2 TAGESTHEMA STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 59 | Samstag/Sonntag, 11./12. März 2017 Heute in der Zeitung Schwere Geburt Politik Ländern fordern Änderungen bei Maut Der Bundesrat dringt auf Ausnahmen von der Pkw­Maut in grenznahen Regionen. SEITE 4 Ideen gegen den Lehrermangel Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) will ältere Leh­ rer im Land bitten, ihren Ruhestand zu verschieben. SEITE 5 Aus aller Welt Marcel H. – ein Narzisst? Nach der Festnahme des 19­jährigen Kindsmörders aus Herne, sind Experten auf der Suche nach dem Motiv. SEITE 10 Wirtschaft Kunden warten auf Handwerker Wegen der Auftragslage bei den Betrieben müssen die Kunden länger auf Handwerker warten. SEITE 16 Entdecken Gegen den Fitnesswahn Gesunde Ernährung und Sport sind heute eine Art Bürger­ pflicht. Das ärgert den Mediziner Manfred Lütz. SEITE 22 Stuttgart & Baden­Württemberg Kampf gegen die Asphaltschneise Die Konrad­Adenauer­Straße soll die Stadt nicht länger teilen. Die Pläne sind aber noch diffus. SEITE 23 Reportage Konkurrenz für Facebook Der Weilheimer Unternehmer Dennis Hack will mit seinem sozialen Netzwerk die Welt verbessern. SEITE 34 Kultur Felix Klare gibt sein Theater­Comeback Er ist mehr als nur der Ermittler im Stuttgarter „Tatort“: Felix Klare steht im Staatstheater auf der Bühne. SEITE 35 Sport Die neuen Kapitäne Führungsfiguren im Profifußball wie der Freiburger Kapitän Julian Schuster sind anders gestrickt als früher. SEITE 43 Kommentare Lokführer Die Jobs im Zug werden durch den Tarifab­ schluss attraktiver, meint Thomas Wüpper. SEITE 13 Kultur Geht Choreograf Marco Goecke? Mehr Feingefühl fordert Andrea Kachelrieß vom künftigen Ballettchef. SEITE 36 Rubriken Impressum ____________ 14 Leserforum ____________ 21 Notfallnummern _____ 26, 27 Was Wann Wo _____ 30, 31 Familienanzeigen ___ 32, 33 Fernsehprogramm ______ 38 Beruf und Karriere _____ V3 Stellenmarkt __________ V4 Immobilien __________ V10 Automarkt ____________ V18 Das digitale Angebot der StZ Immer aktuell und früher informiert Nutzen Sie mit der Webseite und der digitalen Zeitung die gesamte redaktionelle Vielfalt der StZ. Informationen unter www.stuttgarter­zeitung.de/premium L inda Illner und ihr Mann hatten sich genau überlegt, wo ihr ers­ tes Kind zur Welt kommen soll­ te. Sie hatten die Infoabende der Stutt­ garter Kliniken besucht, Kreißsäle be­ sichtigt, sich mit den Kriterien eines „babyfreundlichen Krankenhauses“ beschäftigt. Am Ende standen drei Häuser fest, in denen sie sich eine Ent­ bindung gut vorstellen konnten: Fil­ derklinik, Frauenklinik und Charlot­ tenhaus. Doch zur Welt kam ihre Toch­ ter im Herbst im Krankenhaus Esslin­ gen. Denn als bei Linda Illner Wehen einsetzten, und sie schon vor der Tür der Filderklinik stand, bekam sie die Auskunft, dass die Station voll sei. An­ rufe bei den anderen Wunschkliniken führten zum selben Ergebnis. „Wir hätten uns die Gedanken im Vorfeld sparen können“, sagt die 30­Jährige. Eine Erfahrung, die derzeit viele werdende Eltern machen. Offizielle Zahlen, wie oft Frauen mit Wehen von den Kliniken in der Region Stuttgart abgewiesen werden, gibt es nicht. Aber in Mutter­Kind­Kursen und von Heb­ ammen kann man solche Geschichten vermehrt hören. Wie die einer Frau, für die Rettungssanitäter eine halbe Stunde lang nach einem Krankenhaus suchten. Oder von der Stuttgarterin, die wegen Komplikationen schon in der Frauenklinik lag, aber zur Geburt nicht dort bleiben konnte und auch nach Esslingen verlegt wurde. Extremfälle, die aber für eine Ent­ wicklung stehen, die Krankenhausver­ antwortliche wie etwa Pflegedirekto­ rin Ursula Matzke vom Robert­Bosch­ Krankenhaus (RBK) in Stuttgart be­ stätigen: Steigende Geburtenzahlen führen zu Engpässen in der stationä­ ren Geburtshilfe. Im RBK, zu dem das Charlottenhaus gehört, erhöhten sich die Geburtenzahlen von 2015 auf 2016 um sieben Prozent, also um fast 200 Säuglinge. „Wir haben deshalb das Personal in den Kreißsälen um 1,5 Stellen aufgestockt“, sagt Matzke. Wenn viele Frauen gleichzeitig kämen, müssten sie sich dennoch hin und wie­ der bei der Rettungsleitstelle vorüber­ gehend abmelden und Frauen, die an­ rufen, an andere Kliniken verweisen: „Wir arbeiten dabei aber gut mit den anderen Stuttgarter Häusern und denen im Umland zusammen.“ Kunst und Kultur in den Hinterhöfen Ausstellungen, Musik von Bands und DJs, Pasta­Workshop: Im Westen wird am Samstag ein großes Festival gefeiert. stuttgarter­zeitung.de/kolumnen/stadtkind Vor der Haustür Tipps für Tagesausflüge Burgen, Gärten und alte Städtchen: Haben Sie Lust auf einen Ausflug? Wir haben Tipps für Tagesausflüge. stzlinx.de/ausfluege Ihr Kontakt zur Stuttgarter Zeitung Telefon Zentrale und Redaktion___________0711/72 05­0 Anzeigen_______________________07 11/72 05­21 Leserservice__________________0711/72 05­61 61 Probe­Abonnement____________080 00 14 14 14 Online www.stuttgarter­zeitung.de www.stuttgarter­zeitung.de/digital www.stuttgarter­zeitung.de/anzeigenbuchen Fax Redaktion_________07 11/72 05­12 34 Anzeigen________018 03/08 08 08* Leserservice_______07 11/72 05­61 62 *0 18 03: 0,09 Euro/Min., Preise aus dem dt. Festnetz, Mobilfunkhöchstpreis 0,42 Euro/Min. 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Das bestätigt Jutta Eichenauer, Vorsitzen­ de des Hebammenverbands Baden­ Württemberg. Sie weiß von zahlrei­ chen Fällen aus der letzten Zeit, wo Frauen Probleme hatten, eine Klinik zu finden. „Wenn man nicht schon pressend vor der Tür steht, kann es derzeit leicht passieren, dass man wei­ tergeschickt wird“, so Eichenauer. Steigende Geburtenzahlen – in Ba­ den­Württemberg lagen sie zuletzt mit 1,51 Kindern pro Frau so hoch wie seit 1974 nicht mehr – sind aber nur ein Grund dafür, dass es in den Kreißsälen vermehrt eng wird. Der gravierendere Grund ist der akute Hebammenman­ gel, der ganz Deutschland betrifft. In der Stuttgarter Frauenklinik können aktuell fünf von 30 Vollzeitstellen für Hebammen mangels Bewerbern nicht Oft müssten ihre Kolleginnen drei bis fünf Frauen gleichzeitig während der Geburt betreuen und immer mehr ad­ ministrative Aufgaben erledigen. Das hat Folgen für die Gebärenden: Beim Hebammenverband weiß man von einer zunehmenden Anzahl an Fällen, in denen Frauen die Geburt als „trau­ matisch“ empfinden, weil sie nicht ideal betreut würden. „Der Gesprächs­ bedarf frischgebackener Mütter ist enorm“, sagt Eichenauer. Traumatische Erfahrungen während der Entbindung LANGE WEGE BIS ZUR ENTBINDUNG Mannheim Karlsruhe Stuttgart Ulm Rottweil Freiburg Ravensburg StZ-Grafik: zap Quelle: DKGEV UNTERVERSORGUNG Zahlen 2014 waren laut Sozialministerium in Krankenhäusern im Land knapp 1400 Hebammen beschäftigt. Wie viele freibe­ ruflich tätig sind, ist nicht bekannt. Nur durchschnittlich vier Jahre bleiben Heb­ ammen laut einer Umfrage ihres Verbands im Beruf. In den kommenden fünf bis zehn Jahren wird jede zehnte aktiv arbeitende Hebamme in Ruhestand gehen. In Deutschland darf ein Arzt nur im Notfall allein eine Geburt durchführen. Geburtenzahlen so hoch wie seit 1974 nicht mehr stuttgarter­zeitung.de Festival in Stuttgart­West Tagesthema Bei einer Geburt muss in Deutschland eine Hebamme dabei sein. Fotos: Mauritius Folgen Auf der Verbandsseite unsere­ hebammen.de gibt es eine „Karte der Unterversorgung“. Dort können sich Be­ troffene melden. Für Baden­Württemberg listet die Karte derzeit allein 1590 Fälle auf, in denen Frauen vergeblich eine Heb­ amme suchten. In 100 Fällen fand sich außerdem keine Hebamme für eine Ge­ burt zu Hause oder im Geburtshaus. wel besetzt werden. Deshalb können laut der Kliniksprecherin Ulrike Fischer seit September im Durchschnitt nur 240 statt der üblichen 270 Geburten pro Monat stattfinden. Das Kranken­ haus Mühlacker musste seinen Kreiß­ saal im Herbst 2016 mangels Hebam­ men für zwei Monate ganz dichtma­ chen. Die Kommunalpolitik versucht gegenzusteuern: „Indem wir zum Bei­ spiel selbst ausbilden und den Hebam­ men im Klinikum eine Arbeitsmarkt­ zulage zahlen“, sagt Michael Föll, zu­ ständiger Bürgermeister in Stuttgart. „Der hohe Arbeitsdruck ist ein Hauptgrund, dass Hebammen nur durchschnittlich vier Jahre in ihrem Beruf arbeiten“, sagt Jutta Eichenauer. Die Verbandsvorsitzende kennt kaum einen Kreißsaal, in dem derzeit alle Stellen besetzt sind. Dabei nimmt die Zahl der Fachabteilungen Frauenheil­ kunde und Geburtshilfe im Land oh­ nehin ab, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen: Gab es 1991 noch 160 solcher Stationen in baden­würt­ tembergischen Krankenhäusern, sank diese Zahl bis 2015 auf 91 – und damit um 43 Prozent. Auch die Anzahl der Betten halbierte sich nahezu von 7330 auf 3759. Damit liegt das Land über dem Bundesdurchschnitt: Deutsch­ landweit ging die Zahl der Fachabtei­ lungen um 35 Prozent zurück von knapp 1275 auf 834. Ähnliche Werte weisen große Bundesländer wie Bay­ ern oder Niedersachsen aus. Die Deutsche Krankenhausgesell­ schaft (DKGEV) erklärt die Entwick­ lung mit einer zunehmenden Zentrali­ sierung der Gesundheitsversorgung. Aber auch damit, dass viele Kranken­ häuser Verluste machten und sich des­ halb aus der personalintensiven und teuren Geburtshilfe verabschiedeten. In Baden­Württemberg weiß die DKGEV von mindestens elf Geburts­ hilfestationen, die in den vergangenen fünf Jahren geschlossen oder an grö­ ßere Standorte verlagert wurden. Das trifft vor allem Schwangere in ländlichen Gegenden: 13,39 Minuten beträgt laut DKGEV die durchschnitt­ liche Fahrzeit im Land zur nächsten Geburtshilfestation, in manchen Ge­ genden, etwa im Rems­Murr­Kreis oder im Schwarzwald, liegt sie aller­ dings bei mehr als 20 oder 30 Minuten. Hebammenmangel, Kreißsaal­ schließungen, steigende Geburten­ zahlen – das ist die Gemengelage, die die Freiheit der Frauen, Ort und Art der Entbindung selbstbestimmt wäh­ len zu können, zunehmend ein­ schränkt. Denn immer mehr Hebam­ men verabschieden sich auch aus der freiberuflichen Tätigkeit, was Entbin­ dungen zu Hause oder in einem Ge­ burtshaus immer schwieriger macht. Das baden­württembergische So­ zialministerium hat nun einen Run­ den Tisch Geburtshilfe ins Leben ge­ rufen. Bei der Auftaktveranstaltung kamen unter anderem Vertreter von Krankenkassen und ­häusern, Ärzte und Hebammen zusammen. Im Mit­ telpunkt soll unter anderem die Frage stehen, wie die Arbeitsbedingungen der Hebammen verbessert werden können, und damit die Frage, wie viel Wahlfreiheit und gute Versorgung der Frauen der Politik und den Verbänden wert sind. Linda Illner und ihr Mann jeden­ falls mussten dafür bezahlen, dass in ihren Wunschkliniken kein Platz frei war. Auf der eiligen Fahrt nach Esslin­ gen wurden sie auch noch geblitzt. „Die Nachsorge ist schwieriger geworden“ F rau Staatssekretärin, müssen Frauen Angst ha­ ben, keinen Platz zum Gebären mehr zu finden? Nein. 98 Prozent aller Geburten finden in Kli­ niken statt. Das ist weiterhin gesichert, auch wenn es bisweilen regionale Engpässe gibt. Das große Thema ist die Betreuung der Mütter und Kinder durch eine Hebamme in den ersten Wochen nach der Geburt. Die Nachsorge ist mancherorts schwierig geworden, weil es nicht überall genug Hebammen gibt. Aber auch Krankenhäuser haben Probleme, genug Personal zu finden und können weniger Gebärende aufnehmen. Hebammen klagen darüber, dass sie zu viele Entbindungen gleichzeitig betreuen müssen. Die Arbeitsbedingungen der Hebammen sind ein Thema des Runden Tisches Geburtshilfe, der im Ja­ nuar erstmals getagt hat. Ich bin froh, dass wir alle Berufsgruppen am Tisch haben, auch die Kranken­ hausgesellschaft und den Landkreistag als kommu­ nalen Träger. Wir wollen mit allen Beteiligten Lö­ sungen suchen, wie wir Geburtshilfe organisieren können, dass Mutter und Kind gut versorgt sind und Hebammen länger im Beruf bleiben. Die Krankenhäuser müssen die teure Geburtshilfe vorhalten, werden aber nur nach tatsächlichen Geburten bezahlt. Sind da nicht die Kran­ kenkassen in der Pflicht? Natürlich, deshalb sitzen auch Vertreter aller relevanten Kassen mit am Tisch. Die Staatssekretärin im Sozialministerium, Bärbl Mielich, hofft, dass Hebammen Lust bekommen, länger im Beruf zu bleiben. Interview Diese sind sich bewusst, dass sie im Hinblick auf Qualitätssicherung und gute Betreuung der versi­ cherten Babys und Frauen viel Verantwortung tra­ gen. Das betrifft auch die Vor­ und Nachsorge. Viele freiberufliche Hebammen geben auf, weil die Be­ träge zu den Haftpflichtversicherungen so hoch sind. Die Prämien haben ein Ausmaß erreicht, das nicht nur für die freiberuflichen Hebammen, sondern auch für die Krankenhäuser teilweise kaum noch zu schultern ist. Das Thema ist virulent, bislang gibt es aber keine zufriedenstellenden Regelungen. Wir GRÜNEN­POLITIKERIN Fachfrau Die gebürtige Wuppertalerin Bärbl Mielich sitzt seit 2006 für die Grü­ nen im Landtag, seit 2016 ist sie Staats­ sekretärin im Sozialministerium. Die 64­ jährige Mutter dreier Kinder hat 2014 eine Kampagne zur Stärkung der natürlichen Geburt mit initiiert. wel müssen diese Problematik weiter verfolgen, aller­ dings auf Bundesebene. Die Forderung der Hebammen ist, dass sich Schwan­ gere frei entscheiden können, wo sie entbinden, und mit einem Eins­zu­eins­Schlüssel von einer Hebamme betreut werden. Ein realistisches Ziel? Vonseiten des Ministeriums ist uns wichtig, dass wir das Wahl­ und Wunschrecht der Frauen beim Thema Geburt respektieren und die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass es möglich ist. Um dies zu errei­ chen, werden wir alle Konzepte diskutieren. Es gibt die Vorstellungen der Hebammen und die Konzepte der Krankenkassen. Wir müssen sehen, wie wir bei­ de Seiten in Einklang miteinander bringen können. Welche Ergebnisse erwarten Sie vom Runden Tisch? Wir hatten erst eine Sitzung, ich will nicht vorgrei­ fen. Es werden jetzt Daten zur Geburtshilfe, zur Vor­ und Nachsorge sowie zur Situation bei Frauen­ und Kinderärzten erhoben und ausgewertet. Ich erhoffe mir Signale, wie gemeinsam eine bestmögliche Ver­ sorgung gelingt. Hebammen sollen Lust bekommen, länger im Beruf zu bleiben. Die Arbeitsbedingungen werden sich entspannen, wenn mehr Hebammen in Kliniken und freiberuflich arbeiten. Ich bin zuver­ sichtlich, dass wir in den kommenden zwei Jahre zu Ergebnissen kommen. Das Gespräch führte Lisa Welzhofer.