Biopolitische Produktion und staatliche Macht

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# 2003/04 webredaktion
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Biopolitische Produktion und staatliche
Macht
Anmerkungen zum materialistischen Verfahren | Thomas Atzert und Jost Müller.
In einer Debatte unter Linken wäre vielleicht darin übereinzukommen, dass sich
die Frage nach den sozialen Machtverhältnissen als Frage nach den
Ausbeutungsverhältnissen stellt. So ließe sich Marx zitieren: »Man könnte eine
ganze Geschichte der Erfindungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel
des Kapitals wider Arbeiteremeuten ins Leben traten.« Und mit Foucault wäre
zu sagen: »Im Zentrum der Machtbeziehung stecken die Widerspenstigkeit des
Wollens und die Intransitivität der Freiheit.«
Als Marx den Ort und den gesellschaftlichen Zusammenhang des Produktionsprozesses
untersuchte, hob er die Arbeitsteilung als einen zentralen Mechanismus der Aneignung
des Mehrwerts hervor. Das Kommando des Kapitals über die Arbeitsteilung ist
Gegenstand der von Marx im ersten Band des Kapital durchgeführten Untersuchungen zur
Manufaktur, Maschinerie und großen Industrie. Die Ausbeutung, die Trennung der
unmittelbaren Produzenten von ihrem Produkt und die Aneignung des Produkts im Dienst
der Kapitalakkumulation, durchlaufen in ihrer Gewaltförmigkeit selbst historische
Veränderungen.
Im Fall der Manufaktur analysiert Marx die Ausbeutung als die Aneignung der Produkte
eines Arbeitsprozesses, der selbst weitgehend durch eine handwerkliche Produktion und
eine handwerkliche Teilung der Arbeit bestimmt ist. Die Arbeit ist dem Kapitalverhältnis
»formell subsumiert«. Die Durchsetzung des kapitalistischen Kommandos über den
unmittelbaren Produktionsprozess beschreibt der Begriff der Industrialisierung. In der
großen Industrie wird die Arbeitsteilung selbst dem Kapital unterworfen. Das Kapital
trennt die Produzenten voneinander und vom Arbeitsprozess, es löst also sowohl die
handwerkliche Arbeitsteilung als auch die Beziehung der Produzenten zu den
Produktionsmitteln und zum Produktionswissen auf und setzt sie neu zusammen.
Trennung und Neuzusammensetzung finden im Innern eines antagonistischen
Produktionsprozesses statt: Die neue Form der Arbeitsteilung schafft als ihre eigene
Voraussetzung die verschiedenen Formen planender und ausführender Tätigkeiten, von
»Hand-« und »Kopfarbeit« (und damit neue Trennungen zwischen so genannter
produktiver und unproduktiver Arbeit).
Die Mechanisierung der Produktion bis hin zum Maschinensystem des Fordismus gehören
zur Industrialisierung, wie sie sich historisch darstellt. Die gesellschaftliche Arbeit ist, auch
wenn einzelne Verrichtungen nicht industrialisiert sind, in ihrer Gesamtheit durch diese
bestimmt. Die Resultate der Transformation des unmittelbaren Produktionsprozesses
lassen sich mit Marx als Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion der
lebendigen Arbeit unters Kapital begreifen.
General Intellect. Doch der Antagonismus der Ausbeutungsverhältnisse treibt über die
Industrialisierung hinaus. Das hebt Negris Lektüre von Marx’ Notizen über die
»Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft« hervor. Marx hatte in den Grundrissen
der Kritik der politischen Ökonomie geschrieben: »Die Entwicklung des capital fixe zeigt
an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur
unmittelbaren Produktivkraft geworden ist«, und dieses Verhältnis mit dem Begriff
General Intellect belegt. Die Marxsche Intuition ist weder eine technologische Utopie (im
Sinn der Ideologen des »Informationszeitalters«) noch ein technokratischer Albtraum
(verstanden als die Totalisierung des »technologischen Angriffs«). Die Rede vom General
Intellect liefert vielmehr einen Hinweis, wie heute nach dem gesellschaftlichen Charakter
der Produktivkräfte und der Produktionsmittel in einer Perspektive der Befreiung gefragt
werden kann.
Im Kern des Ausbeutungsverhältnisses, das ist ein Ergebnis der sozialen Kämpfe gegen
den Fordismus, vollzieht sich eine Neuzusammensetzung der gesellschaftlichen Arbeit
und eine Neuformierung der kapitalistischen Akkumulation. Ein Vorschlag, dies zu
denken, ist das Konzept der immateriellen Arbeit. Es richtet sich gegen eine
sensualistische, empiristische Vorstellung von Materie und eine naturalistische
Vorstellung von Arbeit.
Immaterielle Arbeit bezeichnet, vor jeder soziologischen Beschreibung und auch vor der
Beschreibung einzelner Tätigkeiten, eine Form, genauer: die neue dominierende, die
gesellschaftliche Arbeit insgesamt beherrschende Form. Dieser Form sind tradierte
Unterscheidungen, etwa von geistiger und körperlicher Arbeit oder von individueller und
kollektiver Arbeit, nicht länger adäquat. Sprache, Kreativität, Kommunikation, Wissen und
Affekte sind grundlegende Momente der gesellschaftlichen Reproduktion und zugleich
entscheidende produktive Potenzen der Gegenwart.
Vor allem aber fokussiert das Konzept der immateriellen Arbeit die Aufmerksamkeit auf
die Restrukturierung des Zusammenhangs von Produktion und Reproduktion. Die
Informatisierung der Produktion ist dabei nicht der einzige wichtige Aspekt der
Neuzusammensetzung gesellschaftlicher Arbeit. Immaterielle Arbeit ist im gleichen Maß
bestimmt durch Kommunikation, allgemeiner durch die Manipulation von Zeichen und
durch die Verwendung von Sprache. Und die Neuzusammensetzung umschließt als dritten
Aspekt den gesamten Bereich affektiver Beziehungen. Hardt und Negri sprechen bezogen
auf die kapitalistische Durchdringung und Beherrschung dieses Zusammenhangs in
Anlehnung an Marx von der reellen Subsumtion der Gesellschaft.
Eine Richtung, um die Momente dieser reellen Subsumtion genauer zu bestimmen, gibt
Foucault mit seiner Analyse der Biomacht. Die oberste Funktion dieser Macht wäre es,
Leben einzusetzen und zu durchdringen, und ihre vordringliche Aufgabe, Leben zu
regieren. Biomacht oder, wie Hardt und Negri präzisieren, das biopolitische Paradigma der
kapitalistischen Akkumulation bezeichnet somit die Situation, in der es für die Macht
darauf ankommt, die Produktion und Reproduktion des Lebens selbst zu kontrollieren.
Gouvernementalität. Ist das biopolitische Paradigma zentral für die gegenwärtigen
sozialen Transformationsprozesse, so stellt sich die Frage nach den politischen Formen,
die diese Prozesse generieren. Seit der Mitte der siebziger Jahre suchte Foucault einen
relationalen Machtbegriff zu etablieren, der es erlauben soll, die sozialen
Machtverhältnisse als strategische Felder von Machtbeziehungen, als Machtdispositive zu
analysieren. Disziplinierung und Normalisierung sind die entscheidenden
Machtwirkungen, die er zunächst herausarbeitet.
Disziplinarmacht bezeichnet bei Foucault die politischen Technologien einer
herrschaftlichen Zurichtung der Körper und den Übergriff der entsprechenden
Institutionen, der Kliniken, Gefängnisse, Fabriken und Schulen, auf vermeintlich deviante
Individuen. Sie zieht die Grenze zwischen Normalem und Anormalem. Biopolitik dagegen
zielt weniger auf die Normalisierung der Individuen, sondern auf die Kontrolle ihrer
Lebensäußerungen, indem sie diese selbst konstituiert, das Leben erzeugt.
Die politischen Formen erläutert Foucault anhand des Begriffs der Gouvernementalität. Er
bezeichnet die Techniken des Regierens, die dazu dienen, die Bevölkerung in ihrer
Verzweigtheit und im Detail ihrer Zusammensetzung zu führen. Um jede Affinität zu
Ansätzen marxistischer Staatstheorie zu vermeiden, verwirft Foucault den Staatsbegriff
als untauglich für eine Analyse der Biopolitik. In dieser Perspektive existiert weder das
Problem der Staatsmacht noch das des institutionellen und organisatorischen
Staatsaufbaus. Der Staat stellt sich Foucault letztlich nur noch als der »bewegliche Effekt
eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität« dar.
Praktische Kritik. Während Foucault sich so vom Konzept der Souveränität, dem er auch
den Marxismus zuordnet, zu lösen versucht, legen Hardt und Negri in Empire auf diesen
Begriff erneut entscheidendes Gewicht. Denn im Begriff der Souveränität ist staats- und
rechtsphilosophisch von der absoluten Mo-narchie des 17. Jahrhunderts bis zum
Volksstaat des 20. Jahrhunderts das Problem der Staatsmacht reflektiert worden. Hardt
und Negri setzen die politische Fähigkeit, die Bevölkerung in all ihren Verästelungen zu
lenken, der Souveränität nicht entgegen. Gouvernementalität ist in ihren Augen vielmehr
die unter dem Paradigma der Biopolitik dominante Form der Souveränität, die jedoch mit
den Attributen der Zentralität, Homogenität und Absolutheit nicht mehr zu umschreiben
ist.
Damit sind nicht nur die Konzepte der Souveränität im Rahmen der Metaphysik des
modernen Staats neu lesbar. Hardt und Negri verweisen zudem ständig auf die
Subgeschichte des modernen Staats als Geschichte seiner praktischen Kritik. Nimmt man
Foucaults Unterscheidung von Genealogie und Archäologie auf, dann lässt sich die
Geschichte des modernen Staats durch Zyklen und Typen sozialer Kämpfe kennzeichnen.
Genealogisch gesehen, durchläuft der moderne Staat eine Metamorphose von den
gewaltsamen Renaissancestaaten über den bürokratisierten Staat des Absolutismus und
den restriktiven Staat des Bürgertums bis hin zum integrativen sozialen Nationalstaat.
Diese Metamorphose ist allerdings hervorgerufen durch soziale Kämpfe, die gerade jene
Subgeschichte des modernen Staats bilden. Das gilt von den Kämpfen der Armen im 17.
und 18. Jahrhundert über die Konstitution des Proletariats im 19. Jahrhundert bis zu den
Kämpfen der industriellen Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert. Auch die Kämpfe der
Sklaven und Kolonisierten sowie die Migrations- und Fluchtbewegungen bis in die
Gegenwart sind Momente dieser Geschichte. Und schließlich gehören hierzu auch die
sozialen Bewegungen, die vornehmlich die Modi gesellschaftlicher Reproduktion
attackieren, etwa die Frauenbewegung, die Bewegungen der Jugend und für (sub-)
kulturelle Anerkennung.
Archäologisch betrachtet, können die sozialen Kämpfe in Anlehnung an Foucaults
Machtanalytik durch drei Typen charakterisiert werden: erstens als Kämpfe gegen die
Ausbeutung, die den Produzenten von seinen Produktionsmitteln trennt, zweitens als
Kämpfe gegen die Ausgrenzungen, die Individuen diskriminieren und ihre
gesellschaftliche Partizipation verhindern, und drittens als Kämpfe gegen die
herrschenden Formen der Subjektivität, die bestimmte Muster sozial anerkannter
Selbstdarstellung liefern, um die Subjekte daran zu fesseln.
Multitude. Im Blick auf diese Subgeschichte kann Gouvernementalität im Rahmen
materialistischer Staatstheorie neu gefasst werden. Sie stellt sich mit Foucault als die
Technologie zur Regulierung von Bevölkerung dar. Zugleich bezeichnet sie, um eine
Formulierung von Marx aufzunehmen, die Regierung der »absichtlichen Beleidigung der
›vile multitude‹, der schoflen Menge«. So verstanden könnte Empire als Propädeutik zur
Analyse des gegenwärtigen kapitalistischen Staats gelesen werden. Auf biopolitischem
Terrain ist die Multitude der staatlichen Bevölkerungspolitik sowohl entgegen- als auch
immer vorausgesetzt.
Im Unterschied zur Bevölkerung, die nach Foucault eine administrative Größe darstellt,
und im Unterschied zu den classes populaires gegenüber dem Machtblock, wie Poulantzas
dies nannte, bildet die Multitude eine Koalition, Allianz und Assoziation unterschiedlicher,
nicht nur individueller Bestrebungen. Gemeinsamkeit besteht in den biopolitischen
Bedingungen ihrer Existenz. Sie ist auf dem Feld der Biopolitik situiert, kann sich aber als
Zusammenschluss von singulären Subjektivitäten deren strategischer Ausrichtung
entziehen und widersetzen.
Empire kritisiert Foucaults historische und soziologische Beschränkungen, die ihn daran
hindern, die Antriebskräfte im Verhältnis von Produktion, Biomacht und Biopolitik zu
untersuchen. Der Verweis auf die ontologische Substanz der lebendigen Arbeit jedoch,
den Hardt und Negri gegen Foucaults Strukturalismus stellen, reicht dazu nicht aus. Die
Multitude ist von dem Antagonismus durchzogen, dessen Feld das biopolitische
Paradigma der kapitalistischen Akkumulation ist. Und die Bedingungen des Kommunismus
sind keine ontologischen, sondern sie ergeben sich aus den jetzt bestehenden
Voraussetzungen.
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