren. Wenn wir uns an das Credo einiger Leipziger Architekten halten, ergibt sich folgen­ des Fazit: »Leipzig ist noch da, die Stadt ist noch da.« (Man­ fred Denda) »Leipzig hat immer noch eine Struktur. Wohnen im historischen Sinne heißt, an die wachsende und lebendige Stadt der Gründerzeit anzuknüpfen.« (Berthold Crimmann) Noch haben wir es in der Hand: »Es wird zu sehr ergänzt. Wir müssen den Städtebau wieder lernen.« (Martin Faßauer) Auf diese Positionen kann/sollte man aufbauen. ■ Martin Faßauer. Architekt. Entwurf, Planung, Realisierung. Telefon 0341-33 38 37 0 [email protected] www.baukomplex.de 16 Leipziger Blätter · Sonderausgabe Leipzig wächst