Psychiatrische Diagnosen von Sexualstraftätern

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Psychiatrische Diagnosen von Sexualstraftätern
Eine empirische Untersuchung von 807 inhaftierten
Kindesmissbrauchstätern und Vergewaltigern
Übersicht: In der vorliegenden Untersuchung werden die psychiatrischen
Diagnosen von 807 Sexualstraftätern ausgewertet, die zwischen 2002 und
2009 in Strafhaft genommen wurden. Wie bereits früher berichtet, zeigt
sich eine hohe Prävalenz sexueller Störungen, Persönlichkeitsstörungen
und Substanzproblematiken. Bei einem Vergleich verschiedener Tätergruppen spielen die sexuellen Störungen in der Gruppe der Kindesmissbrauchstäter die größere Rolle, in der Gruppe der Vergewaltiger liegt eine höhere
Rate an Persönlichkeitsstörungen vor. Eine weitere Differenzierung der Kindesmissbrauchstäter nach vorwiegenden Opfertypen zeigt eine Zunahme
der psychiatrischen und sexologischen Pathologie bei geringerer Bekanntheit des Opfers. Abschließend wird die Relevanz der Ergebnisse für die
forensisch-psychiatrische Praxis diskutiert.
Schlüsselwörter: Kindesmissbrauch; Komorbidität; Pädophilie; Prävalenz;
psychiatrische Diagnosen; Sexualstraftäter; Vergewaltigung
Sexualstraftäter werden von den Gerichten in der Regel zwar als psychisch
auffällig, nicht aber als krank bewertet. Die Einweisungsraten in Anstalten
für „geistig abnorme Rechtsbrecher“ (Österreich) oder in den „Maßregelvollzug“ (Deutschland) sind im Vergleich zur Gesamtzahl verurteilter
Sexualstraftäter gering und bewegen sich zwischen 5 % und 10 % (Birklbauer
et al. 2009). Da die Rückfallraten niedriger sind als allgemein angenommen
und offenbar Rückfallbasisraten bei Sexualstraftätern weiterhin rückläufig sind (Eher et al. 2008; Helmus et al. 2009), scheinen die Zahlen dieser
richterlichen Spruchpraxis Recht zu geben. Gleichwohl gibt es mittlerweile
vermehrt Studien, die eine erhöhte Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen bei Sexualstraftätern nachweisen. So wurden Sexualstraftäter nach
einer Studie von Fazel et al. (2007) sechsmal häufiger stationär psychiatrisch behandelt als die Normalpopulation. Die Wahrscheinlichkeit schwerer
Z Sexualforsch 2010; 23; 23–35
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
ISSN 0932-8114
DOI 10.1055/s-0030-1247274
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Reinhard Eher, Martin Rettenberger und Frank Schilling
Z Sexualforsch 2010; 23
Eher R et al.
psychischer Störungen war in der Gruppe der Sexualstraftäter fünfmal
höher für die Diagnose einer Schizophrenie, dreimal höher für die Diagnose
einer bipolaren Störung und fünfmal höher für eine andere Form der Psychose. Die Wahrscheinlichkeit einer Persönlichkeitsstörung war in der
Gruppe der Sexualstraftäter 30-mal höher, die von Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit viermal so groß wie in der Normalbevölkerung.
Es liegt nahe, dass in einer Gruppe von verurteilten Sexualstraftätern
auch die Prävalenz sexueller Störungen erhöht ist. So wurde nach einer
amerikanischen Studie bei 58 % der untersuchten Sexualstraftäter eine
Paraphilie diagnostiziert (McElroy et al. 1999). In einer ähnlichen Studie
mit einer etwas größeren Stichprobe berichten Dunsieth et al. (2004) eine
Prävalenzrate von 74 % für Paraphilien. Eine weitere Studie differenziert
zwischen „forensischen Patienten“ und „Strafgefangenen“ und findet in
der Gruppe der forensischen Patienten Prävalenzraten von 52 % für Paraphilien und 10 % für sexuelle Funktionsstörungen; bei der Gruppe der Strafgefangenen sind es hingegen lediglich in 7 % bzw. 3 % (Harsch et al. 2006).
In einer eigenen Studie haben wir im Jahr 2003 eine Reihe von Sexualstraftätern nach der MTC-Typologie unterschieden (Knight und Prentky 1990).
Dabei zeigte sich, dass die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen und
sexuellen Störungen hypothesenkonform zwischen den einzelnen Tätergruppen stark differierte.
Die Relevanz komorbider psychiatrischer Störungen bei Sexualstraftätern, die als eine der wenigen Erklärungsmöglichkeiten für unterschiedliche Rückfallwahrscheinlichkeiten bei vergleichbarem aktuarischen Basisrisiko gelten kann (Helmus et al. 2009), ist nicht nur für die Gesamtgruppe
gegeben (Briken und Kafka 2007). Vielmehr ist sie auch in bestimmten
Untergruppen von Tätern bedeutsam. So findet sich z. B. in der Untergruppe
sexuell motivierter Mörder ein Zusammenhang zwischen Mehrfachtaten
und erhöhter Prävalenz sexueller Störungen (Berner et al. 2008). Andererseits fanden sich z. B. bei etwa der Hälfte der Mitglieder einer Gruppe von
Kindesmissbrauchern neben der Diagnose einer Pädophilie noch zusätzliche Paraphilie-Diagnosen (Raymond et al. 1999). Das etwaige Vorliegen
einer Komorbidität ist nicht zuletzt für eine effiziente Behandlung relevant,
vor allem vor dem Hintergrund, dass manche (sexuellen) Störungen offenbar in engem Zusammenhang mit affektiven, impulsiven und compulsiven
Störungen stehen (Briken und Kafka 2007; Hoyer et al. 1999, 2001).
Ein kausaler Beitrag psychischer Störungen zum Ereignis der Sexualstraftat ist nicht erwiesen (Hanson und Bussiere 1998). Diagnosen selbst oder
gar allein können keine Straftat erklären. Allerdings gelten „Störungen der
sexuellen Selbstregulation“ – worunter vor allem Störungen der Sexualpräferenz zu verstehen sind – und ein „erhöhtes Ausmaß an antisozialem und
impulsiven Lebensstil“ (Hanson und Morton-Bourgon 2005) als die beiden
rückfallrelevantesten Dimensionen. Obgleich sie selbst keine Diagnosen
darstellen, liegen diesen Dimensionen doch psychopathologische Symptome, Syndrome oder auch Diagnosen zugrunde (Beech und Ward 2004; Han-
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son und Bussiere 1998). Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen,
sämtliche bislang beschriebenen Erklärungsmodelle für sexuell delinquentes
Verhalten anzuführen, in denen psychologische oder psychopathologische
Symptome eine Rolle spielen. Fakt bleibt, dass die forensisch-psychiatrische
Forschungslandschaft weit entfernt davon ist, eindeutige Kausalzusammenhänge zwischen bestimmten Diagnosen und einer Straftat herzustellen und
insbesondere (noch) nicht in der Lage ist, bestimmte Diagnosen mit einer
bestimmten Gefährlichkeit oder Rückfallgefahr in Zusammenhang zu bringen. Dieser Mangel ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass aussagekräftige Daten zur Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen bei Sexualstraftätern fehlen.
Die vorliegende Studie ist als erster Schritt eines längsschnittlich prospektiven Studienprojekts zu verstehen, das psychiatrische Diagnosen auf
ihre Relevanz hinsichtlich der Rückfallgefahr von Sexualstraftätern untersucht. Im Folgenden präsentieren wir Häufigkeiten psychiatrischer und
sexologischer Diagnosen bei einer repräsentativen Gruppe inhaftierter
Sexualstraftäter in Österreich und vergleichen die Untergruppe der sexuellen Kindesmissbraucher mit der der Vergewaltiger. Anschließend unterteilen wir die Gruppe der Kindesmissbraucher abhängig vom Opfertyp und
vergleichen auch hier die Häufigkeiten der Diagnosen. Für die Studie wurden Diagnosen ausgewertet, die über einen Zeitraum von fast acht Jahren
erfasst wurden. Die Arbeit verfolgt vorerst keine spezifischen Hypothesen,
sondern soll eine bessere Grundlage für Bildung künftiger Hypothesen
schaffen, die die Bedeutung psychiatrischer Erkrankungen für eine Sexualstraftat betreffen.
Methode
Untersucht wurden 430 Kindesmissbrauchstäter und 377 Vergewaltiger, die
sich im Zuge von Begutachtungen für Vollzugszwecke (Gefährlichkeit, Diagnose, Behandelbarkeit und Fragen zur Nachbetreuung) seit Beginn des Jahres 2002 bis zum Stichtag am 31.8.2009 an der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter im österreichischen Strafvollzug
(BEST) aufhielten.1 Aufgrund der Tatsache, dass etwa 50 bis 60 % aller in
Österreich zu einer Strafhaft verurteilten Sexualtäter an der BEST begutachtet werden, sind die vorliegenden Daten als repräsentativ anzusehen.
In der aktuellen Literatur lässt sich nur eine Studie finden, die über ähnlich
repräsentative Daten verfügt (Fazel et al. 2007), während die meisten bisherigen Arbeiten über psychiatrische Diagnosen von Sexualstraftätern zum
Teil hochselektierte Stichproben beschreiben.
Dargestellt werden psychiatrische und sexologische Diagnosen, die sich
nach den Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer
Störungen (DSM-IV; APA 1996) richten. Alle Täter wurden im Zuge eines
1
Für genauere Informationen über den Hintergrund, den Ablauf und die konkrete
Durchführung dieser Begutachtungen siehe auch Eher (2009).
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Eher R et al.
mehrtätigen Aufenthalts an der Begutachtungsstation untersucht. Zumindest drei GutachterInnen waren jeweils bei der Beurteilung und Diagnosevergabe involviert. Im Zweifel entschied der Leiter über die konkrete
Diagnose. Es liegen keine Werte über Beurteiler-Übereinstimmungen vor
und wären angesichts von Teamdiskussionen zur Diagnosefindung auch
nicht sinnvoll zu erheben gewesen. Aufgrund der langjährigen forensischen
Erfahrung der MitarbeiterInnen und der intensiven Auseinandersetzung
mit der jeweiligen Störung im Vorfeld der Diagnosevergabe, sowie aufgrund
der umfangreichen Schulungen des Personals, ist von einer hohen Beurteilerübereinstimmung auszugehen.
Achse-I- und Achse-II-Diagnosen des DSM-IV wurden mithilfe der Strukturierten Klinischen Interviews für DSM-IV, SKID I und SKID II (Wittchen et al.
1997), durchgeführt. Dabei wurde für Achse-II-Diagnosen üblicherweise die
entsprechende Fragebogenversion vorgegeben, sofern die sprachlichen
Möglichkeiten des Probanden dies erlaubten. Sexologische Diagnosen wurden im Zuge eines eigenständigen Interviews und unter Zuhilfenahme verschiedener Zusatzbefunde (Testpsychologie, Aktenstudium) ebenso nach
den Kriterien des DSM-IV gestellt. Diagnosen der paraphilie-verwandten
Störungen („paraphilia related disorders“ – PRD) wurden anhand der publizierten Diagnoserichtlinien gestellt (Kafka und Hennen 1999, 2002).
Die Definition der Gruppenzugehörigkeit richtete sich nach strafrechtlichen Kriterien und wurde anhand des aktuell verurteilten Delikts vorgenommen. Eine Zuordnung zur Gruppe der sexuellen Kindesmissbraucher
erfolgte dann, wenn der Täter im aktuellen Fall wegen eines Sexualdelikts
an einem Kind unter 14 Jahren verurteilt worden war. Der Gruppe der Vergewaltiger wurde ein Täter dann zugerechnet, wenn er das Delikt an einer
Person verübt hatte, die 14 Jahre und älter war.
Die Einteilung der Kindesmissbraucher nach Opfertyp richtete sich nach
demjenigen Opfer beim aktuellen Delikt, dessen Verwandtschafts- / Bekanntschaftsgrad am geringsten war.2 So wurde ein Täter mit einem innerfamiliären und einem fremden Opfer der Gruppe der „Täter mit fremdem Opfer“
zugerechnet. Zur Definition des „fremden Opfers“ orientierten wir uns an
den Kriterien des Static-99 (Harris et al. 2003), eines statistisch-aktuarischen
Prognoseinstruments für Sexualstraftäter. Demzufolge wird ein Opfer dann
als fremd eingestuft, wenn es den Täter zum Zeitpunkt des Delikts nicht länger als 24 Stunden kennt. Zur Gruppe „Stiefvater“ rechneten wir sämtliche
Täter, die bei Deliktbeginn ein ehe-ähnliches Verhältnis zur Mutter des
Opfers hatten (also auch Lebensgefährten, Freunde oder Liebhaber der Mutter). Die anderen Gruppenunterteilungen sind selbsterklärend.
Das Durchschnittsalter der Gesamtgruppe, gemessen zum Zeitpunkt der
Rechtskraft des Urteils, betrug M = 38,3 Jahre (Min = 15,3; Max = 71,4). Das
Durchschnittsalter der Kindesmissbraucher war mit M = 43,4 (16,3–71,4)
2
Dies entspricht einem üblichen Vorgehen, wonach die forensische und kriminologische Bedeutung des Missbrauchstäters mit der Entfernung des Verwandtschaftsgrades zunimmt (Greenberg et al. 2000; Hanson et al. 2003).
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höher als das der Vergewaltiger mit M = 33,9 (15,3–61,9). Betrachten wir die
Untergruppen der Kindesmissbraucher, so ergibt sich folgende Altersstruktur: leibliche Väter (M = 45,5; 28,8–66,4); Stiefväter (M = 42,3; 19,6–65,2);
Täter aus dem erweiterten Familienkreis (M = 42,1; 16,4–68,9); nicht verwandte Täter, die die Opfer kannten (M = 43,6; 17,3–71,4); Täter mit fremden Opfern (M = 43,3; 16,7–79,4). Hier sind die Unterschiede statistisch
nicht signifikant.
Die Diagnosen wurden in relevante Diagnosegruppen zusammengefasst
(siehe auch Fazel et al. 2007).
Vergleich zwischen Kindesmissbrauchern und Vergewaltigern
Tab. 1 präsentiert die verschiedenen Diagnosen für Kindesmissbrauchstäter
und Vergewaltiger im Vergleich. Die untersuchten Kindesmissbrauchstäter zeigten eine hohe Prävalenz sexueller Präferenzstörungen (bei 78 %
der Probanden wurde eine Paraphilie diagnostiziert, in den meisten Fällen wurde die Diagnose „Pädophilie“ gestellt), zudem wurden in etwa 60 %
der Fälle Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert. In der Gruppe der Vergewaltiger hingegen war die Prävalenz sexueller Präferenzstörungen mit
etwa 24 % vergleichsweise niedrig, die Rate der Persönlichkeitsstörungen
mit 76 % deutlich höher. Diese Unterschiede waren statistisch signifikant.
Analysiert man die Häufigkeit der einzelnen Paraphilie-Diagnosen, so
zeigt sich innerhalb der Gruppen keine herausragende Bedeutung einer
einzelnen Diagnose – von der Pädophilie in der Gruppe der sexuellen Kindesmissbraucher abgesehen. Bei immerhin fast 17 % der Kindesmissbraucher wurde eine exklusive Form der Pädophilie diagnostiziert. Überwiegend zeigte sich eine Orientierung auf Mädchen (63 %), in 21 % der Fälle lag
eine Orientierung auf Jungen vor, in 16 % auf Jungen und Mädchen. Auch bei
3 % der Vergewaltiger wurde eine Pädophilie diagnostiziert.
Die zweithäufigste Paraphilie-Diagnose war die der nicht näher bezeichneten Paraphilie (NNB), die bei Kindesmissbrauchern (9 %) und Vergewaltigern (11 %) ähnlich häufig vorkam. Dahinter lagen die Diagnosen des Voyeurismus, sexuellen Sadismus und des Exhibitionismus. Dabei lag die Diagnose
eines sexuellen Sadismus in der Gruppe der Vergewaltiger signifikant häufiger vor (9,9 % vs. 2,7 %), ein Exhibitionismus war in der Gruppe der sexuellen
Kindesmissbraucher signifikant häufiger zu finden (6,5 % vs. 2,5 %).
Paraphilie-verwandte Störungen (PRD) lagen in beiden Gruppen in etwa
in 40 % der Fälle vor. „Pornografie-Abhängigkeit“ wurde dabei sowohl bei
den Kindesmissbrauchern (33 %) als auch bei den Vergewaltigern (39 %) am
häufigsten diagnostiziert, gefolgt von der Diagnose einer „massiven Promiskuität“ (10 % und 5 %).
Die höhere Prävalenz an Persönlichkeitsstörungen in der Gruppe der
Vergewaltiger erklärt sich vor allem durch das signifikant unterschiedliche
Vorliegen von Cluster-B-Störungen (knapp 40 % in der Gruppe der Kindes-
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Ergebnisse
Z Sexualforsch 2010; 23
Eher R et al.
Tab. 1 Diagnose nach Tätergruppe (in %)1.
Gesamtgruppe
(n = 807)
Kindesmissbrauchstäter
(n = 430)
Vergewaltiger
(n = 377)
ChiQuadrat2
Paraphilien gesamt
50,46
78,48
23,92
257,92***
Pädophilie
– davon Jungen
– davon Mädchen
– davon beides
– davon exklusiv
40,49
72,38
21,23
63,01
15,75
16,67
3,07
385,29***
Masochismus
1,81
1,68
1,97
n. s.
Sadismus
5,98
2,65
9,89
transvest. Fetischismus
1,42
2,16
0,56
Exhibitionismus
4,65
6,46
2,53
Fetischismus
2,97
3,34
2,53
n. s.
Frotteurismus
1,68
1,68
1,69
n. s.
5,07
17,79***
n. s.
6,70**
Voyeurismus
6,10
6,97
Paraphilie NNB
9,92
8,74
11,3
n. s.
n. s.
paraphilie-verwandte Störungen (PRD)
46,03
44,53
47,8
n. s.
Persönlichkeitsstörungen gesamt
67,56
59,81
76,29
Cluster A
– paranoid
– schizotypisch
– schizoid
13,13
9,88
1,41
2,82
11,62
7,99
1,69
2,66
14,79
12,02
1,10
3,01
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
Cluster B
– histrionisch
– narzisstisch
– borderline
– antisozial
51,92
1,03
16,03
30,81
35,04
39,47
0,73
14,53
21,31
24,46
65,94
1,37
17,71
41,53
46,99
54,55***
n. s.
n. s.
37,23***
43,30***
Cluster C
– selbstunsicher
– dependent
–zwanghaft
10,27
4,87
1,92
4,88
14,04
6,52
3,38
6,78
6,01
3,01
0,27
2,73
13,59***
n. s.
9,95**
6,85**
Persönlichkeitsstörung NNB
24,57
26,85
22,14
n. s.
19,53
14,32
n. s.
24,11***
weitere psychische und sexuelle Störungen
sexuelle Funktionsstörungen
17,10
–
Geschlechtsidentitätsstörungen
0,35
0
0,71
affektive Erkrankungen
7,93
9,07
6,63
n. s.
Angsterkrankungen
9,29
11,16
7,16
n. s.
Impulskontrollstörungen
6,82
6,51
7,16
n. s.
psychotische Erkrankungen
1,24
0,70
1,86
n. s.
Alkoholmissbrauch / -sucht
53,53
43,02
65,52
40,86***
Drogenmissbrauch / -sucht
12,02
5,58
19,36
36,08***
Alkoholisierung bei Delikt
32,29
14,14
52,94
137,15***
1
Die Tabelle zeigt die verschiedenen Diagnosen (Lebenszeitprävalenz) im Vergleich zwischen
Kindesmissbrauchern und Vergewaltigern.
2
Chi-Quadrat-Wert für den Vergleich zwischen Vergewaltigern und Kindesmissbrauchstätern
(Signifikanz: *** < 0,0001, ** < 0,001, * < 0,01)
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missbraucher im Vergleich zu 66 % in der Vergewaltigergruppe). Borderline
und antisoziale Persönlichkeitsstörungen waren in der Gruppe der
Vergewaltiger doppelt so häufig zu finden wie in der der Gruppe der Kindesmissbraucher. Ein anderer bedeutsamer Unterschied bestand darin, dass
die Cluster-C-Störungen signifikant häufiger in der Kindesmissbrauchergruppe vorlagen (14 % vs. 6 % in der Vergewaltigergruppe). Dies erklärt sich
vor allem aus den signifikant häufigeren Diagnosen dependenter und
zwanghafter Persönlichkeitsstörungen bei diesen Tätern.
Bei rund einem Fünftel der Kindesmissbrauchstäter lag eine sexuelle
Funktionsstörung vor. Am häufigsten waren hier die Ejaculatio praecox
(etwa 10 %) und die Erektionsstörung (6 %). In der Gruppe der Vergewaltiger
wurden sexuelle Funktionsstörungen etwas seltener diagnostiziert, wobei
auch hier Ejaculatio praecox (8 %) am häufigsten und die Erektionsstörung
(4 %) an zweiter Stelle genannt wurden. Statistisch signifikante Unterschiede fanden sich zwischen den beiden Gruppen nicht.
Geschlechtsidentitätsstörungen spielten in keiner der Gruppen eine relevante Rolle, ebenso wenig psychotische Störungen. Auch affektive und
Angsterkrankungen kamen in beiden Gruppen selten vor, wobei sie bei
den Kindesmissbrauchern tendenziell häufiger zu beobachten waren.
Signifikante Unterschiede fanden sich im Umgang mit Alkohol und Drogen. Drogenmissbrauch und -sucht spielten in der Gruppe der Kindesmissbraucher kaum eine Rolle, während in der Gruppe der Vergewaltiger
immerhin jeder fünfte Proband ein dokumentiertes Substanzproblem aufwies. Die Kriterien des Alkoholmissbrauchs oder der Alkoholsucht erfüllten
in der Gruppe der Vergewaltiger zwei von drei Tätern, in der Gruppe der
Kindesmissbraucher immerhin fast jeder zweite Täter. Eine Alkoholisierung
bei der Tat spielte hingegen vor allem in der Gruppe der Vergewaltiger eine
Rolle (bei mehr als 50 %), und hatte bei den Kindesmissbrauchern deutlich
weniger Bedeutung (nur in 14 % der Fälle).
Vergleich zwischen verschiedenen Kindesmissbrauchstätern
Nach dem Vergleich mit den Vergewaltigern richten wir den Blick im Folgenden ausschließlich auf die Kindesmissbrauchstäter. In Tab. 2 sind sie
nach verschiedenen Opfertypen unterschieden.
Als zentrales Ergebnis dieses Gruppenvergleichs zeigt sich, dass die Häufigkeiten sexueller Störungen und Alkoholmissbrauchs mit der verwandtschaftlichen Nähe zum Opfer in negativem Zusammenhang stehen. Täter
mit fremden Opfern hatten mit Abstand die meisten sexuellen Diagnosen.
Ein Drittel aller Täter mit fremden Opfern hatte zumindest 2 ParaphilieDiagnosen, zwei Drittel hatten darüber hinaus die Diagnose einer paraphilie-verwandten Störung. Und jeweils mehr als 50 % hatten eine DSM-IVDiagnose in Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch bzw. eine Persönlichkeitsstörung aus dem Cluster B.
Die Häufigkeit der Diagnose einer Pädophilie war in allen Gruppen relativ
ähnlich verteilt, wobei allerdings die Häufigkeit der exklusiven Form der
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Psychiatrische Diagnosen von Sexualstraftätern
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
69,35
14,52
9,68
3,23
0
62,60
11,45
6,87
1,53
3,82
56,36
5,45
1,82
0
3,64
55,81
8,3
5,81
2,33
1,16
1,32
5,26
3,75
0
38,16
53,85
16,67
15,38
1,28
2,56
Paraphilie NNB
mehr als eine Paraphilie-Diagnose
mehr als zwei Paraphilie-Diagnosen
paraphilie-verwandte Störungen (PRD)
Persönlichkeitsstörungen gesamt
Cluster A
– paranoid
– schizotypisch
– schizoid
34,48
0
13,79
3,51
7,02
41,94
5,19
13,33
15,27
6,82
2,27
3,03
67,24
9,09
33,33
12,9
14,29
3,28
7,94
n. s.
9,89*
12,05**
15,16***
n. s.
n. s.
n. s.
14,45**
7,23*
25,21***
n. s.
6,15*
n. s.
n. s.
Z Sexualforsch 2010; 23
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44,71
2,22
8,89
2,33
6,82
1,75
0
11,99**
68,74***
Voyeurismus
0
4,49
n. s.
20,58***
1,3
8,08
30,16
1,3
0,76
3,79
Frotteurismus
5,26
0
n. s.
n. s.
Fetischismus
0
1,14
n. s.
n. s.
2,6
4,76
0
3,05
Exhibitionismus
1,75
transvest. Fetischismus
2,3
3,17
1,32
Sadismus
2,27
1,32
Masochismus
0
n. s.
8,06*
17,13***
n. s.
n. s.
n. s.
30,14***
32,61***
n. s.
19,84***
65,08
42,5
32,5
25
33,33
72,59
33,68
46,32
20
25,81
80,7
11,9
73,81
14,29
17,5
73,28
3,23
87,10
8,68
3,17
71,79
11,32
79,25
9,43
3,77
Pädophilie
– davon Jungen
– davon Mädchen
– davon beides
– davon exklusiv
1,14
n. s.
n. s.
80
ChiQuadrat II3
75,57
ChiQuadrat I2
82,46
Täter mit
fremden
Opfern
(n = 66)
77,38
Täter mit
bekannten
Opfern
(n = 135)
76,32
(n = 90)
(n = 80)
Täter aus dem
erweiterten
Familienkreis
(n = 58)
Paraphilien gesamt
Stiefvater
leiblicher
Vater
Tab. 2 Diagnosen bei Kindesmissbrauchstätern nach Opfertypus1.
30
Eher R et al.
1,25
13,75
Drogenmissbrauch / -sucht
Alkoholisierung bei Delikt
11,11
8,89
51,11
1,1
3,3
10
6,67
0
24,44
5,36
1,72
36,21
0
1,72
12,07
8,62
0
22,41
12,78
6,67
34,81
0,75
6,67
14,07
10,37
0
19,26
29,23
7,58
57,58
1,52
9,09
12,12
7,58
0
18,18
26,09
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
–
n. s.
n. s.
13,37**
n. s.
6,64**
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
2
Z Sexualforsch 2010; 23
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Die Tabelle zeigt die Verteilungen der einzelnen Diagnosen (Lebenszeitprävalenz) bei Kindesmissbrauchstätern in Abhängigkeit vom vorwiegenden Opfertypus.
Chi-Quadrat-Wert für den Vergleich zwischen inner- und außerfamiliären Kindesmissbrauchstätern (leiblicher Vater, Stiefvater, Täter aus dem erweiterten Familienkreis
vs. bekannte und fremde Täter) (Signifikanz: *** < 0,0001, ** < 0,001, * < 0,01).
3
Chi-Quadrat-Wert für den Vergleich zwischen nicht fremden und fremden Tätern an (Signifikanz: *** < 0,0001, ** < 0,001, * < 0,01).
1
0
41,25
11,25
Impulskontrollstörungen
Alkoholmissbrauch / -sucht
6,25
Angsterkrankungen
psychotische Erkrankungen
11,25
0
12,5
affektive Erkrankungen
Geschlechtsidentitätsstörungen
sexuelle Funktionsstörungen
26,79
24,0
NNB
29,41
11,63
2,33
1,16
8,14
10,26
1,29
0
8,97
Cluster C
– selbstunsicher
– dependent
–zwanghaft
28,57
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
14,52
3,17
6,35
8,06
14,5
8,4
3,82
6,11
21,82
20
7,27
1,82
37,21
0
6,98
27,91
23,26
41,03
2,56
20,51
23,08
25,64
Cluster B
– histrionisch
– narzisstisch
– borderline
– antisozial
weitere psychische und sexuelle Störungen
8,98*
n. s.
7,42**
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
56,45
1,61
25,81
25,81
35,48
38,17
0
14,50
19,09
22,14
23,46
0
5,45
7,27
16,36
(n = 90)
ChiQuadrat II3
(n = 80)
ChiQuadrat I2
Täter mit
fremden
Opfern
(n = 66)
Täter mit
bekannten
Opfern
(n = 135)
Täter aus dem
erweiterten
Familienkreis
(n = 58)
Stiefvater
leiblicher
Vater
Tab. 2 Fortsetzung.
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Störung erwartungs- und auch definitionsgemäß mit der Entfernung des
Bekanntschaftsgrades zum Opfer zunahm (25,8 % in der Gruppe der Täter
mit bekannten, und 33,3 % in der Gruppe der Täter mit fremden Opfern).3
Auch die Häufigkeit ausschließlich männlicher Opfer war in den beiden
familienfernsten Tätergruppen am größten (33,7 % bei Tätern mit bekannten
Opfern, 42,5 % bei Tätern mit fremden Opfern). In der Gruppe der leiblichen
Väter fanden sich kaum weitere Paraphilie-Diagnosen, während am anderen
Ende des Spektrums bei Tätern mit fremden Opfern in 30 % der Fälle zusätzlich ein Exhibitionismus diagnostiziert wurde, bei 8 % ein Fetischismus, bei
14 % ein Voyeurismus und bei 13 % eine nicht näher bezeichneten Paraphilie
(NNB). Auch die Rate paraphilie-naher Störungen (PRD) lag in der Gruppe
der Täter mit fremden Opfern mit 67 % fast doppelt so hoch wie in der Gruppe der leiblichen Väter. Dabei erklärten sich die Zahlen in allen Gruppen
hauptsächlich durch die Diagnose der „Pornografie-Abhängigkeit“.
Die Gesamthäufigkeiten von Persönlichkeitsstörungen unterschieden
sich nicht signifikant. Lediglich in der Gruppe der Täter mit fremden Opfern
war die Prävalenz von Cluster-B-Störungen mit 56,5 % signifikant höher als
in den Vergleichsgruppen.
Betrachten wir weitere psychische und sexuelle Störungen, so war die Rate
der sexuellen Funktionsstörungen in der Gruppe der leiblichen Väter vergleichsweise niedrig. Die Verteilung der beiden häufigsten diesbezüglichen
Störungen, der Ejaculatio praecox und der Erektionsstörung, blieb innerhalb
der Gruppen gleich (s. o.). Geschlechtsidentitätsstörungen spielten auch in
der Gruppe der Kindesmissbraucher keine Rolle. Affektive und Angsterkrankungen lagen wiederum kaum über 10 %, traten in den Gruppen aber teilweise recht unterschiedlich auf. Alkohol- und Drogenprobleme spielten in
der Gruppe mit fremden Opfern die größte Rolle, aber auch in der Gruppe
der Stiefväter war die Prävalenz deutlich höher als in den anderen Gruppen.
Eine Alkoholisierung beim Delikt war wiederum in der Gruppe mit fremden
Opfern am häufigsten, nahezu jeder dritte Täter war hier alkoholiert.
Diskussion
Ziel der vorliegenden deskriptiv-explorativen Arbeit war es, unsere seit mittlerweile rund acht Jahren erfassten Diagnosen begutachteter Sexualstraftäter
darzustellen und zusammenzufassen. Dabei wurden keine spezifischen
Hypothesen verfolgt, das Interesse lag vielmehr darin, eine für den Strafvollzug weitgehend repräsentative Studie über klinisch-psychiatrische Diagnosen zu erstellen. Das übergeordnete Ziel einer derartigen Forschung ist es,
Anknüpfungspunkte für weitere, spezifischere, im besten Fall wirksamere
Interventionen zur Vermeidung von Rückfällen zu finden (Harkins und Beech
2007). Unsere Studie bestätigt dabei einerseits Daten und Ergebnisse früherer
3
Auch bei einigen leiblichen Vätern (3,8 %) diagnostizierten wir eine exklusive
Pädophilie, weil der Eindruck vorherrschte, dass die Zeugung des Kindes mit einer
erwachsenen Frau gegen die eigentliche sexuelle Präferenz geschah.
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Arbeiten (Dunsieth et al. 2004; Harsch et al. 2006), insbesondere die hohen
Raten an Achse-I- und Achse-II-Störungen. Andererseits lassen sich anhand
unserer Ergebnisse weitere interessante Zusammenhänge beobachten.
Keine neuen Ergebnisse erbrachte dabei zunächst der Vergleich zwischen Vergewaltigern und Kindesmissbrauchstätern. Es entspricht der
alltäglichen klinischen Beobachtung, dass zu den zentralen Problemen bei
Vergewaltigern im Strafvollzug häufiger die (extrovertierte) Persönlichkeitsstörung, der Substanzmissbrauch und vor allem eine nicht deviante
Sexualisierung zählen – wenngleich diese Tätergruppe als außerordentlich
heterogen anzusehen ist. Diese Beobachtung wird durch eine Reihe weiterer Studien gestützt (Fazel et al. 2007; Prentky und Knight 1991; Eher et al.
2003). Auch die Bestätigung anderer Untersuchungen, die bei mehr als
der Hälfte der Kindesmissbrauchstäter eine Pädophilie-Diagnose erkennen
(Seto 2009), vermag nicht zu überraschen.
Neu sind unsere Daten hingegen hinsichtlich der Unterscheidung der
Kindesmissbrauchstäter abhängig vom Opfertypus. Ein wesentliches Ergebnis besteht darin, dass Täter mit fremden Opfern in der Regel auch in psychiatrischer und sexologischer Hinsicht am auffälligsten sind. So finden
sich bei diesem Tätertypus nicht nur besonders häufig eine exklusive Form
der Pädophilie und ein besonders hoher Anteil männlicher Opfer, in rund
einem Drittel der Fälle zeigt sich auch eine komorbide sexuelle Präferenzstörung in Form eines Exhibitionismus, eines (transvestitischen) Fetischismus, eines Voyeurismus oder einer nicht näher bezeichneten Paraphilie.
Bei rund jedem zehnten Täter dieser Gruppe finden sich sogar drei und
mehr Paraphilie-Diagnosen. Bei zwei von drei Kindesmissbrauchstätern
mit fremden Opfern finden sich zudem paraphilie-verwandte sexuelle Störungen (PRD). Neben der höchsten Prävalenz an Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen innerhalb dieser Tätergruppe ist hier schließlich auch ein problematischer Umgang mit Alkohol und / oder Drogen am häufigsten, was sich
in einer häufigeren Alkoholisierung bei Deliktbegehung widerspiegelt.
Kindesmissbraucher mit fremden und männlichen Opfern werden am
häufigsten rückfällig (Greenberg et al. 2000). Valide Screening-Instrumente
(Seto und Lalumiere 2001; Seto et al. 2004) und aktuarische Prognoseinstrumente (Harris et al. 2003) berücksichtigen diesen Umstand. Inhaltlich
ist dieser empirische Befund bislang allerdings kaum erklärt, die kausalen
Zusammenhänge zwischen Opfercharakteristika und Rückfälligkeit sind
weitgehend unbekannt. Die vorliegenden Ergebnisse vermögen der Diskussion aus klinischer Perspektive einige neue Aspekte hinzuzufügen. Für den
Kindesmissbrauchstäter mit fremden Opfern konnten wir eine in der Regel
wesentlich schwerere Form der sexuellen Störung feststellen. Tendenziell
zeichnet sich eine solche bereits bei Tätern mit bekannten Opfern, jedoch
ohne familiären Bezug ab. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass eine pädosexuelle und sexualpathologische Dimension entlang des Verwandtschaftsund Bekanntschaftsgrades zwischen Täter und kindlichem Opfer existiert.
Klinische Diagnosen sind zwar für den individuellen Begutachtungs- und
Behandlungsprozess wesentlich, sie spielen aber in der empirischen Lite-
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ratur über Zusammenhänge zwischen Diagnosen, Gefährlichkeit und Rückfallgefahr gegenwärtig keine nennenswerte Rolle – sieht man von den
bekannten rückfallrelevanten Faktoren der Antisozialität und der sexuellen
Devianz ab (Hanson und Morton-Bourgon 2005). Andererseits zeigen sich
Phänomene, die sich kaum anders als über klinische oder Persönlichkeitsunterschiede beschreiben lassen: So lassen sich unterschiedliche Rückfallraten trotz gleichen Basisrisikos (Punktwert im Static-99) mittlerweile fast
nur durch den (noch nicht ausreichend bewiesenen) Einfluss klinischer
Variablen erklären (Helmus et al. 2009). Nicht zuletzt für ein erfolgreiches
Risikomanagement ist das Wissen um entsprechende Risikovariablen daher
von Bedeutung (Hanson und Harris 2000). Orientiert man sich an den
Ergebnissen der vorliegenden Studie, werden derartige relevante Bereiche
insbesondere bei den Gruppen rückfallgefährdeter Kindesmissbrauchstäter
mit bekannten und fremden Opfern im Bereich der sexuellen Störung und
der in vielen Fällen narzisstischen, impulsiven und antisozialen Persönlichkeit mit Neigung zu Alkohol- und Drogenmissbrauch zu suchen sein.
Bei der Diskussion der vorliegenden Ergebnisse sollte einschränkend
berücksichtigt werden, dass bei der Erhebung der Diagnosen keine Beurteilerübereinstimmung geprüft wurde. Insbesondere bei forensisch relevanten
Diagnosen ist ein solcher Mangel an Beurteilerübereinstimmung schon von
verschiedener Seite kritisiert worden (Packard und Levenson 2006). In
unserem Fall mussten wir auf die Überprüfung dennoch verzichten, da die
Diagnosen – wie bereits oben dargestellt – institutionell gestellt und im
Rahmen abschließender Teamsitzungen festgehalten wurden. Das durch
mehrere Mitarbeiter eingebrachten Know-how garantierte so möglichst
reliable und valide Diagnosen.
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Prof. Dr. med. Reinhard Eher
Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST)
Vollzugsdirektion
Gerichtsgasse 6
1210 Wien
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