Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei psychisch

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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei psychisch kranken
Menschen mit geistiger Behinderung1
Tabuthema: Psychische Störungen
Psychische Störungen wurden bisher bei Menschen mit geistiger Behinderung kaum beachtet.
Sie wurden entweder als Ausdruck der zugrunde liegenden organischen Hirnschädigung oder
als Anpassungsschwierigkeiten interpretiert. Auf eine genauere diagnostische Differenzierung
konnte man daher verzichten. Lähmend wirkte dabei auch das problematische Verhältnis
zwischen Pädagogik und Psychiatrie. Die Psychiatrie fühlte sich nach einem mühsamen
Klärungsprozeß für Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr zuständig und war
bestrebt, sich von dem Verdacht der Psychiatrisierung dieser Personengruppe zu befreien.
Psychische Störungen bei geistig Behinderten wurde so zu einem Tabu-Thema, dem man
gerne aus dem Wege ging. Aus pädagogischer Sicht war es für lange Zeit das wichtigste, die
Deinstitutionalisierung voranzutreiben; psychische Störungen wurden negiert oder bestenfalls
als Verhaltensauffälligkeiten wahrgenommen. In der Normalisierung der Lebensbedingungen
sah man wirksame und zugleich ausreichende Methoden zur Behandlung dieser
Auffälligkeiten.
Es ist verständlich, daß unter diesen Bedingungen psychotherapeutische Sichtweisen zum
Verständnis dieser Auffälligkeiten als unnötig oder wenig nützlich angesehen wurden. Wenn
überhaupt eine therapeutische Methode Chancen hatte akzeptiert zu werden, dann war es die
Verhaltenstherapie, die dem pädagogischen Denken sehr entgegenkam und eine
Unabhängigkeit von der Psychiatrie versprach. Sie fand schnell Eingang in die
Behinderteneinrichtungen und bestimmt noch heute weitgehend die Inhalte der Ausbildung
und auch die Praxis. Diese Methode hat den Vorteil, daß ihre meist am Alltagsverständnis
orientierten Regeln von den unmittelbaren Betreuern schnell aufgegriffen werden können. Sie
vermitteln das Gefühl, kompetent zu sein, was angesichts der vielen unlösbaren Probleme im
Umgang mit psychisch kranken geistig behinderten Menschen von unschätzbaren Wert für
das Selbstwertgefühl und damit für die Motivation ist. Es kommt hinzu, daß die
verhaltenstherapeutische Vorgehensweise eine emotionale Distanz schafft, die den Betreuern
dabei hilft, die Konfrontation mit den oft sehr belastenden Gegenübertragungsgefühlen zu
überstehen.
"Tiefenpsychologisches Defizit" (Datler)
Psychoanalytisch orientierte Therapieformen hatten es dagegen schwerer, obwohl sie eine
lange Tradition haben ( bei Konarski u. Cavalier, 1982; Ruth, 1990; Hollins, 1990; Sinason,
1992). Auf einigen Gebieten haben sie unstrittige Erfolge erzielt, so zum Beispiel im
diagnostischen und therapeutischen Umgang mit Mißbrauchproblemen (Sinason) oder mit
Trauerreaktionen (Hollins). Sie blieben jedoch meist Pionierleistung vereinzelter
Therapeuten. Man kann mit Recht von einem "tiefenpsychologischen Defizit" im Umgang mit
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Erschienen in: Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse, Heft 18. Herausgegeben am wisenschaftlichem Zentrum II,
Gesamthochschule Kassel. Leicht verändert.
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geistig behinderten Menschen sprechen (Datler, 1984). Das hat viele Gründe.
Psychoanalytisch orientierte Sichtweisen sind erst in langwierigen Ausbildungsprozessen zu
vermitteln. Ihre Anwendung führt nicht zu schnellen Erfolgen und erlaubt weder dem
Therapeuten noch den unmittelbaren Betreuern eine sichere emotionale Distanz. Es kommt
hinzu, daß die psychoanalytischen Ausbildungsinstitute und Therapiezentren kein Interesse an
diesem Gebiet haben. Insofern blieben viele Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen der
psychoanalytischen Theorie bis heute unbearbeitet und unbeantwortet. Psychoanalytisch
arbeitende Therapeuten haben deswegen nicht nur mit den üblichen Vorurteilen gegen
psychodynamische Vorgehensweisen zu rechnen, sondern auch mit der Skepsis bei den
psychoanalytisch gebildeten Kollegen. In anderen Ländern ist diese Situation ähnlich (Lewis
& MacLean, 1982; Ruth, 1990; Sinason, 1990). Eine Ausnahme bildet das traditionsreiche
Tavistock-Institut, das Forschung und Praxis auf diesem Gebiet unterstützt (Symington, 1981;
Sinason 1990).
Erst in den letzten Jahren haben ganz allgemein psychotherapeutische Methoden neben der
Verhaltenstherapie ein unerwartet hohes Interesse gefunden. Mehrere Tagungen wurden zu
diesem Thema durchgeführt (Dosen et al, 1990; Gaedt, 1987 und 1990; Hennicke u. Rotthaus,
1993; Koch u.a., 1993). Innerhalb dieses breiten Spektrums von psychotherapeutischen
Methoden haben psychoanalytisch orientierte Ansätze einen festen Platz gefunden. Erste
Schritte zu einem europäischen Zusammenschluß aller auf dem Gebiet der geistigen
Behinderung psychoanalytisch arbeitender Therapeuten, wie sie von Sinason und Hollins in
England unternommen wurden, zeigen, daß das Interesse an dieser Methode eine feste Basis
hat. In der Bundesrepublik sind weitere Entwicklungsimpulse durch Berufsgruppen
übergreifende Initiativen, wie z.B. der vorwiegend von Pädagogen getragenen Arbeitsgruppe
"Geistigbehindertenpädagogik und Psychoanalyse" und dem "Verein für Psychoanalytische
Sozialarbeit" zu erwarten. Dieser letztgenannte Verein beschäftigt sich zwar vorwiegend mit
chronisch psychotischen Jugendlichen ohne geistige Behinderung, die zu bewältigenden
Probleme und die angewandten Methoden (vgl. Becker, 1981; Feuling u. Mit., 1991) zeigen
jedoch die Nähe zum Behindertenbereich, so daß hier ein fruchtbarer Austausch möglich
wird.
Im Folgenden soll ein therapeutisches Konzept beschrieben werden, das zur Behandlung von
schweren psychischen Störungen bei jugendlichen und erwachsenen Menschen mit geistiger
Behinderung entwickelt wurde und sich an den Prinzipien der "psychoanalytischinteraktionellen Psychotherapie" orientiert (vgl. Heigl-Evers, Heigl u. Ott, 1993, S.202 ff).
Eine ausführliche Darstellung findet sich in den Berichten über das 2. und 4. Neuerkeröder
Forum (Gaedt, 1987 u.1990). Um die Arbeit mit diesem Konzept besser verdeutlichen zu
können, soll zunächst der institutionelle Hintergrund dieser Einrichtung kurz skizziert
werden.
Neuerkerode als "Dorf"
Neuerkerode begreift sich selbst als eine Gemeinde, als ein Dorf. Es bietet ein weites
Spektrum verschiedener Wohn- und Lebensmöglichkeiten für ungefähr 800 Menschen mit
geistiger Behinderung, wobei sich die Wohnangebote auf die benachbarten Dörfer und auch
für die in der Nähe gelegenen Städte (Braunschweig, Wolfenbüttel) erstrecken. Neuerkerode
ist eine pädagogische Einrichtung, die jedoch schon immer einen unabhängigen, aber
integrierten medizinischen Dienst hatte.
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In den letzten 20 Jahren ist der Prozentsatz von Heimbewohnern mit schweren psychischen
Problemen auf ungefähr 35 Prozent angewachsen. Entsprechend hat sich der therapeutische
Dienst differenziert. Über eine "Psychiatrische Ambulanz", in der neun Psychologen in
Kooperation mit vier Allgemeinärzten und einem Psychiater arbeiten, wird die ambulante
Betreuung von psychisch kranken Heimbewohnern sichergestellt. Die Psychiatrische
Ambulanz wird unterstützt durch zwei Arbeitstherapeuten, drei Beschäftigungstherapeuten
und eine Sprachtherapeutin. Daneben gibt es eine therapeutisch orientierte Wohngruppe mit
neun Plätzen. Im Aufbau befindet sich eine Tag- und Nachtklinik mit zukünftig sechs Plätzen
(z.Z. drei Plätze). Therapeuten und Ärzte haben im Heimbereich kein "Weisungsrecht", so
daß die Priorität der pädagogischen Entscheidung nicht berührt wird. Die Psychiatrische
Ambulanz wird auf Anforderung des Heimbereiches tätig und bietet vor allem neben
Einzeltherapie und Gruppentherapie insbesondere Beratung der Wohngruppen an. Außerdem
werden über sie sozialpsychiatrische Aktivitäten organisiert. Über die Psychiatrische
Ambulanz werden auch Psychopharmaka verordnet und kontrolliert.
Grundannahmen des therapeutischen Konzeptes
Bevor das therapeutische Vorgehen näher beschrieben und an einem Beispiel illustriert wird,
sollen zunächst einige Grundannahmen dieses Konzeptes dargestellt werden. Die
Unterschiede zum traditionellen psychoanalytischen Ansatz werden so leichter verständlich.
Freud's konfliktorientierte Konzeption hat sich bei der Erklärung der Psychopathologie von
Menschen mit geistiger Behinderung als unzureichend erwiesen. Das bedeutet nicht, daß
neurotische Phänomene keine Rolle spielen würden. Dem geschulten Blick fallen eine Fülle
von neurotischen Symptomen
zum Beispiel im Zusammenhang mit sexueller oder aggressiver Gehemmtheiten auf. Diese
Störungen sind so häufig, daß sie fast zum normalen Erscheinungsbild eines geistig
behinderten Menschen gehören. Sie werden jedoch von anderen Störungen mit in den
Hintergrund gedrängt, so daß für sie meist keine diagnostische oder therapeutische
Aufmerksamkeit bleibt.
Für diese nicht-neurotischen, schweren psychopathologischen Bilder wurden durch die IchPsychologie, die Objektbeziehungstheorie und die psychoanalytisch orientierte
Entwicklungspsychologie neue Wege zum Verständnis geöffnet (Blanck & Blanck, 1974 und
1979; Jacobson 1964; Spitz, 1965; Mahler, Pine & Bergman, 1975). Die psychischen
Strukturen und Funktionen, die zur Grundlage einer normalen psychischen Entwicklung
werden und später den erwachsenen Menschen befähigen, als autonomes Individuum in
sozialen Bindungen zu existieren, entstehen nach diesen inzwischen allgemein anerkannten
Vorstellungen in Interaktionsprozessen mit den frühen bedeutsamen Objekten. Vererbte und
konstitutionelle Defizite und andere organische Faktoren entfalten in gleicher Weise wie auch
ungünstige psychosoziale Einflüsse ihre krankmachende Wirkung über Hemmung oder
Verzerrung dieses Entwicklungsprozesses. Hoffmann und Hochapfel (1987) sprechen von
einem "erhaltenen Entwicklungsschaden" (S.65). Im deutschen Sprachraum hat sich als
übergeordneter Begriff für diese psychopathologischen Bilder der Ausdruck "Frühstörungen"
durchgesetzt.
Selbst unter günstigen Bedingungen hat ein geistig behindertes Kind kaum die Chance, sich
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normal zu entwickeln. Das ist nicht nur auf organische Schädigungen zurückzuführen, die
sicherlich oft zu einer erheblichen Störung der Kind-Umwelt Interaktion führen. Auf Grund
dieser Handikaps wird es ein geistig behinderter Säugling immer schwer haben, die Initiative
in dem Entwicklungsprozeß zu übernehmen und sich über die Interaktion mit seinen
Bezugspersonen eine entwicklungsfreundliche Umwelt zu organisieren. Bedeutsam sind in
diesem Zusammenhang auch die psychischen Belastungen der Eltern sowie ein
kulturspezifisches Sozialisationsmuster mit einer "defektorientierten Pflege- und
Förderkultur", auf das Levitas und Gilson (1988) aufmerksam gemacht haben.
Die schweren psychiatrischen Störungen, die wir bei Menschen mit geistiger Behinderung
häufig sehen, entwickeln sich, wenn die frühen Interaktionen zusätzlich durch
Unzuverlässigkeit, durch Vernachlässigung, durch Mißbrauch oder durch Isolation
gekennzeichnet sind. In den meisten Fällen fällt es schwer, diese sehr vielfältigen Störungen
in die üblichen Klassifikationssystem einzuordnen. Im Hinblick auf die notwendigen
therapeutischen Strategien erscheint es deshalb wichtiger, die Psychopathologie als
persistierender Entwicklungsschaden zu beschreiben. Dieser Entwicklungsschaden wird
deutlich in einer Ichschwäche (mangelhaft ausgebildete Ichfuktionen, ineffektive
Abwehrmechanismen), in einer Dominanz von primitiven Objektbeziehungen, in einem
archaischen Überich und in einem inadäquaten Selbstkonzept. Die Kombination dieser
psychopathologischen Merkmale prägen die klinischen Bilder bei geistig Behinderten
(Robinson & Robinson, 1976; Balthazar & Stevens, 1975; Sternlicht, 1976; Levitas und
Gilson, 1988; Ruth, 1990).
Charakteristisch für an Frühstörungen leidende Personen ist, daß sie in starkem Maße den
Einflüssen der sozialen Umgebung ausgesetzt sind und sich mehr in ihrem sozialen Bezügen
erleben als in ihren psychischen Strukturen. Dadurch wird auch das pathologische Erleben
geprägt. So beherrschen zum Beispiel Übertragungsphänomene das Erleben dieser Personen
in einem viel stärkerem Maße als man es bei neurotisch gestörten Patienten kennt. Um den
Unterschied zu neurotischen Übertragungsphänomenen deutlich zu machen sprechen Blank
und Blank (1979) von "Objektwiederholungen". Sowohl der Betroffene selbst wie auch seine
soziale Umgebung haben kaum eine Chance, sich dem "Drehbuch" der Interaktionsmuster zu
entziehen, durch die frühe affektive Erfahrungen wiederbelebt werden. Viele der oft
dramatischen Konflikte im Alltag dieser Patienten beruhen auf diesen "Reinszenierungen".
Nahe verwandt mit diesen Objektwiederholungen sind die pathologischen Selbstentwürfe
("pathologische Identität"). Im normalen Verlauf der Entwicklung haben die archaischen
kombinierten Affekt- und Verhaltensmuster, die die Grundlage der "Objektwiederholungen"
sind einen flüchtigen Charakter. Sie sind jedoch die Grundlage für das, was wir Identität
nennen. Identität bezeichnet ein überdauerndes Schema der Selbst-Erkennung und SelbstRealisierung (Berman, 1979; Erikson, 1956). Die Entwicklung und Differenzierung dieser
Schemata ist ein lebenslanger Prozeß. Eine erwachsene Person verfügt über ein Ensemble gut
differenzierter, anpassungsfähiger Schemata und gebraucht sie, um für sich eine stabile und
befriedigende, individuell gestaltete Umwelt aufzubauen. Die verschiedenen
Grundbedürfnisse verwirklichen sich über diese Schemata in einer sehr individuelle Art. Auf
diese Weise sind diese Schematas in das motivationale System eingebettet. Über den
individuellen Interaktionsstil wird "Identität" erlebbar. Dieser auf diese Weise wiederbelebte
emotionale Zustand selbst bekommt eine motivationale Qualität. Das Individuum fühlt sich
gedrängt, diese (Identitäts-)Erfahrungen zu wiederholen, und sie wird geeignete Situationen
aufsuchen oder selbst inszenieren, um seine Identität erlebbar zu machen. Sie wird unbewußt
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ihre Interaktionspartner dazu "verführen", über eine bestimmte Interaktionsform die
gewünschte spezifische emotionale Atmosphäre zu gestalten. Auch diese Prozesse werden
üblicherweise als "Reinszenierung" bezeichnet.
Normalerweise sind sogar schon bei einem Kind die verschiedenen Interaktionsschemata so
komplex und vielfältig und variationsfähig, daß man sie im einzelnen kaum mehr erkennt. Bei
einem geistig behinderten Menschen dagegen sind die emotionalen Zustände, die er erleben
kann, oft noch wenig differenziert. Entsprechend undifferenziert ist seine Identität. Die
verschiedenen Interaktionsschemata passen nicht richtig zusammen und sind kaum
variationsfähig. Es gibt also keine fließenden Übergänge. Entsprechend unharmonisch
erscheinen die Interaktionen. Im Falle von psychisch kranken geistig behinderten Personen
kommt noch ein weiteres Merkmal hinzu. Die Selbstschemata haben oft eine archaische
emotionale Qualität. Als Folge davon sind die Reinszenierungen dramatisch und oft
gewalttätig. Man kann in diesen Fällen von einer pathologischen Identitätsbildung sprechen.
Mit dem Konstrukt der "pathologischen Identität" kann man häufig zu beobachtende
destruktive Interaktionen in Familien oder Gruppen mit psychisch kranken geistig behinderten
Personen erklären. Oft sieht man hier stereotype Interaktionssequenzen, die immer und immer
wieder genau zu dem Verhalten führen, das die Eltern oder die Betreuer mit großer
Anstrengung zu vermeiden suchen. Sie selbst werden letztlich oft dazu gebracht, ihre
pädagogischen Prinzipien aufzugeben und rigide, abwertend oder sogar manifest aggressiv zu
werden. Die betreffende auslösende Person jedoch ignoriert all diese negativen
Konsequenzen. Wie bei einer Sucht braucht sie diesen ganz spezifischen emotionalen
Zustand, der Teil ihres Identitätserlebens geworden ist.
"Objektwiederholung" und "pathologische Identität" sind wichtige psychopathologische
Begriffe zur Erklärung von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit geistiger
Behinderung, weil sie die Grenzen von lerntheoretischen Ansätzen aufzeigen. Es ist
offensichtlich, daß bei Personen mit diesen Störungen verhaltenstherapeutische Strategien
wenig bewirken können. Ein psychisch gestörter Patient kann nicht durch ein Schema
ausgeklügelter Konsequenzen erreicht werden, wenn seine Symptome als Wiederholung
früher affektiver Erfahrungsmuster oder als Ausdruck eines pathologischen Selbstkonzeptes
zu sehen sind. Gerade aber diese Fälle stellen die wirklichen therapeutischen Probleme dar.
Veränderungen sind hier nur innerhalb einer therapeutischen Beziehung möglich. Welche
Faktoren dabei bedeutsam sind, ist noch weitgehend unklar. Es ist jedoch berechtigt, einen
Vergleich mit der frühen Kindheitsentwicklung zu ziehen. Eine entwicklungsfördernde
therapeutische Beziehung bei diesen frühgestörten Patienten ist in vielerlei Hinsicht mit der
Beziehung einer "hinlänglich guten Mutter" (Winnicott, 1969) zu ihren Kinde vergleichbar.
Emde (1988) spricht von der "emotionalen Verfügbarkeit" als dem wichtigsten Faktor sowohl
für die normale Kindheitsentwicklung als auch für einen erfolgreichen Verlauf einer
Psychotherapie. Unter dem Schutz einer solchen Beziehung ergibt sich die Möglichkeit für
einen Neubeginn. Konsequenterweise beruhen die meisten psychotherapeutischen Methoden,
die in der Behandlung von psychisch kranken geistig Behinderten angewandt werden, auf das
Prinzip der entwicklungsfördernden Beziehung (Dosen, 1984 u. 1990).
Indikation für Psychotherapie
Auch bei Menschen mit geistiger Behinderung gibt es keine psychiatrischen Störungen ohne
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psychodynamische Aspekte. Deshalb sollten psychotherapeutische Überlegungen integrierter
Bestandteil jeglicher therapeutischer Strategie sein. Das allerdings ist eine kaum einlösbare
Forderung. Die von vielen Kritikern geäußerte Befürchtung, Psychotherapie könne mit ihrer
Sichtweise die Normalität des Alltages zerstören, ist insofern unberechtigt, weil die
psychotherapeutische Kapazität immer sehr begrenzt bleiben wird. Unter den Bedingungen
der unzureichenden Kapazität werden nur Patienten mit schwersten Störungen eine Aussicht
auf therapeutische Hilfen haben und deren Alltag ist bereits weitgehend unnormal geworden.
Üblicherweise handelt es sich um Störungen, die mit schwerer Aggression oder
Autoaggression einhergehen.
Es ist bemerkenswert, daß in Neuerkerode nur selten Heimbewohner mit einem IQ unter 50
psychotherapeutisch behandelt wurden. Das ist lediglich ein Hinweis darauf, wie unfähig wir
noch sind, einen psychodynamischen Zugang für die jeweiligen Probleme bei einem geringen
Entwicklungsstand zu finden. Der Intelligenzquotient darf, wie Dosen betont, kein Kriterium
für die Anwendbarkeit der Psychotherapie sein. Unabhängig von dem Entwicklungsstand
sollte Psychotherapie eine Antwort auf die spezifischen Entwicklungsbedürfnisse eines
Patienten finden.
Auch wenn die Einordnung des psychopathologischen Bildes in ein psychiatrisches
Klassifikationssystem ziemlich irrelevant ist, so ist doch der diagnostische Prozeß als solcher
von großer Bedeutung. Es ist wichtig, daß die unmittelbaren Betreuer so früh als möglich
einbezogen werden. Über die diagnostischen Besprechungen wird es möglich, eine
gemeinsame Sichtweise zu finden und Verständnis für den Lebens- und Leidensweg zu
entwickeln. Diese Gespräche schaffen oder festigen eine interessierte, wohlwollende und
respektvolle Haltung gegenüber den Patienten, was die wichtigste Voraussetzung für einen
erfolgreichen Verlauf ist.
Der diagnostische Prozeß selbst sollte eine Zusammenschau der verschiedenen
pathogenetischen Faktoren ermöglichen, die zu dem abweichenden Verhalten zugrunde
liegen. Am Ende des diagnostischen Prozesses muß deutlich werden, auf welche Weise und
mit welchen Schwerpunkten der Patient sein Leben organisiert und auf welche gesunde und
pathologische Ressourcen er sich dabei stützt.
Der therapeutische Prozeß
Das therapeutische Vorgehen orientiert sich an den Prinzipien der Therapie für Patienten mit
präoedipalen Störungen, wie sie von Heigl-Evers et al. (1983, 1985,1993) beschrieben
wurden. Die sogenannte psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie erlaubt die
Anwendung der psychoanalytischen Methode bei Patienten mit schweren Ichstörungen. Sie
basiert vor allen auf dem theoretischen Werk von Kernberg (1981), der diese Methode bei
Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen angewandt hat. Eine Darstellung des
therapeutischen Konzeptes in Neuerkerode findet sich bei Gärtner-Peterhoff et al (1987) und
bei Sand et al. (1990). Die Unterschiede zwischen diesem therapeutischen Vorgehen und der
Therapie von Neurosen kann an folgenden einzelnen Aspekten deutlich gemacht werden:
therapeutische Zielsetzung, Dauer, therapeutischer Raum, therapeutische Mittel,
therapeutisches Bündnis, das Setting, Übertragungsbeziehung und Intervention.
Ergänzend zu den theoretischen Ausführungen sollen einige Aspekte des therapeutischen
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Prozesses an einem typischen Beispiel illustriert werden. Die Fallgeschichte wurde
vereinfacht und verfremdet.
Brigitte (1)
Vorgeschichte und Symptomatik
Brigitte war neun Jahre alt als sie nach Neuerkerode kam. Bis dahin lebte sie bei ihren
Stiefeltern. Ihre wirklichen Eltern sind unbekannt. Sie verbrachte die ersten drei Jahre ihres
Lebens in verschiedenen Krankenhäusern. Der Grund für ihre Aufnahme in Neuerkerode
waren wiederholte schwere Aggressionsausbrüche zu Hause und in der Schule. Nach einer
Woche in einer psychiatrischen Kinderklinik blieb die Diagnose
unklar und die
neuroleptische Behandlung schlug nicht an.
Brigitte hatte als Kleinkind eine Gedeihstörung und ihre Vorgeschichte war reich an
Hinweisen auf
"Verhaltensstörungen" (wie z.B. Schreianfälle, selbstverstümmelndes
Verhalten, Perioden von Freßsucht und störendes Verhalten). Die Behinderung wurde als
"mäßig" klassifiziert. Eine verbale Kommunikation war möglich, aber sie war nicht fähig, zu
lesen oder zu schreiben.
In den ersten sechs Monaten nach ihrer Aufnahme zeigte Brigitte ein depressives Verhalten.
Sie "klammerte", hatte Eßprobleme, konnte nicht schlafen und vermied den Kontakt zu
anderen. In Zusammenhang mit wiederholten Trennungen von Betreuern zeigte sie eine
wachsende Tendenz von Destruktivität. Nach einem Jahr in Neuerkerode betrachteten die
Betreuer Brigitte als den "kleinen Teufel". Zu diesem Zeitpunkt wurde der psychiatrische
Dienst informiert. Die Atmosphäre in der Wohngruppe von Brigitte war geprägt durch die
Angst vor ihren Ausbrüchen. Manchmal gab es einen erkennbaren Grund für ihr Verhalten,
öfters jedoch schuf sie die Ursache für ihr Verhalten selbst, indem sie die Betreuer oder
andere Heimbewohner provozierte. Der "kleine Teufel" zu sein, war ein wesentlicher Teil
ihrer Identität.
1. Ziele und Dauer der Therapie
In der Therapie können bedeutsame und stabile Veränderungen erzielt werden,
Symptomfreiheit ist aber bei den schweren Störungen, um die es in diesem Zusammenhang
geht, kaum zu erreichen. Es ist realistischer, zu Beginn des therapeutischen Prozesses das Ziel
bescheidener zu formulieren. Es geht um ein "besser miteinander Auskommen", um einen
Kompromiß, zu dem sowohl der Patient als auch die, die mit ihm leben, beitragen müssen.
Hierbei spielt die Einzeltherapie eine wichtige Rolle. Der Therapeut erwirbt im Laufe der
Behandlung ein Wissen über Fähigkeiten und
spezifische Verwundbarkeit des Patienten, das er auf keinem anderen Wege erwerben könnte.
Auf diese Weise wird er fähig, die Betreuer zu beraten, wie sie eine angemessene und
entwicklungsfreundliche Umgebung für diese Patienten schaffen können, eine Umgebung, die
vor allem die Konfliktbewältigung des Patienten nicht überfordert. Es wird dann eher
gelingen, den betreffenden Patienten zu stabilisieren und den Kreislauf von Symptomatik,
negativen Erwartungen und provozierter Symptomatik zu durchbrechen. In dem
verständnisvollen und wohlwollenden emotionalen Milieu können dann unterbrochene und
stehengebliebene Entwicklungsprozesse wieder aufgenommen werden.
Um diese emotionale Atmosphäre abzusichern, ist es oft notwendig, die Therapie über das
Ende der Einzeltherapie hinaus fortzusetzen. Ganz allmählich wird die therapeutische
Beziehung sich in ihrer Qualität ändern. Der Therapeut bleibt dann nicht länger in der Rolle
eines "Hilfs-Ichs". Langsam wird er zu einem einflußreichen Berater, eine Funktion, die er am
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Ende auf die Betreuer übertragen kann. Die Dauer der Therapie ist also jeweils schwierig zu
bestimmen. Trotzdem sollte das Ende der Einzeltherapie möglichst klar und im voraus
definiert werden und der Übergang in die "Nachphase" soll möglichst deutlich sein. Ein
realistischer und abgesprochener Zeitplan hat einen stimulierenden Effekt auf die Therapie.
Üblicherweise dauert die Phase mit Einzelsitzungen mindestens drei Jahre. Die anschließende
Phase der unterstützenden Therapie kann sich wiederum über mehrere Jahre hinziehen.
Brigitte (2)
Lange nach Beendigung der Phase mit einzeltherapeutischen Sitzungen kämpfte Brigitte
immer noch mit ihrer Destruktivität, und manchmal war sie nicht fähig, sie in Kontrolle zu
halten. Ihre Betreuer jedoch konnten diese Zustände besser beeinflussen als vorher. Sie
konnten jetzt auch Brigitte's eigene Kontrollkräfte verstärken und nutzen. Ein Lern- und
Anpassungsprozeß hatte auf beiden Seiten stattgefunden. Beide Parteien, die Betreuer und
Brigitte selbst, forderten Rat vom Therapeuten, wenn sie ihn nötig hatten. Sechs Jahre nach
Beginn wurde die Therapie offiziell für beendet erklärt.
Heute ist Brigitte immer noch eine sehr schwierige junge Frau und wird von den Betreuern
immer noch mit großer Vorsicht behandelt. Nichtsdestoweniger hat sie ihr privates Leben
ganz gut organisiert und in Notfällen weiß sie, wie sie ihren früheren Therapeuten finden
kann.
2. Therapeutischer Raum und Realraum
Üblicherweise können Personen mit einer psychischen Krankheit und einer geistigen
Behinderung sich nur ungenügend von ihrem jeweiligen sozialen Umfeld abgrenzen. Sie
leben mehr in sozialen Beziehungen als innerhalb ihrer psychischen Strukturen. Ihre
Stimmungen, die für ihre Anpassungsprobleme hauptsächlich verantwortlich sind, dauern
lange an und schwinden nur allmählich. Sie können die auslösende Situation für eine lange
Zeit überdauern. Affekte, die während der therapeutischen Sitzung entstanden sind, lösen so
möglicherweise Konflikte in der Wohngruppe aus und umgekehrt. Meist sind sie unfähig, ihre
Stimmungen mit einer inneren oder äußeren Ursache in Verbindung zu setzen. Außerdem
haben diese Patienten meist unreife Abwehrmechanismen, was unvermeidbar zu einer starken
Einbeziehung der Betreuer führt. Das häufigste Beispiel ist "Spaltung". Dabei werden die
umgebenden Personen in "schlechte" einerseits und "gute" andererseits eingeteilt. Der
Therapeut wird dann oft in Verdacht geraten, den Patienten gegen die Betreuer aufzuwiegeln.
Um zu verhindern, daß die Therapie schnell ineffektiv wird, muß der Therapeut darauf
achten, daß es nicht zu einem Anwachsen von negativen Gegenübertragungsgefühlen bei den
Betreuern kommt. .
So gibt es viele gute Gründe, auf die strikte Trennung zwischen Realraum und
therapeutischem Raum zu verzichten, die üblicherweise von den psychoanalytischen Schulen
gefordert wird. Der Therapeut hat auf beiden Seiten zu arbeiten. Er muß einen Einfluß haben
auf den Alltag, um unnötige Frustration und Belastungen zu vermeiden. Die Einzeltherapie ist
also immer nur ein Teil einer umfassenden therapeutischen Strategie. Der Therapeut hat
diesen komplexen Prozeß zu organisieren und zu koordinieren. Hierzu gehören natürlich auch
die Verordnung von Psychopharmaka (Sand, 1986; Sand, 1993).
Brigitte (3)
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Bald nachdem die Therapie begonnen hatte, wurde es zunehmend schwieriger für die
Betreuer mit Brigitte zurechtzukommen. In den Streitereien zwischen den Betreuern und
Brigitte berief sich Brigitte immer wieder auf ihre Therapeutin. Dabei konnte man sich nicht
immer darauf verlassen, daß sie fähig war, ihr Wunschdenken von der Realität zu
unterscheiden. Auf diese Weise kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Therapeutin und
Betreuern. Brigitte registrierte die Kontakte zwischen dem Therapeuten und den Betreuern
mit tiefem Mißtrauen. Oft reagierte sie damit, daß sie ihr Vertrauen vollständig zurückzog.
Aus diesem Grunde wurde es notwendig, einen zweiten Therapeuten für die Arbeit mit den
pädagogischen Betreuern einzusetzen. Auf diese Weise wurde die Spaltung, die von Brigitte
ausging, übernommen und für eine gewisse Zeitlang verstärkt. Brigitte reagierte gegenüber
der Fürsorge der Betreuer mit Verachtung und Haß und machte damit die Betreuer hilflos
und ärgerlich. Es bestand die Gefahr, daß Brigitte in der Wohngruppe auf eine zunehmende
Zurückweisung stieß. Indikatoren dafür waren übertriebene disziplinarische Maßnahmen,
Vernachlässigung und eine deutliche Gleichgültigkeit gegenüber Brigitte. Die Situation
wurde auch deshalb schwieriger, weil Brigitte gelernt hatte, ihre Wutausbrüche und auch ihre
Selbstbeschädigungen im Rahmen von Durchsetzungsstrategien zu inszenieren. Die Aufgabe
des zweiten Therapeuten bestand unter anderem darin, die sich verschärfenden
Gegenübertragungsreaktionen bei den Betreuern zu bearbeiten. Sie mußte versuchen, daß
trotz aller Schwierigkeiten die Betreuer eine empathische, emotional zugewandte Einstellung
gegenüber Brigitte behielten und dennoch konsequent und fest gegenüber Brigitte auftreten
konnten, wenn es notwendig war.
3. Das "doppelte" Bündnis
In der Regel haben geistig behinderte Menschen bei Beginn der Therapie keinerlei Einsicht in
die Zusammenhänge ihrer Störung. Aus diesem Grunde haben sie weder einen Leidensdruck
noch den Wunsch nach Behandlung. So sind es meistens andere Personen, also die Familie,
die Betreuer oder andere Heimbewohner, die unter den Symptomen leiden. Es ist jedoch in
vielen Fällen falsch anzunehmen, daß die Betreuer oder die Familie dann auch die
Notwendigkeit für eine Therapie sehen. Im Gegenteil, oft versuchen sie, so lange als möglich
die Therapie zu vermeiden und stattdessen die Störung durch pädagogische Mittel zu
beeinflussen. In solchen Fällen ist es nutzlos, die Therapie zu beginnen. Hier ist es die
Aufgabe des Therapeuten, im Vorfeld die Voraussetzungen für eine Therapie zu schaffen.
Erst wenn die Betreuer oder die Familie von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugt
sind, kann ein "Arbeitsvertrag" mit ihnen geschlossen werden, der die Bedingungen der
Kooperation und die verschiedenen Bereiche der Verantwortlichkeiten festlegt. Das ist der
erste Schritt. Das bedeutet nicht, daß der "Arbeitsvertrag" mit dem Patienten selbst weniger
wichtig ist. Er ist jedoch nicht Voraussetzung für den Beginn einer Therapie.
Auch ein geistig behinderter Patient wird schnell bemerken, daß der Therapeut die Absicht
hat, ihn zu ändern und wird versuchen, diese Absicht zu durchkreuzen. Er wird also
Widerstand entfalten. Der Therapeut muß deshalb zunächst einmal die für die Fortsetzung der
Therapie notwendige Motivation aufbauen und sich selbst, und damit auch die Therapie, so
attraktiv als möglich zu machen. Erst dann kann er Schritt für Schritt zunehmende
Forderungen an den Patienten stellen und Vereinbarungen mit ihm treffen. Auf diesem Wege
wird der Patient mit einer allmählich zunehmenden Verantwortlichkeit in den therapeutischen
Prozeß einbezogen. Ein "Arbeitsvertrag" ist also kein einmaliger Akt, sondern das Ergebnis
vieler kleiner Absprachen innerhalb der Anfangsphase der Therapie.
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Brigitte (4)
Brigitte wollte zunächst den Therapeuten nur in ihrem Raum in ihrer Wohngruppe treffen.
Die Betreuer hatten versucht, ihr die Wichtigkeit der Therapie zu erklären. Sie interpretierte
trotzdem den Beginn der Therapie auf dem Hintergrund ihrer mißtrauischen
Überempfindlichkeit als eine Form von Bestrafung.
Die erste Stunde begann sie daher mit Rechtfertigung und Protest, indem sie z.B. sagte "Ich
habe die Fensterscheibe nicht zerbrochen" oder "Ich mache es wieder gut". Der Therapeut
stellte klar, daß er nicht wegen der zerbrochenen Fensterscheibe gekommen war und drückte
in einer sehr allgemeinen Weise aus, daß er sich um sie kümmern und ihr helfen wollte.
Brigitte bemerkte die engagierte Sorge und das Angebot machte sie neugierig. Sie gab ihr
Mißtrauen jedoch zunächst nicht auf. Der Therapeut interpretierte dies als ein Zeichen dafür,
daß sie eine diffuse Ahnung von der Bedeutung dieses Angebotes hatte. Sie spürte offenbar,
daß sie therapiert, das heißt "geändert" werden sollte und entwickelte Widerstand dagegen.
Auch in den folgenden Sitzungen mußte der Therapeut Brigitte weiterhin in ihrem Zimmer
aufsuchen. Er beschränkte sich darauf, zu erfragen, wie sie sich fühlte. Erst in der vierten
Sitzung war Brigitte bereit, ihr Zimmer und die Wohngruppe zu verlassen. In der nächsten
Sitzung war es möglich, mit ihr ein Treffen im Therapieraum zu arrangieren. Im
Zusammenhang mit diesen Abmachungen wurde das Therapieziel gegenüber Brigitte
nochmals mit den Worten "Ich möchte Dir helfen" formuliert.
In den folgenden Sitzungen versuchte der Therapeut, eine angenehme Atmosphäre
aufzubauen. Brigitte wurden verschiedene Angebote gemacht (Kakao, Kuchen, Nichts-Tun).
Sie konnte entscheiden, wann sie gehen wollte. Nach zehn Sitzungen war es möglich, zu einer
Abmachung zu kommen, was die Länge der Sitzungen betraf ("bis der Wecker klingelt", was
üblicherweise dem Zeitraum von einer halben Stunde entsprach). Zunächst war die Bindung
an denj Therapeuten möglicherweise auf der vagen Hoffnung begründet, daß etwas Günstiges
in ihrem Leben geschehen könnte. Natürlich war es auch ihre Erwartung, daß durch diese
Therapie ihr Prestige ein wenig gehoben wird. Brigitte hatte bemerkt, daß die anderen
Heimbewohner sie beneideten. Im Laufe der Zeit wuchs jedoch das Interesse an dem
Therapeuten ebenso wie an der emotionalen Atmosphäre in der therapeutischen Sitzungen.
Zur selben Zeit wurden die aggressiven Zusammenstöße mit den Betreuern häufiger. Der
Therapeut hatte darauf keinen Einfluß. Notwendigerweise mußte der Therapeut einen
abgeschirmten alternativen Erfahrungsraum für Brigitte schaffen, und nur so konnte die
Therapie und damit Brigitte's Entwicklung in eine
neue Phase eintreten.
4. Setting und therapeutische Medien
Die Ausführungen über die Länge der Therapie und der Hinweis auf die notwendige
Einbeziehung des sozialen Umfeldes zeigten bereits wichtige Aspekte des therapeutischen
Settings. Wegen der Vielfältigkeit der Störungen und des unterschiedlichen
Entwicklungsstandes muß das Setting sehr variable sein. Dabei müssen jedoch, die Prinzipien
der Regelmäßigkeit und der Verläßlichkeit beachtet werden. Die Einhaltung dieser Prinzipien
ist Voraussetzung für eine entwicklungsfreundliche Beziehung.
Die Häufigkeit und Dauer der einzeltherapeutischen Sitzungen und auch die Art, in der diese
durchgeführt wird, hängt in starkem Maße von der Art der psychischen Störung ab. Häufig ist
es zum Beispiel bei einer Angstsymptomatik nicht möglich, mit einem Patienten allein für
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
längere Zeit in einem Raum zu sein. In diesen Fällen ist es notwendig, Alternativen zu finden
(z.B. Einkaufen zu gehen, Freizeitaktivitäten durchzuführen u.a.). Es ist auch nicht immer
möglich, mit einem nicht-direktiven Ansatz zu arbeiten. In vielen Fällen ist es notwendig, die
therapeutische Sitzung stark zu strukturieren und dabei trotzdem auf die Eigeninitiative der
Patienten zu achten. Meist ist es unverzichtbar, Grenzen zu setzen. Tätliche Angriffe gegen
den Therapeuten wie auch andere destruktive Verhaltensweisen müssen, so gut es geht,
verhindert werden. Für eine bestimmte Zeit kann es auch notwendig werden, daß der Raum
abgeschlossen wird, weil ein ständiges Weglaufen den Aufbau einer therapeutischen
Beziehung sehr erschweren würde. Diese Einschränkungen stören die therapeutische
Beziehung nicht, wenn bei all diesen Maßnahmen der Therapeut seine uneingeschränkt
wohlwollende Haltung nicht aufgibt. Es spricht viel dafür, daß gerade die wohlwollende
Stärke des Therapeuten ein wichtiger Faktor bei den Identifikationsprozessen ist, die
schließlich zu den angestrebten Veränderungen führen. Ein unklares Setting und ein zu
nachgiebiger Therapeut können dazu beitragen, den Patienten in ein inneres Chaos zu führen
und seine Entwicklung zu hemmen.
Die Auswahl der therapeutischen Medien hängt von dem Entwicklungsstand ab. Verbale
Techniken sind bei sprachfähigen Patienten wirksam, aber schwierig anzuwenden, weil sie
individuelle Sprachbarrieren zu überwinden haben. Man kann sich nicht sicher sein, daß bei
diesen Patienten die Wörter ihre alltagssprachliche Bedeutung haben. Außerdem haben sie oft
eigene Wortschöpfungen, die man erst zu entschlüsseln lernen muß. Gespräche treten daher
oft in den Hintergrund. Umso mehr muß der Therapeut sich bemühen, den symbolischen
Gehalt der verbalen und nichtverbalen Interaktionen zu erfassen und angemessen darauf zu
reagieren.
Das Hauptziel aller therapeutischen Medien, einschließlich des Dialogs, ist es, den
spezifischen individuellen Interaktionsstil des Patienten deutlich werden zu lassen. In diesem
individuellen Interaktionsstil kann der Therapeut die dominierenden Übertragungstendenzen,
die entwicklungsphasenspezifischen Bedürfnisse und schließlich die vorhandenen
Ichfunktionsdefizite erkennen. In der therapeutischen Sitzung wird also ein alternativer
Lebensraum eröffnet, der dem Patienten über die Interaktion mit einem für ihn bedeutsamen,
professionell geschulten Partner die Möglichkeiten für neue emotionale Erfahrungen eröffnet.
Für diesen Zweck eignen sich vielerlei therapeutische Medien. Häufig angewandt werden
Spiele, Puppen, Malen, Ton modellieren, Kochen, körperorientierte Interaktionen, Einkaufen
gehen, Sportaktivititäten usw.
Brigitte (5)
Die Verständigung mit Brigitte im Gespräch war oft schwierig. Die drückte in ihrer
Alltagssprache oft etwas aus, was für sie eine ganz spezielle Bedeutung hatte. Dies führte
regelmäßig zu Mißverständnissen. Die Tatsache, daß sie nicht fähig war, Phantasie und
Realität zuverlässig zu trennen, verstärkte die Verwirrung. So war es für eine lange Zeit
wichtiger, ihr eine emotionale Erfahrung notfalls auch ohne Worte zu vermitteln. Wenn
Brigitte aufgeregt war, suchte sie einen engen körperlichen Kontakt mit dem Therapeuten. Sie
versuchte dann, sich auf seinen Schoß zu setzen und fing an, zu schaukeln. Der Therapeut
schwieg oder sprach besänftigend auf sie ein, wie es etwa eine liebevolle, besorgte Mutter tun
würde. Im Sinne eines festen Rituals bestrich der Therapeut in jeder Sitzung ihre verkratzten
und vernarbten Arme mit einer Wundsalbe. Der Therapeut versuchte mit diesen Maßnahmen,
Brigittes offensichtlichem Bedürfnis nach Fürsorge und Sicherheit zu entsprechen. Diese
beiden Bedürfnisse waren in der Anfangsphase der Therapie dominierend.
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
Da Brigitte jegliche Art von Spielen zurückwies, wurden die Sitzungen durch gemeinsames
Kochen und Trinken strukturiert. Das Getränk, heiße Schokolade, war von Brigitte gewählt
worden. Diese Anfangsphase erstreckte sich über sechs Monate. In dieser Zeit sprach Brigitte
über Quälereien, Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten, die sie auf ihrer Wohngruppe zu
ertragen habe. Alle diese Berichte waren entweder phantasiert oder zumindest stark
übertrieben. Später wurden ihre Berichte realistischer und bezogen sich mehr auf ihre
eigenen Erfolge, z.B. bei der Arbeit. Auch diese Berichte waren in der Regel etwas
übertrieben, aber es war deutlich, daß Brigitte dafür anerkannt werden wollte. Der Therapeut
gab ihr diese Anerkennung, ohne auf einer realistischen Darstellung zu bestehen. Für etwas
zwei Jahre blieb die Struktur des Settings stabil. Trotzdem änderte sich der Interaktionsstil
und der Inhalt der Kommunikation. Die Sitzung dauerte schließlich 45 Minuten und fand
zweimal in der Woche statt. Nach zwei Jahren hatte die Häufigkeit des Körperkontaktes stark
abgenommen und auch das Trinken von heißer Schokolade spielte keine große Rolle mehr.
Die Frequenz der Sitzungen konnte auf einmal pro Woche reduziert werden. Brigitte nutzte
die Stunde, um zu berichten, was ihr in der vergangenen Woche widerfahren war. In dieser
Form mußte der therapeutische Kontakt für weitere drei Jahre durchgeführt werden. Gegen
eine frühere Beendigung sprach insbesondere die Tatsache, daß Brigitte immer wieder in ihre
frühere Symptomatik zurückfiel, wenn der Therapeut für längere Zeit abwesend war. Nach
diesen drei Jahren war es nicht mehr nötig, Brigitte regelmäßig zu treffen, aber der
Therapeut war weiterhin für Brigitte ansprechbar, wenn sie ihn brauchte.
5. Objektbeziehungen, Therapeut als "Realobjekt", Interventionen
Ziel des Therapeuten ist es, sobald als möglich eine Beziehung aufzubauen, die sehr viel
Ähnlichkeit mit der Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern in den frühen
Entwicklungsphasen hat. Es ist eine Beziehung, in der der Patient zunächst in eine abhängige
Position gerät, was bei diesen schweren Störungen vermutlich eine Voraussetzung für den
Beginn einer Weiterentwicklung ist. Der Therapeut trägt daher eine große Verantwortung und
muß versuchen, diese Art der Beziehung so schnell als möglich umzuwandeln,
beziehungsweise zu beenden. Verständlicherweise sind in dieser Phase Konflikte mit den
pädagogischen Betreuern kaum zu vermeiden. Sie müssen gelöst werden, wenn die Therapie
erfolgreich sein will.
Oft ist es sehr schwierig, eine derartige Beziehung aufzubauen und zu stabilisieren. Die
Patienten mit oft schwersten Störungen reaktivieren ihre oft schrecklichen Kindheitserlebnisse
in der Therapie. Sie kämpfen darum, ihre Störungen, die Teil ihrer Identität sind, zu
verteidigen und ersticken jeden Ansatz der Veränderung. In dieser Phase kann die Stabilität
der Therapie nur über ein einfühlsames und unerschütterliches besorgtes Interesse an dem
Patienten erreicht werden, und nur so kann der Patient allmählich für eine therapeutische
Beziehung aufgeschlossen werden.
Es ist in der Therapie oft außerordentlich schwierig, mit den Wiederholungen dominanter
Objektbeziehungen umzugehen. Der Therapeut wird konfrontiert mit archaischen
unkontrollierten Affekten von Haß und Neid oder aber auch mit panikähnlicher Angst. Diese
"Objektwiederholungen" sind schwerer aufzulösen als die Übertragungsbeziehungen bei
neurotischen Störungen. Diese frühgestörten Patienten sind nicht in der Lage, ihre als real
erlebten Gefühle als "Erinnerungen" zu durchschauen und einzuordnen. So erleben sie den
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
Therapeuten so, als ob er wirklich alle die Charaktereigenschaften hätte, mit denen sie ihn auf
dem Wege der Projektion ausstatten. Der Therapeut kann daher nicht in einer neutralen
Position bleiben. Auf Grund seines Trainings ist er jedoch
in der Lage, die
psychodynamischen Hintergründe der Interaktionen zu erkennen. Gestützt auf die Bewertung
seiner Gegenübertragungsreaktionen, wird er versuchen, eine "Antwort" auf dieses
Interaktionsangebot zu finden. Diese "Antwort" sollte "authentisch" und "selektiv" sein
(Heigl-Evers & Henneberg-Münch, 1985). Authenzität ist notwendig, damit der Patient das
emotionale Verstehen und den Respekt des Therapeuten wahrnehmen kann. Die "Antwort"
muß selektiv sein, weil der Therapeut die kognitiven und emotionalen Beschränkungen des
Patienten berücksichtigen muß. Die "Antwort" muß hilfreich für den Patienten sein, sollte
sein Interesse an der Fortsetzung der Interaktion stimulieren und ihn neugierig und ihm Mut
für den weiteren Verlauf machen. In diesem weiteren Verlauf jedoch wird der Therapeut es
nicht vermeiden können, Frustrationen zu setzen. Er muß hierfür die richtige Art und den
richtigen Zeitpunkt finden, damit die Entwicklung des Patienten nicht gehemmt, sondern
unterstützt wird. Ist dieses Vorgehen erfolgreich, dann kann diese Art von therapeutischer
Interaktion dazu führen, daß der Patient seine Objektbeziehungsmuster und deren affektive
Qualität modifiziert und besser an die Realität anpaßt.
Die "Antworten" des Therapeuten sind seine Interventionen. Sie können verbalisiert werden,
können aber auch in Form von Mimik, Gestik oder aber auch durch Handlung zum Ausdruck
gebracht werden. Die "Antworten" müssen Übereinstimmung genauso wie Dissenz
ausdrücken können. Ihr Zweck ist es, den Patienten mit den gefühlsmäßigen Reaktionen, die
er auslöst, zu konfrontieren und ihm eine Klärung und weitere Differenzierung seiner eigenen
Affekte zu erleichtern. Zur gleichen Zeit vermitteln die "Antworten" emotionale Erfahrungen
wie Schutz, Sicherheit, Respekt und Zuneigung. In dieser emotionalen Atmosphäre bekommt
der Patient die Möglichkeit, seine Ichfunktionen unter der Führung des Therapeuten
weiterzuentwickeln. Der Schwerpunkt liegt also nicht so sehr auf dem Training dieser
Funktionen. Vielmehr übernimmt der Therapeut in seiner Rolle als "Hilfs-Ich" teilweise die
Kontrolle dieser Funktionen während der therapeutischen Interaktion. Auf diese Weise wird
über partielle Identifikation die Übernahme von angemesseneren Anpassungsfunktionen
gebahnt. Der Therapeut ist also ein Ersatz für die Objekte der Realwelt und stimuliert
gleichsam als Katalysator die Entwicklungsprozesse des Patienten.
Brigitte (6)
Es ist nicht möglich, eine genaue Schilderung der Entwicklung der Objekbeziehungen und des
therapeutischen Prozesses während der langen Dauer von Brigittes Therapie zu geben. Ich
beschränke mich daher auf ein Beispiel, das einen Aspekt aus der frühen Phase der Therapie
wiedergibt. Brigitte akzeptierte das Angebot, eine Beziehung mit dem Therapeuten
einzugehen, sehr schnell. Der Preis dafür war jedoch eine Verstärkung ihrer aggressiven
Tendenzen in der Wohngruppe. Dies wurde vom Therapeuten als "Spaltung" interpretiert
und wurde zunächst akzeptiert. Brigitte's Bindung an den Therapeuten war jedoch noch sehr
instabil. Abweichungen von den von ihr gesetzten rigiden Regeln und von ihren Erwartungen
provozierten Haßausbrüche und führten zum Rückzug. Brigitte versuchte eine totale Kontrolle
über ihren Therapeuten auszuüben. Insbesondere legte sie großen Wert darauf, daß der
Therapeut ihre Vorstellungen über ihre Betreuer teilte. Der Therapeut interpretierte diese
Beobachtung dahingehend, daß Brigitte immer noch nicht fähig war, zuverlässig zwischen
sich und anderen Personen zu unterscheiden. Der Therapeut war ein Teil von Brigitte's
"Selbst" geworden in der Art einer Selbstobjektbeziehung. Brigitte projizierte alle ihre
Vorstellungen von einer "guten omnipotenten Mutter" auf den Therapeuten und war nicht
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
fähig, seine wirklichen Eigenschaften und Bedürfnisse zu sehen. Alle unangenehmen
Erwartungen wurden auf die äußere Welt und insbesondere auf die Betreuer projiziert. In
dieser Phase achtete der Therapeut ganz besonders darauf, Brigitte's Bedürfnis nach
Sicherheit gerecht zu werden. Er verzichtete darauf, ihre falschen Vorstellungen über ihre
Betreuer zu korrigieren. Er versuchte, sie zu besänftigen und über Körperkontakt zu
entspannen (z.B. über das Halten ihrer Hände). Darüberhinaus versuchte er, ihren
Bedürfnissen und Erwartungen so gut als möglich zu genügen. Die nächste
Entwicklungsaufgabe für Brigitte war eine verbesserte Differenzierung zwischen dem Selbst
und dem bedeutsamen Objekt, also dem Therapeuten, durchzuführen. Eine derartige
Änderung der Objektbeziehung würde Fortschritte in der Entwicklung verschiedener
psychischer Funktionen möglich und notwendig machen (z.B. Realitätskontrolle, empathische
Gefühle, usw.). Der Therapeut war gezwungen, so lange zu warten, bis er überzeugt war, daß
Brigitte kleinere Abweichungen von ihren üblichen Erwartungen ertragen konnte. Das Risiko
für den Therapeuten war, daß Brigitte ihn mit den anderen "bösen" Objekten gleichsetzte und
ihn zurückwies. Wenn der Therapeut jedoch in seinem Bemühen erfolgreich sein würde,
hätten auch die Betreuer die Chance, eine realistischere Beziehung zu Brigitte aufzubauen.
Mit diesem Ziel begann der Therapeut, allmählich Veränderungen in den Verlauf der
Sitzungen einzubauen. Jede dieser Veränderungen erschienen ziemlich unwichtig und trivial.
Die Summe dieser Modifikationen jedoch ermöglichten der Klientin die Erfahrung eines
bedeutsamen Wandels. Ein wichtiger Schritt vollzog sich beim gemeinsamen Kochen und
Trinken von heißer Schokolade. Obwohl er wußte, wie wichtig es für Brigitte war, daß er die
Schokolade mit ihr gemeinsam vorbereitete und trank, sagte er in einer Sitzung, daß er heute
keine heiße Schokolade trinken würde. Nachdem Brigitte diese Entscheidung akzeptiert hatte,
machte er in einer der folgenden Sitzungen den Vorschlag, daß sie wie üblich ihre heiße
Schokolade selbst vorbereiten sollte, während er für sich selbst einen Tee kochen würde.
Gleichzeitig versuchte er, diesen Vorschlag genauer zu erklären, indem er sagte "ich ziehe
Tee vor und Du liebst heiße Schokolade". Die emotionale Atmosphäre der folgenden
Sitzungen konnte auf diese Weise geändert werden. Das phasenspezifische Bedürfnis, das jetzt
befriedigt werden mußte, war nicht mehr das Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Wärme,
sondern vielmehr Anerkennung für ihre Leistungen (z.B. für ihre Fähigkeit, alleine heiße
Schokolade zu trinken und ihren eigenen Geschmack zu haben). Unter der Führung des
Therapeuten wurden viele kleine Schritte möglich, die der Klientin neue emotionale
Erfahrungen über sich selbst und ihr signifikantes Objekt, den Therapeuten, eröffneten. Diese
Erfahrungen führten schließlich zu einer schrittweisen Modifikation ihres Selbstkonzeptes
über Identifikation. Heute ist Brigitte nicht länger der "kleine Teufel", der nichts anderes im
Kopf hat, als die Wohngruppe ins Chaos zu stürzen. Stattdessen ist sie eine junge Frau mit
individuellen Alltagsgewohnheiten und relativ stabilen Beziehungen mit den Personen, mit
denen sie zusammenlebt. Unter emotionalem Streß geschieht es jedoch sehr leicht, daß ihre
Objektbeziehungen wieder desintegrieren und sie wieder in ihre gespaltene Welt eintritt, in
der sie sich verfolgt und gehaßt fühlt.
Ein Beitrag zur Humanisierung des Lebens psychisch schwer gestörter Menschen mit
geistiger Behinderung
Trotz der bekannten und in vielerlei Hinsicht auch zutreffenden Kritik (Robinson &
Robinson, 1976; Olendiek u. Olendiek, 1982; Konarski u. Cavalier, 1982) kann eine
psychodynamische Sichtweise im Umgang mit psychisch schwer gestörten, geistig
behinderten Menschen von großer Bedeutung sein. Dabei werden die Vorzüge erst deutlich,
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
wenn man sich bei seiner Beurteilung nicht nur auf die Möglichkeiten der
einzeltherapeutische Praxis beschränkt, sondern auf den möglichen Einfluß auf die
Betreuungsbedingungen in einer Einrichtung erweitert. Es wird oft übersehen, daß jedes
diagnostisch-therapeutische Konzept einen entscheidenden Einfluß auf das emotionale Milieu
hat. Hier zeigt sich ein bedeutsamer Vorzug eines psychodynamisch orientierten Konzeptes.
In einem viel größeren Ausmaße als bei anderen therapeutischen Konzepten wird hier die
Bedeutung der emotionalen Atmosphäre im Alltag erkannt und berücksichtigt. Mit Hilfe eines
nach diesem Konzept arbeitenden Therapeuten kann das betreuende Personal lernen, das
abweichende Verhalten als Resultat eines Kampfes um eine normale Entwicklung unter
widrigen Bedingungen zu begreifen. Diese Sichtweise vermittelt Respekt für die Art und
Weise wie behinderte Personen trotz dieser Handicaps ihr Leben meistern und sie erlaubt ein
tieferes Verstehen ihres Selbst-Erlebens. Über den therapeutischen Prozeß können die
Betreuer die Fähigkeit erwerben, die oft verzerrten und konflikthaften Bedürfnisse zu
erkennen, und es wird ihnen dadurch möglich werden, emotional angemessen auf das
Verhalten des Patienten zu reagieren. Es wird ihnen in den Gesprächen über den Patienten
deutlich werden, auf welche Weise sie selbst in die Psychodynamik des Patienten einbezogen
sind; und sie werden in die Lage gesetzt, ihre Rolle bei den Inszenierungen zu durchschauen.
Dadurch werden die Voraussetzungen geschaffen, um den Circulus vitiosus von Übertragung
und Gegenübertragung zu unterbrechen und Wege für neue Entwicklungen zu bahnen. Dieser
Einfluß auf die Haltung des betreuenden Personals ist genauso wichtig wie der direkte Einfluß
des Therapeuten in der Einzeltherapie. Eine Einzeltherapie ist jedoch oft unentbehrlich, um
das notwendige Wissen um die psychodynamischen Hintergründe des Verhaltens zu erhalten,
auf dessen Basis die erfolgreiche Beratung der pädagogischen Betreuer erst möglich wird. Ein
psychodynamisches Therapiekonzept ermöglicht somit nicht nur bedeutsame Fortschritte in
der Entwicklung schwer gestörter geistig behinderter Menschen und führt dadurch oft zu einer
deutlichen Entlastung aller von den Störungen betroffenen Personen. Genauso wichtig ist der
Beitrag zu einer Humanisierung des Alltages der Einrichtungen, in denen Menschen mit
diesen schweren Störungen betreut werden. Wenn sie nicht von verstehenden und engagierten
Betreuern geschützt werden, werden diese Menschen allzuleicht Opfer eskalierender Gewalt,
die sie selbst inszenieren.
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Christian Gaedt
Psychoanalytisch interaktionelle Psychotherapie bei…..
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