ArzneimForsch DrugRes Besondere Themen Special Themes Status und Ausblick unter besonderer Berücksichtigung des Standortes Deutschland Prof. Dr. Dr. med. h. c. Norbert Brock, Bielefeld, und Dr. Jörg Pohl, Halle Herrn Professor Dr. phil. nat. Berthold Schneider zur Emeritierung in Freundschaft gewidmet Zusammenfassung Weltweit betrachtet, ist die Entwicklung onkologischer Arzneimittel komplex und riskant; sie liegt fast ausschließlich in den Händen der forschenden pharmazeutischen Industrie. Akademische oder staatliche Forschungsinstitute waren allerdings nicht selten an der Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen für diese Entwicklungen beteiligt, deren Ergebnisse dann später an die Industrie weitergegeben oder mit ihr zusammen entwickelt wurden. Nicht zuletzt aufgrund zunehmender behördlicher Auflagen ist es seit etwa 1960 generell zu einer beträchtlichen Verlängerung der Entwicklungszeiten gekommen. Dies führte zu einem dramatischen Anstieg der Entwicklungskosten, die nur noch von finanzstarken Unternehmen zu leisten sind. In Deutschland wurde gleich nach Kriegsende von Bayer die Substanzgruppe der Ethylenimine intensiv bearbeitet; es wurden Substanzen wie E39 und Trenimon entdeckt und für die Therapie bereitgestellt. Zu Beginn der 50iger Jahre ging der Forschungsschwerpunkt auf die Asta-Werke in Bielefeld (später ASTA Medica, Frankfurt) über. Hier wurden mit Cyclophosphamid (Endoxan, Cytoxan), Ifosfamid (Holoxan, Ifex) und Trofosfamid (Ixoten) die weltweit führenden alkylierenden Zytostatika entwickelt. Die Entdeckung von Mesna (Uromitexan, Mesnex) für eine organspezifische Entgiftung urotoxischer Metaboliten führte zu einer weiteren Steigerung der kanzerotoxischen Selektivität und zu einer verbesserten Sicherheit der Therapie. Neben einer Weiterentwicklung der alkylierenden Zytostatika (Mafosfamid, Glufosfamid) befinden sich neuartige Wirkstoffe wie Miltefosin (Miltex) und Cetrorelix in Bearbeitung. Summary Development of Oncological Therapeutic Agents / Current state and outlook with special regard to the situation in Germany The development of oncological therapeutic agents is a complex and risky process and it is mainly pursued by research-based pharmaceutical companies. Academic and public research institutions, however, have contributed to the finding and evaluation of basic scientific knowledge, which were transferred to the industry for co-development. Since 1960 increasing regulatory demands have caused a prolonged development time and dramatical multiplication of costs. Oncological research in Germany began shortly after the end of war, when Bayer worked on the ethyleneimino compounds with agents like E39 and trenimon for therapeutical use. Early in the fifties this focus of research changed to Asta-Werke, Bielefeld (later ASTA Medica, 946 Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Arzneimittelentwicklung in der Onkologie Frankfurt) where cyclophosphamide (Endoxan, Cytoxan), ifosfamide (Holoxan, Ifex) and trofosfamide were developed as worldwide leading alkylating cytotoxic agents. The detection of mesna (Uromitexan, Mesnex) used for the organospecific detoxification of urotoxic metabolites caused a further increase of the cancerotoxic selectivity and an improved safety of oxazaphosphorine therapy. There has been ongoing research on alkylating agents (mafosfamide, glufosfamide), and new therapeutic principles like miltefosine (Miltex) or hormonal agents like cetrorelix (LHRH-antagonist) are in development. Key words Cancer chemotherapy · Oncological therapeutic agents, development, situation in Germany 1. Die Chemotherapie maligner Erkrankungen Nach frühen experimentellen Untersuchungen im ersten Drittel des 20sten Jahrhunderts kann man den Beginn der Entwicklung einer Krebschemotherapie recht genau mit dem erstmaligen therapeutischen Einsatz von Nitrogenmustard (Stickstofflost) durch Gilman auf das Jahr 1944 datieren [1]. Im Verlauf einer 50jährigen Entwicklung hat sich seither die Chemotherapie neben den klassischen Methoden − Operation und Bestrahlung − einen festen Platz in der Behandlung von Krebserkrankungen erobert. Unter Einschluß immunologischer Prinzipien können heute etwas mehr als 50 % aller Krebspatienten über einen Zeitraum von mehr als 5 Jahren geheilt werden. Man darf jedoch die Tatsache nicht übersehen, daß die Therapie selbst immer noch eine große Belastung für den Patienten darstellt. Wir stehen gegenwärtig an einem kritischen Punkt der Gesamtentwicklung. Blickt man auf die vergangenen 5 Jahrzehnte zurück, so lieferten die Jahre von 1950 bis 1960 die Grundlagen für die Entwicklung der Krebschemotherapie [2]. In diesen Zeitraum fällt die Entdeckung der Antimetabolite Methotrexat, 6-Mercaptopurin, 5-Fluoruracil, Cytarabin und Hydroxyharnstoff, die Entwicklung der alkylierenden bzw. der elektrophilen Zytostatika wie Busulfan, Melphalan, Cyclophosphamid, Trofosfamid, Ifosfamid, Cisplatin und seiner Derivate, ferner der Gruppe der Nitrosoharnstoffe, der Mitosehemmer Vincristin und Vinblastin sowie Etoposid und Teniposid, der antitumorwirksamen Antibiotika Daunorubicin, Doxorubicin und Bleomycin, der Hormonrezeptor-Agonisten und -Antagonisten Fosfestrol und Tamoxifen. Die 70er Jahre sind charakterisiert durch die Entwicklung von Analoga sowie durch die Sicherung und Ausweitung der pharmakotherapeutischen Grundlagen und Methoden. Von großer praktischer Bedeutung wurde die Entdeckung von allgemein bzw. regional detoxifizierenden Präparaten. Durch Kombination von Leucovorin und Methotrexat bzw. von Mesna mit den OxazaphosphorinZytostatika Cyclophosphamid, Trofosfamid und Ifosfamid können störende Nebenwirkungen ausgeschaltet und die Therapie weit sicherer gestaltet werden. Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie Die 80er Jahre stellen eine Übergangsphase dar; man war bei der Entdeckung neuer Wirkstoffe an natürliche Grenzen gestoßen. So war es in den 90er Jahren das Ziel, neue Strategien für eine rationale Antitumortherapie zu entwickeln und aufgrund genauerer Kenntnisse der Krebszelle zur Entwicklung spezifischer Wirkstoffe zu gelangen. Dank der Fortschritte in der Grundlagenforschung, speziell in der Immunologie, der Molekularbiologie und Gentechnologie, erscheint dieses Ziel erreichbar, was nicht nur für die Diagnostik und Prävention, sondern auch für die Tumortherapie selbst von entscheidender Bedeutung sein könnte. 2. Entwicklung einer wirksamen Krebschemotherapie In den Anfangsjahren der experimentellen und klinischen Krebschemotherapie lag der Schwerpunkt der Arbeiten fast ausschließlich in den großen, zumeist staatlich gestützten Krebsforschungszentren; nur wenige Firmen der pharmazeutischen Industrie entfalteten eigene onkologische Forschungsaktivitäten. In den USA begann das NCI (National Cancer Institute, Bethesda, Maryland) mit einem Breitenscreening, in dem unselektiert eine Fülle chemischer Substanzen auf Antitumorwirksamkeit untersucht wurden. Man war sich aber schon damals der Nachteile und Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens bewußt. Die Erfolgschancen wurden von kompetenter Seite als fraglich angesehen. In Deutschland wurde gleich nach Kriegsende von Bayer die Substanzgruppe der Ethylenimine breitestens bearbeitet, und es wurden Substanzen wie E39 und Trenimon entdeckt und von Domagk für die Therapie bereitgestellt. Zu Beginn der 50iger Jahre ging in Deutschland der Forschungsschwerpunkt auf die Asta-Werke in Bielefeld über. 3. Beitrag der Asta-Forschung Für die Asta-Werke in Bielefeld („ASTA“) − eine kleine Firma mit einem Jahresumsatz von damals nur 5 Millionen DM − mußte es als echtes Wagnis angesehen werden, als im Jahre 1952 die Asta-Forscher Herbert Arnold (Chemie), Norbert Brock 947 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), 946−953 (2000) Von vornherein war es den Verantwortlichen klar, daß Asta angesichts der finanziellen Begrenzung nicht in der Lage sein würde, ein extensiv aufgebautes Screening-Programm durchzuführen. Stattdessen kam es darauf an, das empirische Vorgehen zu überwinden und der eigenen Forschung ein theoretisch fundiertes Konzept zugrundezulegen, das sich auf die Ergebnisse der Grundlagenforschung, z. B. der biophysikalischen, biochemischen und pharmakologischen, stützt. George H. Hitchings bezeichnet dieses Konzept als „enlightened empiricism“, also eine Mischung von Empirie und Theorie [3]. Die Lösung dieser Aufgaben erforderte eine Arbeitsgruppe, die in der Lage war, die Problematik dieses Gebietes einigermaßen zu überblicken. Um die volle fachliche Kompetenz zu erreichen, wurden die Asta-eigenen Forschungsgruppen in den Folgejahren durch eine Zusammenarbeit mit namhaften Forschern aus dem universitären Bereich ausgeweitet und verstärkt. Hier seien die Namen der pharmakologischen Onkologen H. Druckrey, Freiburg und D. Schmähl, Freiburg/Heidelberg, des Biochemikers H. J. Hohorst, Marburg/Frankfurt und des Mikrobiologen und Immunologen J. Potel, Bielefeld/Hannover sowie des Biometrikers B. Schneider, Gießen/Hannover besonders herausgehoben. In dieser bewußt geschaffenen Konstellation kann diese Forschungsgruppe als ein gutes Beispiel für eine vertrauensvolle, sinnvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit von Industrie- und Hochschulforschung angesehen werden. Bis heute haben die meisten Antitumorsubstanzen den Nachteil einer mangelnden Selektivität der kanzerotoxischen Wirkung: Nicht nur die Tumorzellen, sondern auch die normalen Proliferationszentren des Wirtsorganismus − wie Blut, Knochenmark, Darmepithelien und Keimdrüsen − werden geschädigt. Auf dieser mangelnden Selektivität beruht ihre geringe therapeutische Breite und damit die Begrenzung der Therapie durch toxische Nebenwirkungen. Damit war von vornherein klar, daß die eigenen Arbeiten auf dem Gebiet der Krebschemotherapie eine zunehmende Selektivität der Tumorwirkung und damit eine größere therapeutische Breite anstreben mußten. Diese Erkenntnis stand als Leitmotiv über der Arbeit des AstaForschungskreises, die hier in Kürze skizziert werden soll. Im Anfang war die Idee: Nach einem Vorschlag von Druckrey [4] sollte ein hoch reaktives Pharmakon nicht in der aktiven Form, sondern in einer chemisch modifizierten, unwirksamen „Transportform“ appliziert werden. Die Verbindung muß hierbei so geartet sein, daß sie im Körper − wenn möglich bevorzugt in der Tumorzelle − in die „Wirkform“ überführt wird. 948 Das erste Präparat, das gemeinsam mit Druckrey gezielt nach dem Prinzip Transportform/Wirkform entwickelt wurde, ist Fosfestrol, das 1952 als Honvan zur Therapie des metastasierenden Prostatakarzinoms eingeführt wurde und therapeutisch über Jahrzehnte einen wichtigen Platz einnahm. Drei Ideen waren an der weiteren Entwicklung maßgeblich beteiligt [5]: 1. Die Übertragung des Prinzips Transportform/ Wirkform auf hochreaktive und hochtoxische Stickstofflost-Verbindungen: Sie führte zur Entwicklung der Oxazaphosphorin-Zytostatika Cyclophosphamid, Ifosfamid und Trofosfamid. 2. Die Entwicklung der Begriffe „zytotoxische Spezifität“ und „kanzerotoxische Selektivität“ am Beispiel der Oxazaphosphorine. Sie machen den Wirkmechanismus dieser Verbindungsklasse verständlich und begründen ihre Sonderstellung in der Gruppe der alkylierenden Substanzen. 3. Die Entwicklung einer regionalen Detoxifizierung mit Mesna durch organspezifische Entgiftung von urotoxischen Oxazaphosphorin-Metaboliten in der Niere und den ableitenden Harnwegen. Damit wurde eine weitere erhebliche Steigerung der kanzerotoxischen Selektivitität erreicht. Es war ein besonderer Glücksfall, daß Cyclophosphamid (Endoxan, Cytoxan) bei der Synthese und pharmakologischen Charakterisierung von mehr als tausend Verbindungen aus der Gruppe der Oxazaphosphorine relativ am Anfang stand [6−9]. Das gab Ruhe und Sicherheit bei der Bearbeitung dieser großen Verbindungsklasse. Auf Cyclophosphamid folgten 1972 Trofosfamid (Ixoten) [10] und 1977 Ifosfamid (Holoxan) [11− 13]. Ohne wesentliche Unterschiede in der chemischen Struktur zeigt Ifosfamid eine eindeutige Veränderung der Pharmakodynamik und der Pharmakokinetik. Im Vergleich zu Cyclophosphamid ist bei Ifosfamid erwünschtermaßen die Kumulation der kurativen Wirkung außerordentlich stark, die Kumulation der toxischen dagegen vermindert, so daß sich für Ifosfamid klinisch die fraktionierte Anwendung von Kurzzeitinfusionen (60−90 min) oder von Dauerinfusionen (1 bis 5 Tage) bewährt hat [14]. Trofosfamid besitzt nur geringe immunsuppressive Eigenschaften und ist damit − oral verabfolgt − in der palliativen Therapie zur Erhöhung der Lebensqualität behandelter Tumorpatienten besonders geeignet [15, 16]. Trotz der therapeutischen Fortschritte, die mit der Einführung der Oxazaphosphorin-Zytostatika möglich wurden, war die therapeutische Breite noch nicht voll befriedigend. Toxische Nebenwirkungen, speziell an Niere und Harnblase, begrenzten den Einsatz und den Erfolg. Nach jahrzehntelangen Studien konnte mit der Entwicklung von Mesna (Uromitexan, Mesnex) die Gefahr der Blasentoxizität gebannt werden [17−20]. So sollte der therapeutische Einsatz von Oxazaphosphorinen grundsätzlich mit einer Mesna-Uroprotektion Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. (Pharmakologie) und Hilmar Wilmanns (Klinische Forschung) gemeinsam mit dem Gründer und verantwortlichen Kaufmann Ewald Kipper den Entschluß faßten, die Entwicklung einer wirksamen Krebschemotherapie zu einem Schwerpunkt der Asta-Forschung zu machen. Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie tisch charakterisiert. Phase I- und II-Studien wurden und werden an Patienten mit benignen und malignen Tumoren (z. B. Uterus-Myom, benigner Prostatahyperplasie, Prostata- und Ovarial-Karzinom) durchgeführt [31]. Diese angeführten Beispiele zeigen, daß auch in der heutigen Zeit Kooperationen zwischen Industrie und Universitäten sowie Großforschungseinrichtungen erfolgreich betrieben werden können. 4. Faktoren, welche die gezielte und weltweite Entwicklung der Oxazaphosphorin-Zytostatika prägten 4.1. Interne Voraussetzungen Seit ASTA 1952 die Onkologie zum Forschungsschwerpunkt gewählt hatte, war eine hohe Planungs- und Entschlußbereitschaft gewährleistet. Sie gewährte einerseits jedem Forscher und jeder Forschungsrichtung ein höchstmögliches Maß an Freiheit und individueller Verantwortung und schloß andererseits auch das unternehmerische Risiko mit ein. Um die pharmakotherapeutischen Aufgaben bewältigen zu können, mußten im Laufe der ersten Jahre eine Reihe organisatorischer und wissenschaftlicher Voraussetzungen geschaffen werden. a) Vordringlich war neben der Auswahl der akademischen Abteilungsleiter die Schaffung eines Korps technischer Mitarbeiter. Da ein geeigneter Lehrberuf (im Gegensatz zur Chemie) damals noch nicht vorlag, wurde gemeinsam mit anderen interessierten Kollegen aus Industrie und Hochschule das Berufsbild des Biologielaboranten entwickelt. Dieses wurde bundeseinheitlich anerkannt und hat sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem anspruchsvollen und vielseitigen Beruf entwickelt. b) Wesentlich war die Einführung und Ausarbeitung biometrischer Methoden zur Beurteilung neuer Arzneisubstanzen. Hier lag Anfang der 50er Jahre vieles im Argen. Ohne die Entwicklung quantitativer Methoden zur Auswahl und zum Vergleich sowie zur pharmakotherapeutischen Charakterisierung neuer Verbindungen wäre der mit der Einführung der Oxazaphosphorine erreichte Fortschritt nicht zu realisieren gewesen. Diese Voraussetzungen wurden gemeinsam mit Geks und Schneider in umfangreichen methodischen Arbeiten geschaffen [32− 35]. Dabei hat sich die Dosis-Wirkungs-Analyse mit der Bestimmung des therapeutischen Index und des Gefahrenkoeffizienten zur Ermittlung organotoxischer Wirkungen voll bewährt [36]. Die Bedeutung dieser Arbeiten wurde von T. A. Connors auf dem Internationalen Chemotherapiekongreß 1975 in London wie folgt bewertet: „Die biometrischen Methoden von Brock und Schneider zur pharmakotherapeutischen Charakterisierung von Cyclophosphamid sind von allgemeiner Gültigkeit und auch dann noch von Wert, wenn Cyclophosphamid einmal durch bessere Therapeutika ersetzt worden ist“ [36]. 949 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. kombiniert werden, um das Risiko einer Blasenentzündung sowie der Induktion von Blasentumoren zuverlässig einzudämmen [21]. Die Frage der relativen Selektivität der Oxazaphosphorin-Zytostatika wurde in den vergangenen Jahrzehnten am Beispiel von Cyclophosphamid gemeinsam mit Hohorst − aber auch in zahlreichen Arbeitskreisen der Welt − intensiv bearbeitet und weitgehend aufgeklärt [22, 23]. Dabei konnte gezeigt werden, daß die für die Abtötung der Tumorzellen entscheidende Freisetzung des alkylierenden Metaboliten enzymatisch in der Krebszelle abläuft und daß dieses Alkylans die DNA-Polymerase und die DNA selbst alkyliert, was zum Absterben der Zelle führt [24]. Nach Sladek sind auch die Aldehyddehydrogenasen an der höheren Selektivität von Cyclophosphamid mitverantwortlich, da sie das Gleichgewicht der verschiedenen Metaboliten intrazellulär in Normalgeweben in günstigem Sinne beeinflussen [25]. Das Ende der Oxazaphosphorin-Forschung ist aber auch heute noch nicht in Sicht: Mit der Substanz Mafosfamid gelang es, die primären Metaboliten der Oxazaphosphorin-Zytostatika, die mikrosomal in der Leber entstehen, zu stabilisieren [26]. Hierdurch wurden neue Möglichkeiten im präklinischen und klinisch-therapeutischen Bereich eröffnet. Mafosfamid benötigt keine enzymatische Aktivierung in der Leber und ist so direkt, z. B. im klonogenen Stammzelltest, einsetzbar. Das Präparat hat mit der Mutterverbindung Cyclophosphamid die zytotoxische Selektivität in vitro und die kanzerotoxische Selektivität in vivo gemein und unterscheidet sich damit ganz wesentlich von den direkt alkylierenden Stickstofflost-Verbindungen und -Metaboliten. Mafosfamid ist wirksam bei der regionalen Perfusion von Tumoren und beispielsweise bei der intrathekalen Therapie der malignen Meningiose [27]. Es bietet außerdem die Möglichkeit einer In-vitro-Reinigung bei autologer Knochenmarktransplantation [28]. Hier spielt Cyclophosphamid in vivo von jeher eine entscheidende Rolle bei der Vernichtung bösartiger Zellen im Knochenmark („Konditionierung“). Die Tumorforschung ist auch in den 80er und 90er Jahren ein Schwerpunktthema der Asta Medica AG geblieben. Hier einige Beispiele: Mit Forschern des Max-Planck-Institutes für Biophysikalische Chemie und der Universitätsklinik Göttingen wurde der neuartige Wirkstoff Miltefosin (Miltex) zur topischen Behandlung von kutanen Mammakarzinom-Metastasen [29] entwickelt. In Kooperation mit Forschern des DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrums Heidelberg) wurde ein neues Drug-Targeting-Konzept − die selektive Anreicherung einer zytotoxischen Substanz in der Tumorzelle über spezifische Na+-abhängige Glukose-Transporter − gefunden [30]. Der neue Wirkstoff Glufosfamid wird derzeit in der EORTC (European Organization for Research and Treatment of Cancer) in Phase II-Studien klinisch geprüft. In 10jähriger Kooperation mit A.V. Schally, Tulane University, New Orleans, wurde der LHRH (Luteinising Hormone Releasing Hormone)-Antagonist Cetrorelix synthetisiert und pharmakotherapeu- 4.2. Experimentelle und klinische Prüfung von Oxazaphosphorinen 4.2.1. Entwicklung im Inland Kurze Zeit nach der Entdeckung von Cyclophosphamid (Juli 1957) war klar, daß Cyclophosphamid als Prototyp der kanzerotoxisch wirksamen Oxazaphosphorine einen neuen Wirkstoff-Typ darstellt, der sich in seinem chemischen, pharmakologischen und biochemischen Verhalten von den bisher bekannten Stickstofflost-Verbindungen unterscheidet. Cyclophosphamid ist unter In-vitro-Bedingungen weitgehend unwirksam („Transportform“), dagegen in vivo im Chemotherapieversuch an verschiedenen Ratten- und Mäusetumoren bei stark herabgesetzter Toxizität hochaktiv („Wirkform“). Das Präparat war an einem breiten Tumorspektrum chemotherapeutisch wirksam. In wenigen Monaten konnte eine sichere, experimentelle Grundlage für die klinische Prüfung geschaffen werden. Von Anfang an fand das Präparat auch in der klinischen Onkologie große Beachtung. Die ersten grundlegenden klinischen Prüfungen wurden in Deutschland unter Moderation von Hilmar Wilmanns durch H. E. Bock, H. Gerhartz, R. Groß, E. Petrides, E. Scherer und C. G. Schmidt − später auch durch H.-G. Hillemanns, H. O. Klein, K. Lambers, G. W. Löhr und W. Scheef − durchgeführt [38]. Sie bestätigten schnell die gute Verträglichkeit und die günstige therapeutische Wirksamkeit des neuen Präparates bei einem breiten Tumorspektrum. In gemeinsamer Anstrengung von Forschung, Produktion und Galenik konnten die erforderlichen Unterlagen für die Anmeldung von Cyclophosphamid beim Bundesgesundheitsamt bereits Ende 1957 erstellt werden. Die Registrierung erfolgte wenige Wochen später, ein Zeichen, daß die Bürokratie der zuständigen Behörden bei weitem noch nicht so ausgeufert war wie in späteren Jahrzehnten. So konnte das neue Präparat unter dem Namen Endoxan bereits auf dem Internistenkongreß in Wiesbaden (April 1958) eingeführt werden. Es 950 ist bemerkenswert, daß alle frühen Befunde, sowohl die experimentellen als auch die klinischen, in den späteren, weltweit ausgedehnten Untersuchungen reproduziert werden konnten. 4.2.2. Entwicklungen im Ausland Es war ein glücklicher Umstand, daß unmittelbar nach Einführung von Cyclophosphamid in Deutschland im April 1958 die ersten experimentellen und klinischen Erfahrungen bereits im Juli desselben Jahres auf dem 10. Internationalen Krebskongreß im Juli 1958 in London, durch Arnold, Bourseaux, Brock und Groß [6, 7, 39] vorgestellt werden konnten. Entscheidend für das Bekanntwerden von Cyclophosphamid mit seinem neuartigen Wirkmechanismus und Wirkungsspektrum sowie seiner überlegenen Verträglichkeit war aber die Einladung, das Präparat auf dem Spezialsymposium über Krebschemotherapie, das im Anschluß an den Kongreß selbst in Cambridge stattfand, vor der Garde der führenden Krebsforscher der damaligen Zeit vorzustellen. Das neue Präparat fand allgemeines Interesse und so in kurzer Zeit weltweit Eingang in experimentelle und klinische Studien. Auf experimentellem Gebiet war die vertrauensvolle, anregende Zusammenarbeit mit A. Goldin vom NCI von überragender Bedeutung [40]. Wertvolle Beiträge leisteten u. a. G. W. Santos, F. M. Schabel jun., H. E. Skipper, C. C. Stock, R. Storb, J. M. Venditti (USA), ferner T. A. Connors (London), L. F. Larionow (Moskau), M. Ishidate und Y. Sakurai (Tokio). Eine umfassende Dokumentation aller bis 1975 vorliegender Erkenntnisse über Cyclophosphamid ist D. L. Hill [23] zu verdanken. Allgemein wurden die überlegenen, chemotherapeutischen Eigenschaften von Cyclophosphamid bestätigt. Sugiura kam 1961 zu der Beurteilung: „Among 1000 selected compounds and antibiotics tested against all or portions of the tumor spectrum (33 tumors) cyclophosphamide was the most effective“ [41]. Die klinischen Ergebnisse aus Deutschland wurden ebenfalls bald weltweit reproduziert und erweitert. Auch hier seien nur einige Namen hervorgehoben: D. F. Bergsagel, G. Bonadonna, S. K. Carter, P. P. Carbone, G. Falkson, D. Fernbach, E. Frei III, E. J. Freireich, G. Mathé, R. Nissen-Meyer, H. F. Oettgen, O. S. Selawry. Von großer Tragweite war die Übertragung der zunächst experimentell (Druckrey, Karrer, Brock etc.) begründeten Tumor-Rezidivprophylaxe (postoperativer Einsatz von Cyclophosphamid) durch K. Karrer (Wien) sowie durch O. Paulsen (Kopenhagen) auf die Klinik (siehe [38]). Auch der Nutzen einer präoperativen Chemotherapie konnte mit Cyclophosphamid im Tierexperiment begründet werden [42]. Die Klinik hat aus diesen Ergebnissen später die „neoadjuvante“ (horribile dictu) Therapiemodalität entwickelt. Großes Aufsehen erregten 1966 Berichte von D. Burkitt (siehe [23]), der das nach ihm benannte maligne Lymphom noch im weit fortgeschrittenen Stadium durch eine einzige hohe Dosis von Cyclophosphamid heilen konnte. Auch heute noch, 40 Jahre nach seiner Einführung, ist Cyclophosphamid eines der meist verwendeten Zytostatika und Bestandteil vieler PolychemotheArzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. c) Bei der Schaffung von Standardbedingungen für die Durchführung der erforderlichen pharmakologischen und toxikologischen Experimente galt die besondere Sorge dem Aufbau und der rationellen Gestaltung des Tierversuchs und der Tierernährung. Letztere variierte damals von Laboratorium zu Laboratorium und war Grund für nachgewiesene große Streuungen der Versuchsergebnisse. In mehrjähriger spezieller Forschungsarbeit wurden gemeinsam mit W. Wilk und der Firma Altrogge, Lage, die Altromin Standarddiäten für Zucht und Haltung der gebräuchlichen Versuchstiere entwikkelt [37]. Die Einführung dieser Standarddiäten hat die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse entscheidend verbessert und so den Vergleich der Resultate aus verschiedenen Laboratorien um vieles sicherer gestaltet. 4.2.3. Staatliche Forschungsförderung Eine ganz wesentliche Förderung erhielt die ASTA-Forschung durch kooperative Forschungsprogramme der Bundesregierung (BMFT), die unter dem Titel „Zytostatika“ bzw. „Arzneimittelentwickung und -testung für die Krebstherapie“ einen breiten Fächer von chemischen und biochemischen, pharmakologischen und toxikologischen Laboratorien von Hochschule und Industrie sowie Kliniken unterschiedlicher Fachdisziplinen vereinten [47]. Hier sei auch auf die Verknüpfung unserer deutschen Forschungsgruppe mit dem NCI (USA) sowie die Kontakte zur EORTC hingewiesen. Sie garantierten den notwendigen internationalen Informationsaustausch. 4.3. Vertrieb der ASTA-Zytostatika Angesichts der hier geschilderten Entwicklung wird das weltweite Interesse am Vertrieb der verschiedenen Antitumorpräparate der ASTA verständlich. ASTA hatte in den 50er, 60er und 70er Jahren − im Gegensatz zu den 80er und 90er Jahren − kaum eigene Vertriebsgesellschaften im Ausland und war in diesen Jahrzehnten auf die Zusammenarbeit mit ausländischen pharmazeutischen Firmen auf Lizenzbasis angewiesen. So wurden weltweit für alle ASTA-Zytostatika und für Mesna Lizenzverträge abgeschlossen. In den USA war die Lizenz zunächst an die Firma Mead Johnson, Evansville, vergeben, die in den folgenden Jahrzehnten von der Firma Bristol-Myers übernommen wurde. Bristol-Myers-Squibb hat seither die USA-Lizenz für die ASTA-Präparate Cyclophosphamid (Cytoxan), Ifosfamid (Ifex) und Mesna (Mesnex). Arzneim.-Forsch./Drug Res. 50 (II), Nr. 10 (2000) Brock et al. − Arzneimittelentwicklung in der Onkologie 5. Schlußfolgerungen Es dürfte unstrittig sein, daß in Deutschland mit den Asta-Werken die Entwicklung der Krebschemotherapie über mehr als 50 Jahre schöpferisch forschend mitbestimmt wurde. Darüber hinaus hat die Asta-Forschung grundlegende wissenschaftliche Beiträge zur Chemie, Pharmakologie, Toxikologie, Biometrie, Biochemie und Immunologie von Zytostatika sowie zur Entwicklung einer supportiven Therapie erbracht. Bedauerlicherweise haben Strohmeyer und Weißbach kürzlich in zwei identischen Veröffentlichungen [49] diesen aus Deutschland stammenden Beiträgen zur Arzneimittelentwicklung in der Onkologie keine Rechnung getragen. Die Frage, wie es um die Erfolgschancen der neuen Strategien für eine rationale Antitumortherapie steht, muß offen bleiben. Einerseits hat die Forschung in Immunologie, Molekularbiologie und Gentechnologie eine Fülle fortschrittlicher Resultate erbracht; andererseits besteht ein erstaunliches Defizit bei der Umsetzung der „Primärergebnisse“ der Grundlagendisziplinen im Sinne einer rationalen Weiterentwicklung zum eigentlichen Therapeutikum. Die in der Grundlagenforschung tätigen Arbeitsgruppen stehen allerdings nicht selten vor dem Problem, Unterstützung für die Entwicklung innovativer Wirkprinzipien zu finden. Nicht nur in der deutschen Pharma-Industrie mangelt es, von relativ wenigen Ausnahmen abgesehen, an Ansprechpartnern, die die Bereitschaft aufweisen, die Primärergebnisse derartiger Arbeitsgruppen durch den langen, kostenintensiven Weg der Entwicklung bis zu einem marktfähigen Produkt zu bringen. In Deutschland werden diese Schwierigkeiten dadurch verstärkt, daß es an zentralen Einrichtungen wie dem NCI in den USA oder der britischen CRC (Cancer Research Campaign) mangelt, die in diesen Ländern den Transfer von neuen Wirkstoffen aus der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung beschleunigen. Diese Lücke kann in Zukunft möglicherweise von der Arbeitsgemeinschaft für Internistische Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft mit ihrer Arbeitsgruppe Wirkstoffentwicklung in der Onkologie (AWO) geschlossen werden [48]. Auf der anderen Seite sollten jedoch auch von Seiten der Grundlagenforschung − trotz der erwähnten Schwierigkeiten − frühzeitig engere Kontakte mit Gruppen aufgenommen werden, die in der Lage sind, eine pharmakotherapeutische Analyse und präklinische Untersuchungen mit den neuen Wirkprinzipien durchzuführen, um die Voraussetzung für die klinische Prüfung zu schaffen. Nur so können die großen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte für die Entwicklung und Bewertung neuer Wirkstoffe sinnvoll genutzt werden. Hierin gehört auch die Mahnung, die Ergebnisse der verschiedenen Fachgebiete immer wieder aufeinander abzustimmen und zu sichern und sie dann primär in der Fachliteratur und nicht als Sensationsmeldungen in den Tagesmedien bekanntzugeben. Damit kann die Gefahr eines autistischen Denkens, das die Krebsforschung in der Vergangenheit immer wieder belastet hat, vermieden werden. 951 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. rapiekonzepte. Nach den Empfehlungen der internationalen Expertenkonferenz der WHO 1974 wurde Cyclophosphamid als Referenzsubstanz für die vergleichende experimentelle Testung von Antitumorsubstanzen empfohlen. Eine kaum noch zu übersehende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen kann als Beleg für das breite Interesse an diesem Präparat angesehen werden. Neben Cyclophosphamid hat auch Ifosfamid in seiner klinischen Anwendung unter dem Schutz von Mesna weltweite Bedeutung gewonnen [43− 45]. Es hat − neben einer Überschneidung in den therapeutischen Anwendungsgebieten mit Cyclophosphamid − ein ganz eigenes klinisches Indikationsspektrum; so ist Ifosfamid wirksam bei verschiedenen Formen von bösartigen Sarkomen, darunter auch dem Ewing-Sarkom, beim Karzinom der Cervix uteri u. a. Insbesondere bei Weichteilsarkomen gilt Ifosfamid heute − neben Doxorubicin − als etablierter Bestandteil der Primär- und Sekundärtherapie. Eine einzigartige Indikation, die wir L. H. Einhorn verdanken, sei hier besonders herausgestellt. Es handelt sich um den Einbau von Ifosfamid in das bewährte „Einhorn-Standardschema“ zur Behandlung von Keimdrüsentumoren. Ersetzt man Bleomycin durch Ifosfamid, so ist es möglich, auch fortgeschrittene, vorbehandelte, chemoresistente Keimdrüsentumoren noch in einem hohen Prozentsatz zur Remission zu bringen [46]. 1] Gilman, A., Philips, F. S., Science 103, 409 (1946) [2] Boyd, M. R., in: The future of new drug development, J. Niederhuber (ed.), pp. 11−22. 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