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Warum Existenzanalyse?
weilen im Vordergrund, weil sie manchmal einen Zugang zur Person ermöglicht.
Nicht immer geht es um existentielle Erfüllung, nicht jedes Problem hat in erster
Linie mit dieser Grundausrichtung der Lebensgestaltung zu tun (wenngleich sie
sogar bei einem Beinbruch oder „rein organischen Krankheiten“ im Blickfeld zu
behalten ist und die letztlich entscheidende Rolle spielt). Aber die existenzanalytische Behandlung bleibt immer gebündelt fokussiert auf die Person.
Der Begriff „Existenzanalyse“ wird vielleicht von manchen in freier Assoziation mit „Psychoanalyse“ in Verbindung gebracht. Tatsächlich hat Viktor Frankl
den Begriff Existenzanalyse (ab 1933, publiziert 1938) als paradigmatischen Gegenbegriff zur Psychoanalyse gedacht. EA hat somit einen Bezug zur klassischen
„Psycho-Analyse“, wenngleich in einem oppositionellen und ergänzenden Sinn.
Existenzanalyse und Unbewusstes
Die therapeutischen Prozesse in der EA können nicht ohne das Unbewusste und
die ständige Erfahrung von Begrenzungen in Erinnerung, Wissen, Fähigkeiten
usw. angegangen werden. Doch geht es in der EA nicht primär darum, Unbewusstes (wie auch Begrenzungen) möglichst bewusst zu machen oder Begrenzungen zu überwinden. Das Unbewusste wird nicht als etwas angesehen, das
möglichst dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden soll, sondern es gilt im
Regelfall als Entlastung, ist oft auch ein (vorübergehender) Schutz. Es ermöglicht eine Spontaneität und Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs und hilft bei der
Verarbeitung von Komplexität, deren Bewusstheit unter Umständen zu sehr zur
Belastung werden könnte.
So markiert der Begriff „Existenz-Analyse“ neben dem Gemeinsamen (Analyse, Tiefe des subjektiven Erlebens) auch gleichzeitig den zentralen Unterschied
zur Tiefenpsychologie wie auch zu anderen Richtungen der Psychotherapie. Der
Begriff ist daher Programm: Es geht um die gelebte und vollzogene Auseinandersetzung mit der Existenz, auch in ihrem unbewusstem Vollzug, wenn nur
die Stimmigkeit als bewusst wahrnehmbares „Barometer“ unbewusster Prozesse
gegeben ist.
Existenz-Analyse impliziert ein Menschenbild
Dieser „programmatische“ Aspekt der EA verlangt eine anthropologische Perspektive, die eine Reflexion fundamentaler Lebensbezüge beinhaltet (der Strukturen der Existenz) und die einzelnen Strebungen des Menschen – seine Motivationen – in Bezug auf sie gewichtet (Grundmotivationen). Mit den damit
verbundenen Grundannahmen von der menschlichen Existenz und der Bedeutung der Person wird auch die Wahl der methodischen Vorgehensweise festgelegt, um den Grundbedingungen erfüllender Existenz gerecht werden zu können. Dadurch weist die EA aus, was in ihrer Sicht als „gesund“ angesehen wird
und was als „wichtig“ für eine erfüllende Existenz gilt; auf diese Inhalte hin wird
die Behandlung angelegt. Die EA geht davon aus, dass das Wesentliche der Exis-
Was ist Existenzanalyse?
tenz des Menschen in seinen eigenen Händen liegt, d. h. ob, wie und wofür er
die immer vorhandene Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, erkennt, ergreift
und ausführt. Aus dieser Sicht hängt das Wesentliche der Existenz vom Menschen selbst ab. Existenz kommt nur zur Erfüllung, wenn sie in diesem Sinne frei
und von innen heraus gelebt werden kann. Die Orientierung an diesem Grundsatz stellt auch die Grundlage für eine persönliche Erfüllung im Dasein dar und
wird deshalb in der EA als Erfüllung des Wesens der Existenz angesehen (vgl.
Kap. B.2.3). Die dafür adäquate Vorgehensweise hat diesem persönlichen Freiraum und der dialogischen Struktur der Existenz zu entsprechen. Dafür braucht
es eine primär phänomenologische Haltung und Vorgehensweise (vgl. Kap. C.9).
Daraus leitet sich konkret ab: Sofern ein Mensch nach Erfüllung im Leben
sucht (was in seiner Wahl liegt und nicht voll determiniert ist), so geht das der
EA zufolge nur über eine Auseinandersetzung mit den vier Grundstrukturen
(oder Grundmotivationen, GM) der Existenz. Dabei geht es um
• Halt-Finden und mit den Gegebenheiten zurechtkommen (1. GM),
• Wert-Fühlen und sich auf Beziehungen einlassen können (2. GM),
• Arbeit in der Entschiedenheit und Authentizität (Selbst-Aktualisierung –
3. GM) und
• Abstimmung mit den größeren Zusammenhängen, wodurch das Leben in Verantwortung vor sich selbst und vor anderen handelnd vollzogen wird (4. GM)
(vgl. Kap. C.3).
Es geht in diesem Konzept um ein Leben, das einerseits situativ immer wieder
als sinnvoll erfahren werden kann und sich andererseits mit dem umfassenden
(auch spirituellen) Sinn des Lebens mehr oder weniger bewusst befasst. Diese
Elemente, die der existentiellen Erfüllung zugrunde liegen, werden als Grundlage für seelische Gesundheit angesehen. Auf dieser Grundlage kann der Mensch
sein persönliches Glück finden.
Existenz und Krankheit
In der EA ist man mehr an der Gesundheit interessiert als an der Krankheit.
Für die seelische Gesundheit ist es wichtig, dass der Mensch mit sich selbst und
mit seiner Umgebung in Über-ein-stimmung steht bei dem, was er tut oder lässt.
Dafür ist der dialogische Austausch (mit anderen, mit der Welt, mit sich selbst)
grundlegend. So leben zu können, ist in diesem Verständnis von Existenz sogar
wichtiger, als körperlich gesund und psychisch konfliktfrei zu sein.4 Natürlich
4 Eine innere Übereinstimmung mit dem Handeln ist grundsätzlich möglich, auch wenn
man in psychischen Konflikten steht. „Übereinstimmung mit sich“ bedeutet nicht Konfliktfreiheit – man kann trotz Ängsten, Depression oder Sucht Dinge tun, die vor einem
selbst Bestand haben und die man vertreten kann. Die Pathologie der Störung determiniert den Menschen nicht sogleich – und es kann die Pathogenität in ihrer existentiellen
Auswirkung sogar gemildert werden durch Handlungen, die in Abstimmung mit der
Person stehen.
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ist diese dialogische Abstimmung mit sich und anderen/anderem in psychischer
Gesundheit leichter zu finden und durchzuhalten, als wenn Störungen das Erleben und Verhalten fixieren. Man kann es so zusammenfassen: Mit Störungen
ein existentiell erfülltes Leben zu führen, ist wohl punktuell möglich, aber viel
anstrengender, komplizierter und schwieriger durchzuhalten.
Die Annahme, dass die Übereinstimmung mit sich und der Umgebung wichtig ist für ein erfüllendes Leben, hat weitreichende praktische Bedeutung. Da im
Menschen mit der Person eine Dimension besteht, die das Körperliche und Psychische voraussetzt (d. h. mit beiden untrennbar verbunden ist), sich von beiden
aber doch auch unterscheidet und beide auch – dank der Freiheit – übersteigt
(transzendiert), kann der Mensch in seinem Wesen intakt sein, auch wenn er
körperlich krank oder gelähmt ist oder im Sterben liegt. Er kann seine personale
Integrität bewahren, „Ich“ bleiben, ein Wesen, das den vollen menschlichen Respekt verdient, auch wenn da viele Probleme sind oder der Mensch leidet, wie
z. B. unter Beziehungsstörungen, wirtschaftlicher Not, Schlafstörungen, körperlicher Verstümmelung und Gebrechen, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder
einer Psychose (vgl. Frankl 1975, 242 f.). Denn zu seiner vollen Existenz gelangt
der Mensch nicht durch das Freisein von allem Behindernden, sondern durch
das Ausschöpfen seines personalen Freiraums, wodurch er das jeweils Bestmögliche – das Beste, das ihm unter den gegebenen Umständen möglich ist und das
er als solches ansieht – in jeder konkreten Situation verwirklicht. Der Mensch ist
nicht einfach, was er ist. Er ist mehr als das. Er ist, was er aus sich macht, wie
er entscheidet – er wird also ständig und immer aufs Neue das, was er ist. Er ist
in seinem Wesen ein Potenzial, ein „noch nicht“, ein Unfertiger; einer, der sich
selbst sein kann (Heidegger 1927b, 12; Jaspers 1956b, 2; Spaemann 1996, 19–24,
262; Frankl 1975, 41 ff.). Darin verwirklicht sich die personale Freiheit. Durch
kontinuierlichen inneren Dialog, durch stets neue eigene Positionierung, durch
Übung und Lebenspraxis werden die Freiräume erhalten und sogar erweitert. Es
ist diese Freiheit, dieses Potenzial zur Autodetermination, das Respekt verdient,
denn es lässt den Menschen letztlich aus sich heraus bestimmt sein. Mit dieser
Veranlagung verbunden ist die Würde des Menschseins, die jedem körperlichen
oder psychischen Status vorgeordnet bleibt (vgl. Scheler 1978, 11, 38, 70 f.; 1980,
372; Frankl 1975, 277; Jaspers 1962, 474; Spaemann 1996, 181; Plessner 1928,
bes. 289).
Die leidvollen Bedingungen, in denen der Mensch stehen kann, werfen die
Fragen der Existenz manchmal noch heftiger auf, als man sie sich ohnehin stellt.
Denn in der Auseinandersetzung mit dem Dasein stellen sie sich jedem Menschen – sie stellen die tägliche Herausforderung in lebensgestalterischer Hinsicht
dar. Kann der Mensch ihnen nicht entsprechen, beginnt er zu leiden. Hält dies an
oder sind die Belastungen zu stark, werden die Divergenzen zu groß, die Konflikte zu tief, entstehen in der Folge psychische Krankheiten (vgl. Ofman 1988, bes.
261–266; Längle 1992c).
Was ist Existenzanalyse?
Der Fokus der EA
In der EA ist der Fokus auf diese zentrale Dimension menschlicher Existenz gerichtet, auf die Dimension der Person (d. i. die geistige Dimension) mit ihrer Fähigkeit, zu erleben und zu entscheiden – dort ist der Ausgangspunkt der Arbeit.
Sie soll stets im Auge behalten werden – Gespräche und Vorgehensweise werden
darauf bezogen. Praktisch heißt das, dass es in der beraterischen oder therapeutischen Arbeit primär darum geht, die innere Zustimmung zu dem, was man tut oder
lässt, zu finden und nach ihr zu leben.
In der Praxis kann dieses Konzept mannigfaltig zur Entfaltung gelangen.5 Es
bestimmt sowohl die methodische Vorgehensweise als auch die Ausrichtung der Inhalte in den Gesprächen und deren Atmosphäre nachhaltig. Stets soll die Fähigkeit
zur eigenen Entscheidung bei den Klienten angesprochen, mobilisiert und geübt
werden.
Der Blick auf den Menschen als geistiges Wesen bringt in den Gesprächen die
Freiheit der Personen in den Mittelpunkt. Methodisch wirkt sich das so aus, dass
hauptsächlich in Frageform vorgegangen wird, wodurch die Patienten/Klienten
zu „Entscheidenden“ werden. Sie sollen klären und festlegen, was, wie viel und
wie sie sprechen wollen. Sie sollen sich und ihre Situation dadurch selbst aktiv
gestalten. In den existenzanalytischen Gesprächen geht es nicht darum, alles sagen zu müssen, was einem einfällt, und so das Innerste nach außen zu kehren.
Denn hier geht es nicht um die Aktivierung des Unbewussten, sondern um die
Aktivierung der Freiheit der Person. Darum sollen die Klienten/Patienten nur
das sagen, was sie auch sagen wollen, was sie vertreten können. Sie sollen daher immer wieder neu entscheiden, sich neu aktualisieren in ihren personalen
Ressourcen. Sie sollen nicht nur darum wissen, sondern durch die Gesprächsatmosphäre spüren, dass sie frei sind, dass sie in der Freiheit respektiert sind und
dass diese gefördert wird. So wird z. B. üblicherweise der Klient am Beginn eines
Gespräches gefragt, was ihm heute wichtig ist, worüber er heute sprechen möchte. – Da es sich aber um einen Dialog handelt, hat auch die Stellungnahme des
Therapeuten ihren Platz. Die Existenzanalytiker geben, um bei dem Beispiel der
Anfangssituation zu bleiben, den Klienten auch ihre Ansicht dazu kund, können
die Sicht des anderen bestätigen (und sprechen es aus: „Ich finde auch, dass das
ein wichtiges Thema für heute ist“) oder stellen ihm andernfalls die Frage, ob er
nicht fände, dass es besser wäre, da oder dort fortzufahren, z. B. wo er das letzte
Mal aufgehört hat. Wenn Existenzanalytiker Vorschläge machen, so geht es um
das Bilden eines dialogischen Gegenübers. Man geht nie ohne das Einverständnis
des Klienten vor – eine Haltung, die heute in vielen Therapieformen ähnlich gelebt wird und oft unter dem Begriff der Einholung und Arbeit an der Bereitschaft
5 Vgl. z. B. Frankl 1982b, 2007; Jöbstl 2002, 2009; Kolbe 1994, 2000, 2010, 2012; Längle
2014a; Probst C. 2002a, 2002b, 2003; Probst M. 2002, 2004; Tutsch 1996, 1999, 2002,
2010 u. a.
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und der Schaffung einer therapeutischen Allianz in etwa diesem Sinne abgehandelt wird (vgl. z. B. Reimer et al. 1996; Parfy et al. 2003).
Dadurch, dass sich die Therapeuten ebenfalls in das Gespräch einbringen,
kommt auch ihre Freiheit dazu. Ihre Rede ist persönlich, folgt nicht einem Schema, ist nicht an Methoden gebunden. Es wird in jeder Situation neu entschieden,
was zu tun ist, um möglichst individuell vorzugehen und der Person und Situation entsprechen zu können. Jede Therapie ist einmalig, ist nicht wiederholbar.
Diesen Umstand hat der Schweizer Arzt Dubois angeblich einmal so trefflich mit
dem Satz illustriert: „Wer zwei Patienten in der gleichen Art behandelt, hat zumindest einen falsch behandelt!“
Durch die Freiheit ist jeder Mensch und jede Gesprächskonstellation einzigartig. Alle Methodik und Technik, die das nicht berücksichtigt, geht am Menschen vorbei. Das geschähe zum Schaden der Patienten; das macht aber auch die
Arbeit für die Therapeuten und Berater über die Jahre immer leerer und bald
langweilig.
Analyse der Bedingungen der Existenz
Das Leben eines jeden Menschen, die „Realisierung der Existenz“ also, ist an Voraussetzungen gebunden. Existenzanalytische Arbeit ist daher notwendigerweise
Analyse der Bedingungen für eine erfüllende, dem Wesen des Menschen gerecht
werdende Existenz, wie wir schon gesehen haben. Dabei gibt es allgemeine und
konkrete Voraussetzungen. Die Analyse dieser Bedingungen erfolgt auf zwei Ebenen: anthropologisch-empirisch („Was braucht es allgemein?“) und ideografisch
(„Was braucht dieser Mensch konkret unter seinen aktuellen Lebensbedingungen,
um innere Erfüllung zu erlangen und seinem Dasein in der Welt gerecht zu werden?“). Auf beiden Frageebenen, theoretisch wie praktisch, beleuchtet die EA
zugleich den Aspekt des zu akzeptierenden, unveränderbaren Notwendigen,
Festgelegten (wie z. B. nicht rückgängig zu machende Verluste), als auch die Seite des Freien, der Gestaltungsmöglichkeiten: Was braucht dieser Mensch dafür
und welchen Spielraum hat er, um die Bedingungen entsprechend verändern
bzw. in ihnen und mit ihnen das Wichtige umsetzen zu können?
Existenz ist, wie schon gesagt, ein Konstrukt, das der unmittelbaren Veränderbarkeit entzogen ist. Darum wird an den Voraussetzungen, Bedingungen und
Möglichkeiten für Existenz gearbeitet. Zudem ist Existenz ein ganz individuelles Geschehen, das sich von der Freiheit des Einzelnen nicht entbinden lässt.
Darum lässt sie sich nicht prognostizieren, nicht in allgemeingültigen Gesetzen
festlegen. Existenz ist indeterminiert. Man kann sich nur für sie entscheiden und
sie durch die Haltung der Offenheit und die Bereitschaft, sich einzusetzen, „eintreten“ lassen. Die Erfüllung im Dasein, die Liebe zum Leben, die Sinnhaftigkeit
und das Glück des Lebens können nicht auf direktem Wege erzeugt werden.
Ebenso wenig können die Kraft, die Überzeugung oder Hoffnung, der Mut, die
Lebenslust, ein Sinn einer Situation usw. – die Voraussetzungen also, die den
Was ist Existenzanalyse?
Menschen in die Lage versetzen, schwierige Lebenssituationen durchzustehen –
von ihm selbst „gemacht“ werden. Hier ist das Wollen des Menschen mit dem
anderen Aspekt der Freiheit zu paaren, nämlich mit dem Lassen – sonst wird es
zum „Krampf“ (Längle 2012).
Grenzen der Behandlung
Das führt auch gleich die Grenzen der Vorgehensweise vor Augen. Alle Wissenschaftlichkeit und Methodik soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass an den
Strukturen der Existenz und der Persönlichkeit gearbeitet wird. Man kann durch
Fühlen, Erkennen, Lernen, Stellungnahmen einen gewissen Einfluss nehmen
auf Erleben, Überzeugungen, Erwartungen und Haltungen der Person, und man
kann manche Bedingungen der Umwelt und Mitwelt gestalten. Doch bleibt jede
Therapie den entsprechenden Eigengesetzlichkeiten der Außen- und Innenwelt
sowie den äußeren und inneren Ressourcen unterworfen. Psychotherapie ist
kein Allheilmittel und nicht allmächtig. Es ist oft schon viel getan, wenn eine
schwierige Lebenssituation mit einem Menschen in einer offenen und annehmenden Haltung begleitet wird. Das Wichtige einer phänomenologischen Haltung in der Psychotherapie ist, ohne Erwartungen zu schauen, worum es eigentlich geht und was überhaupt verändert werden kann, und sei es auch noch so
bescheiden. Die Patienten sollen nicht irgendwelchen Therapiezielen (auch nicht
ihren eigenen, vielleicht unrealistischen Zielen oder Wünschen) untergeordnet
werden, sondern es ist an ihnen selbst, an ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten
Maß zu nehmen.
Das bedeutet Zurücknahme und Bescheidenheit der existenzanalytischen
Therapeuten, und es bedeutet, zu sehen, was diese Person in ihren aktuellen
Umständen derzeit zu erkennen, zu erleben, zu entscheiden, zu tun imstande
ist. Damit ist keinem therapeutischen Nihilismus das Wort geredet, im Gegenteil.
Immer kann der Therapeut sich in Beziehung setzen, Anteil nehmen und mitgehen. Das hilft, verhilft den Menschen zu ihrer Existenz: zu einem Leben, das in
der Offenheit eines inneren und äußeren Dialogs steht und sich daher auf das
eigene Wesen ebenso bezieht, wie es sich mit dem Wesentlichen der Lebensumstände abstimmt.6 In einem solchen atmenden Austausch und handelnden Wirken in der Welt wird Existenz ganz basal realisiert: der Umstand nämlich, dass
wir in eine Welt gestellt sind, in der es gilt, sich selbst zu finden (und zu werden)
und mit den vorhandenen Gegebenheiten förderlich umzugehen. Doch muss der
Mensch das nicht tun – er ist diesbezüglich frei. Er muss sich nicht finden, sich
nicht treu sein und mit den Dingen der Welt sorgsam umgehen, muss sich nicht
6 Jaspers (1956d, 15): „Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält“, d. h. auf das Umgreifende bezogen ist. Ansonsten ist es nicht Existenz
(Jaspers 1956c, 6). Nochmals anders formuliert: „Existenz ergreift sich in ihrer Freiheit
nur, indem sie in demselben Akt zugleich ein ihr Anderes wahrnimmt“ (Jaspers 1956c,
4).
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auf die Werte und die anderen Menschen einlassen. Die EA macht diesbezüglich
keine Vorgaben, fordert nicht. Sie ist keine Ideologie, sondern ein „Erhellungsinstrument“. In ihr geht es darum, diese Möglichkeit bewusst und zugänglich zu
machen und aufzuzeigen, was die Konsequenzen sind, damit jeder nach seinem
Gutdünken, nach seiner inneren Stimmigkeit und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten entscheidet.
Existenzphilosophie
Das Existenzverständnis der EA steht in der Tradition der Existenzphilosophie
(z. B. Kierkegaard 1844; Heidegger 1927b; Jaspers 1956a, 1974; Sartre 1946;
Bollnow 1965; Müller 1964; Arendt 1990; Zimmermann 1992; Espinosa 1998).
In ihm wird der Mensch als in eine Welt eingebettet angesehen. Das Dasein
ist „In-der-Welt-Sein“, wie es Heidegger formuliert (vgl. Holzhey-Kunz 2008,
203 ff.). Es ist gerade dieses Wechselverhältnis des Menschen mit „seiner Welt“,
was das Menschsein prägt. Der Mensch ist von seinem Wesen her nicht isoliert
und soll daher nicht als „Monade“ behandelt werden. Alles Wachsen und Dasein
ist vielmehr von vornherein und grundsätzlich in einer Wechselbeziehung zu etwas
oder jemand anderem. Sich selbst sein – mehr noch: sich selbst werden – erfolgt
nur als Partizipation und in dialogischem Wechselverhältnis mit anderen und
anderem. Doch soll dieser Außenbezug nicht zu weit gezogen werden. Das, was
die Person als „das Eigene“ empfindet, ist nicht nur Internalisierung von äußeren Erfahrungen, sondern hat immer auch einen genuinen, unverwechselbaren
Ursprung in der Person selbst.7 – Es charakterisiert die existenzanalytische Arbeit
und Denkweise, den Menschen in „seiner Situation“ zu sehen, also in Verbund
und Dialog mit den konkreten Umständen, die ihn als Person angehen bzw. ansprechen.
2 Entstehungsgeschichte der EA
Der Gründer der EA (und der Logotherapie), der Wiener Psychiater und Neurologe Viktor Frankl (1905–1997), kannte die Psychoanalyse Sigmund Freuds
der 1920er-Jahre und hatte großes Interesse an ihr. Doch wechselte er bald zu
Alfred Adler über und durchlief in der Individualpsychologie eine Ausbildung.
Durch seine dortigen Lehrer Oswald Schwarz und Rudolf Allers befasste er sich
vermehrt mit der Psychosomatik und kam durch Rudolf Allers mit der philoso7 Dies kann – wie so vieles in der Psychologie – homolog zum körperlichen Geschehen
aufgefasst werden. Jeder Baustein des Körpers, jedes Molekül, stammt „von außen“
aus der Welt. Doch sind die meisten Proteine so individuell, dass sie nicht austauschbar
sind. Sie sind geprägt von der eigenen Lebenskraft, die ihnen einen unverwechselbaren
Stempel aufgedrückt hat, was bei manchen Behandlungen (z. B. Transplantationen) erhebliche Probleme bereiten kann.
Entstehungsgeschichte der EA
phischen Anthropologie und Phänomenologie von Max Scheler in Kontakt, was
den Grundstein zur Entwicklung der Logotherapie legte.
Psychologismuskritik
Unter diesem Einfluss schloss sich Frankl der Husserl’schen und Scheler’schen
Psychologismuskritik an und trat für eine Erweiterung der individualpsychologischen Anthropologie und Neurosenlehre ein. Adlers damalige Lehre, die die
Neurose als Arrangement und damit als Mittel zum Zweck (sekundärer Krankheitsgewinn) ansah, beruhte psychodynamisch auf dem Minderwertigkeitsgefühl. Dies erschien ihm als Reduktionismus in der Form des Psychologismus,
dem er eine Auffassung gegenüberstellte, in der die Neurose auch durch eine
existentielle Desorientierung und durch ein Leiden an Sinnlosigkeit mitverursacht sein könne. Er vertrat die Ansicht, die Psychotherapie müsse durch die
Einführung der „geistigen Dimension“ ergänzt und erweitert werden. Dem Reduktionismus Freud’scher und Adler’scher Prägung würde das spezifisch Humane (insbesondere die Sinnsuche) fehlen und bedürfe einer Erweiterung. Die öffentliche Bekundung dieser Ansicht führte 1927 zum Ausschluss Frankls aus der
individualpsychologischen Vereinigung.
Gegen den Reduktionismus in der Psychotherapie
Reduktionismus bedeutet Vereinfachung durch Verringerung der Zahl der Dimensionen in der Betrachtung. Wenn komplexe Phänomene nur noch als Erscheinung psychischer Kräfte angesehen werden, wird eine Liebesbeziehung
z. B. zum Versuch, ein Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden. Die Attraktivität
des Partners kann jedoch nicht nur in der Befriedigung des Minderwertigkeitsgefühls bestehen, sondern auch mit seiner Liebenswürdigkeit zu tun haben, also
mit einer Eigenschaft, die nicht von der Psyche des Verliebten allein hervorgebracht wird. Der geistigen Dimension des Menschen mit Freiheit, Wille und
Würde des Menschen wird im Psychologismus ihre Eigenständigkeit aberkannt,
sie wird dadurch ausgeblendet und allein auf psychische Vorgänge zurückgeführt. In weiterer Folge wird z. B. der Wert einer Handlung oder einer Aussage
allein an der psychologischen Absicht und nicht an ihrem Inhalt oder ihrer Wirkung beurteilt.
Die auch von anderen Existenzphilosophen und Psychiatern (z. B. von Karl
Jaspers, Ludwig Binswanger, Viktor v. Gebsattel) geführte Psychologismuskritik,
nämlich alle geistigen Phänomene allein auf psychische Ursachen zurückzuführen, brachte Frankl (1959, 700) auf die plakative Formel: „Zwei mal zwei ist vier,
auch wenn ein Paranoiker es sagt“.
Umgelegt auf die Psychotherapierichtungen meinte Frankl: Während es in
der Psychoanalyse um den „Willen zur Lust“ gehe und in der Individualpsychologie Alfred Adlers um den „Willen zur Macht“ (Nietzsche), ginge es in der „dritten Wiener Richtung für Psychotherapie“ (der Logotherapie) um den „Willen
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zum Sinn“. Dieses tiefe Streben des Menschen nach Sinn sei umfassender und
keine partikuläre Motivation. Als solche verstand Frankl den Willen zum Sinn
nicht nur als Ergänzung der beiden tiefenpsychologischen (psychodynamischen)
Motivationskräfte, sondern als die primäre Motivationskraft des Menschen. Darum soll die Psychotherapie nicht nur unbewusste Triebhaftigkeit bewusst machen, sondern es müsse vielmehr in jedem Fall (auch und in erster Linie) um
die Bewusstmachung des (unbewussten) Geistigen gehen (Frankl 1982a, 39), um der
Ganzheitlichkeit des Menschen zu entsprechen. Darin liege der Fehler des Psychologismus: dass nämlich der Mensch auf die psychische Dimension reduziert
werde und der Einfluss der somatischen und der personal-geistigen Dimension
nicht integrativ und substanziell dazukomme.
Frankl verwendete gerne den Begriff des „Geistigen“ (wir sprechen heute in
der EA mehr vom „Personalen“ oder auch Intentionalen). Dieser Begriff ist in
der Psychologie wenig geläufig und steht in Gefahr, mit Geistlichem oder Esoterischem („Geister“) verwechselt zu werden. In der existenzanalytischen Anthropologie bedeutet das „Geistige“ aber die Veranlagung eines jeden Menschen, die
ihn (intentional) nach Sinn suchen lässt, nach personaler Freiheit, nach Werten
und verantwortlicher Bindung, nach Selbsttreue, Authentizität, Gerechtigkeit,
Schönheit (Kunst!) und Gewissenhaftigkeit. Der Begriff markiert eine Differenz
zum Psychischen (zur vitalen Dynamik der Lebenserhaltung, der Triebe, Stimmungen, Persönlichkeitszüge und Abwehrverhalten) und zum Körperlichen
(vgl. Kap. C.1). – Der Begriff der Intentionalität (vgl. Fischer 2008, 20118) umfasst vieles von dem, was hier als geistig bezeichnet wird.
Frankl hatte bereits 1938 das Konzept der Logotherapie und EA erarbeitet. Mit
der existenzanalytischen Theorie und einer an der Sinnsuche orientierten Praxis
(Logos heißt in diesem Zusammenhang Sinn) wollte Frankl eine Ergänzung und
Komplettierung der damaligen Psychotherapie schaffen. Frankls Bestreben war
zeitlebens, gegen den Reduktionismus in Psychologie und Psychotherapie aufzutreten und gegen die ihn begleitende „Sinnleere“ eine „Sinnlehre“ zu stellen, wie
er gerne sagte. Damit wollte er den Blick auf das „spezifisch Humane“ – eben auf
die Dimension der Geistigkeit (Person) und der Existenz – erweitern.
Logotherapie
Neben dem Begriff EA hat Frankl noch einen anderen Begriff geprägt, den er ständig
und fast ausschließlich verwendete: „Logotherapie“. Logotherapie ist eine sinn­orientierte Beratungs- und Behandlungsmethode. („Logos“ hat im philosophischen Kontext auch die Bedeutung von „Sinn“; seine Hauptbedeutung ist „Wort“ –
Logotherapie ist daher nicht zu verwechseln mit dem Sprachheilverfahren Lo-
8 Fischer spricht von „intentionalen Systemen“, was auf Brentano zurückgeht und von
Dennett (1971) weiter entfaltet wurde.
Entstehungsgeschichte der EA
gopädie). Mit der Logotherapie wird Anleitung und Hilfestellung bei der Suche
nach Sinn bzw. in der Prophylaxe und Pädagogik gegeben.
Immer schon versuchte der Mensch, dem Sinn seines Lebens nachzugehen,
sein Dasein existentiell zu vertiefen. Die Frustration dieses Verlangens, das eigene Leben in einem größeren Zusammenhang zu verstehen, ist zum Symptom
unserer Zeit geworden (Frankl spricht vom „existentiellen Vakuum“). Für diese
Zeitkrankheit hat Viktor Frankl ab 1926 die Logotherapie entwickelt und diese
Bezeichnung erstmals 1938 publiziert (zur Geschichte der Logotherapie und EA
vgl. Längle 1998a).
Inhalte der Existenzanalyse und Logotherapie
EA bedeutete für Frankl (1975, 271) das Bewusstmachen der Freiheit und des
Verantwortlichseins „als Wesensgrund der menschlichen Existenz“ (Frankl
1982a, 39). Das, „wovor“ der Mensch verantwortlich ist, ist bei Frankl der jeweils vorliegende situative Sinn (ebd.). Damit spannte Frankl den Bogen von der
Existenzanalyse zur Logotherapie. Denn ohne Sinn – ja, ohne letzten Sinn – gäbe
es auch keine Verantwortung (Frankl 1982a, 221). Das ist ein Grundgedanke der
Existenzphilosophie. Ein solcher letzter Sinn kann z. B. Gott sein oder die Würde des Menschen angesichts der Absurdität (Sartre 1943). Der letzte Sinn geht
natürlich über das Fachgebiet der Psychologie hinaus und verweist auf die Philosophie und die Religion, die als Nachbardisziplinen die EA ebenso flankieren wie
die Medizin, die Soziologie, die Rechtswissenschaften oder die Kunst.
Die beiden Achsen der praktischen Logotherapie bilden die Selbst-Distanzierung – die personale Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu kommen – und die
Selbst-Transzendenz – die personale Fähigkeit, aus sich herauszugehen und sich
auf etwas oder jemand anderen einzulassen. Wenn dies auf der Basis einer Wende in der Haltung zum Leben geschieht, dann kann der Mensch zu einer sinnvoll erfüllten Existenz gelangen. Frankl bezeichnet diese grundlegende Wende
als „kopernikanische Wende“, vergleichbar dem Umschlag vom geozentrischen
Weltbild zum heliozentrischen Weltbild durch Kopernikus.9 Existentiell gesehen
erhält der Mensch Erfüllung im Leben nicht dadurch, dass seine Fragen und
Forderungen an das Leben erfüllt werden (vgl. den Bezug zur Erfüllung im Leben in Kap. B.I.4–7, B.II), sondern indem er sich vom Leben befragen lässt und
auf die Fragen der Situation seine Antworten gibt. „Die Antworten aber, die der
Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete ‚Lebensfragen‘ sein.
In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz
selbst ‚vollzieht‘ der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen.“ (Frankl
1982a, 72)
9 Auch Freud sprach übrigens von einer kopernikanischen Wende durch seine Arbeit,
durch welche die Bedeutung des Bewusstseins im psychologischen Verständnis durch
die Macht des Unbewussten relativiert wurde.
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Wirkung in der Öffentlichkeit
Frankl konnte sein Buch über die Logotherapie (die spätere „Ärztliche Seelsorge“) vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr veröffentlichen. Er verbrachte
als Jude während des NS-Regimes zweieinhalb Jahre in Konzentrationslagern.
Diese Zeit war gewissermaßen der Prüfstein für seine Theorie. In seinem Buch
„… trotzdem Ja zum Leben sagen“ (1946/1977) reflektierte er diese Erfahrung.
Es wurde ein Buch, das ihn weltbekannt machte und bis heute mit seinen Millionenauflagen zu den Bestsellern in der Psychologie gehört. Frankl schildert
darin, was ihn und andere überleben ließ, und dazu zählten gerade die Grundtheoreme der Logotherapie. Mit Selbst-Distanzierung von der aktuellen Situation, Selbst-Transzendenz auf erhalten gebliebene Werte und der Ausrichtung auf
Sinn konnte er diese Grenzsituation des Lebens durchhalten.
Zwar sprach Frankl schon seit 1926 von „Logotherapie“ und ab 1933 von
„Existenzanalyse“, doch konnten seine Bücher erst nach dem Krieg an die Öffentlichkeit gelangen. Sie erreichten dann rasch (bereits in den 1950er-Jahren)
die beiden amerikanischen Kontinente. Es folgte eine überaus aktive Publikations- und Vortragstätigkeit, die Frankl an über 200 Universitäten der ganzen
Welt brachte, mit 80 Vortragsreisen allein in die USA. Die persönliche Bekanntschaft mit praktisch allen führenden Psychotherapeuten seiner Zeit, die Übersetzungen seiner Bücher in 24 Sprachen und ihre hohe Auflagen weisen Frankl
eine führende Position in der Psychotherapie zu. Mit seinen 28 Ehrendoktoraten, zahlreichen Orden und Ehrenmitgliedschaften gehört Frankl zu den am
meisten ausgezeichneten Persönlichkeiten in der Psychotherapie und Psychiatrie
seines Jahrhunderts.
3 Heutige Entwicklung der EA
EA als eigenständige Psychotherapierichtung
Frankl hatte nicht die Absicht, mit Logotherapie und Existenzanalyse eine eigenständige Psychotherapierichtung zu begründen. Er sah seine Entwicklung als Ergänzung der herkömmlichen Psychotherapie an, die ihm für alle Psychotherapien
geeignet schien, die Dimension des „spezifisch Humanen“ einzubeziehen (Frankl
1975, 272). Dementsprechend fand seine Entwicklung vor allem als philosophisch-psychotherapeutische Anthropologie Anerkennung, auf die Psychologen
und Ärzte, aber auch Pädagogen und Theologen gerne zurückgriffen.
Ab etwa 1990 wurde die EA im Rahmen der in Wien ansässigen Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) zu einer eigenständigen psychotherapeutischen Richtung ausgebaut und als solche in etlichen
Staaten anerkannt. EA stellt in dieser Vereinigung die Bezeichnung für das Psychotherapieverfahren dar; Logotherapie wird als Beratungs- und Behandlungsmethode bei Sinnproblemen angewandt und gelehrt. Somit besteht in dieser
Heutige Entwicklung der EA
Richtung auch eine eigene Beratungsform, die in der „existenzanalytischen Beratung und Begleitung“ neben der Sinnthematik auch die anderen existentiellen
Themen aufgreift und behandelt. Damit inkludiert die existenzanalytische Beratung und Begleitung die Logotherapie, arbeitet aber vorwiegend mit der Weiterentwicklung der EA, dem Strukturmodell der Grundmotivationen und dem
Prozessmodell der Personalen Existenzanalyse. Dasselbe gilt für die Anwendung
der EA als existentielles Coaching (Längle, Bürgi 2014).
Außer als Psychotherapie, Beratung und Coaching kommt die EA auch in der
Pädagogik, im ärztlichen Gespräch und in der Seelsorge zur Anwendung.
Die Geburt der heutigen EA
Die Entwicklung der heutigen EA fand durch die zunehmend phänomenologische Haltung und die weitere anthropologische Forschung ab dem Ende der
1980er-Jahre statt. Dadurch ergab sich eine grundlegende Revision der Motivationslehre und des Existenzverständnisses der damaligen Logotherapie (Längle
2014b, 2015b). Die Praxis und ihre phänomenologische Untersuchung zeigten
auf, dass die monistische, allein auf Sinnsuche ausgerichtete Grundmotivation
der Logotherapie („Wille zum Sinn“) so nicht mehr bestehen konnte, sondern
dass ihr drei weitere Grundmotivationen vorausgehen, die mit der Persönlichkeitsentwicklung und der Selbstentfaltung aufs Engste verwoben sind. Damit
verbunden waren eine Erweiterung des Existenzbegriffs und eine Revision der
Anthropologie. Die stringente Anwendung dieses Modells erforderte die Entwicklung eines phänomenologischen, die Person maximal aktivierenden Prozessmodells („personale Existenzanalyse“) und weiterer Methoden für die Anwendung der EA im klinischen und nicht klinischen Bereich. Damit war ca. 1990
die „personale Wende“ in der Logotherapie vollzogen und die heutige EA geboren. Das Sinntheorem der Logotherapie ist den personalen Prozessen nun auch
in der Therapie zeitlich nachgeordnet und stellt im Rahmen der Psychotherapie
eine Ergebnisvariable dar.
Der wesentliche Kern der Weiterentwicklungen
Der wesentliche Kern der Weiterentwicklungen besteht darin, die Sinnthematik
nicht mehr als die einzige bzw. zentrale (tiefste) Motivationsdynamik anzusehen,
sondern als eine von vier existentiellen Grundmotivationen zu verstehen, der
drei andere vorgängig sind. Diese sind:
1. die Schaffung von Bedingungen, um sein zu können und zu überleben;
2. die Schaffung eines Lebensbezugs durch Beziehungen und Werterleben;
3. die Selbstfindung und Begründung einer Authentizität.
Dann erst ist der Mensch frei zu einem erfüllenden Sinnerleben (vgl. Kap. C.2.7).
Grundlage der Beratung und Therapie ist die subjektiv in jeder Situation
selbst entwickelte Entschiedenheit für das Leben, die in der emotional empfundenen Zustimmung zur situativen Handlung zur Realisierung kommt. Diese Ent-
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Warum Existenzanalyse?
wicklung wird mitunter erst durch die Therapie angeregt oder bedarf der Unterstützung. Durch dieses Konzept wird der Existenzbegriff ausgeweitet. Existenz ist
nicht mehr nur Vollzug von Sinn, sondern davor und zunächst Besorgung von
Sein-Können, Leben-Mögen und Vollzug des Selbst-Seins.
Phänomenologie
Eine weitere Änderung stellt die zentrale Einbeziehung der Phänomenologie in
die psychotherapeutische Praxis dar (vgl. Kap. C.9). Dieser phänomenologische
Hintergrund führte auch zur Entwicklung einer existentiellen Emotionslehre und
zum Einbeziehen der Gefühle als Drehscheibe in der Praxis (vgl. Kap. C.5). Als
phänomenologische Psychotherapie setzt die EA am subjektiven Erleben der
Patienten bzw. Klienten sowie der Therapeuten an und bringt diese Wahrnehmungsformen in einen partnerschaftlichen Dialog. Beides – die Phänomenologie und der hohe Stellenwert der Emotionalität – führte zur Entwicklung einer
spezifischen Vorgehensweise, der Personalen Existenzanalyse als Prozessmodell
(Kap. F.7) und zur Implementierung biografischen Arbeitens10 (Kap. F.2). Um die
notwendige Epoché, d. h. die „Einklammerung“ der Eigendynamik erreichen zu
können, damit man für die vertiefte Wahrnehmung der Klienten frei wird, wurde in der Ausbildung ein erhöhtes Maß an Selbsterfahrung erforderlich.
Diese Entwicklungen, verbunden mit einem knappen Dutzend von methodischen Anwendungen (Kap. F), macht die EA bei allen psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Erlebnis- und Verhaltensstörungen anwendbar und
verleiht ihr eine empirisch überprüfbare Effizienz.11
Frankls Bruch mit der Wiener Gesellschaft für Logotherapie
und Existenzanalyse
Aufgrund dieser inhaltlichen und methodischen Entwicklung hatte Frankl 1991
den Ehrenvorsitz in der in Wien ansässigen „Gesellschaft für Logotherapie und
Existenzanalyse“ (GLE) zurückgelegt und die Beziehung zu ihr abgebrochen.
Frankl nahm Anstoß an der theoretischen Erweiterung des Personkonzeptes mit
ihrer methodischen Ausgestaltung der „Personalen Existenzanalyse“, an der Arbeit mit der Psychodynamik, weiters an der Relativierung des Sinntheorems, das
eine psychotherapeutische Vorarbeit und eine methodische Strukturierung erhielt, an der Einführung der biografischen Methode in der existenzanalytischen
Therapie sowie am Ausmaß von mindestens 300 Stunden Selbsterfahrung im
Rahmen der Ausbildung (vgl. Längle 1991, 1998a).
10Diese hatte Frankl stets zurückgestellt, ebenso wie er auch die Selbsterfahrung abgelehnt hatte.
11So lautet die Anforderung an eine wissenschaftlich fundierte, eigenständige Psychotherapierichtung gemäß österreichischem Psychotherapiegesetz § 1, nach welcher die EA
1993 staatlich anerkannt wurde.
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