Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte Praktiken der Subjektivierung | Band 4 Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dr. Joachim Tautz Satz: TypoGrafika | Anke Buschkamp Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2552-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2552-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung Dagmar Freist | 9 D iskurse Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit Michael Stolberg | 33 Umkämpfte Erzählungen Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers in der preußischen Nachreformära Nikolaus Buschmann | 57 „Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunder ts Lucas Haasis | 87 Die relationale Gesellschaft Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive Marian Füssel | 115 Beyond the Sea Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhunder t Constantin Rieske | 139 Szenen der Subjektivierung Zu den Schriftpraktiken der Wallfahr t im 18. Jahrhunder t Eva Brugger | 161 K örper Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhunder t Christina Beckers | 187 „… daß mein leib mein seye.“ Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722) Mareike Böth | 221 „In Gelb!“ Selbstentwür fe eines Mannes im Fieber Annika Raapke | 243 A rtefak te Überlegungen zu einer Nationaltracht „Social Imaginary“ im Schweden des späten 18. Jahrhunder ts Mikael Alm | 267 Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation Frank Schmekel | 287 Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuer te Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit Beverly Lemire | 311 „Zu Notdurfft der Schreiberey.“ Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei Meg Williams | 335 „Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“ Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit Dagmar Freist | 373 Autorinnen und Autoren | 405 Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung Dagmar Freist Diskurse, Körper, Artefakte – diese Begriffe umreißen vertraute Forschungs­ felder, die auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Dis­ kurstheorien gehen seit den späten 1960er Jahren davon aus, dass es nicht möglich sei, „sich in der Wahrnehmung von Wirklichkeit jenseits der Sprache bzw. jenseits von Diskursen zu bewegen“,1 Formen des Wahren und Wirk­ lichen werden diskursiv ausgebildet.2 Die Körpergeschichte hat zumindest in ihren Anfängen gegen „eine kulturalistische Verflüssigung historischer Kate­ gorien“3 für die Unmittelbarkeit des Körpers oder dann doch wenigstens des Leibes als Ort unmittelbarer Erfahrungen und damit seiner Materialität jen­ seits von Diskursen plädiert,4 und Artefakte „als von Menschen gefertigte[n] Dinge[n]“ wurden interpretiert als direkte oder indirekte Manifestationen von Kultur.5 Seit diesen programmatischen Anfängen der jeweiligen Forschungs­ felder und Theorien hat sich das Bild unter dem Einfluss innerwissenschaft­ 1 | Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 31. 2 | Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2008. 3 | Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik des Körpers, in: Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg zur Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 16–34, hier S. 19. 4 | Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 1, S. 1–33; vgl. dazu auch Tanner, J.: Wie machen Menschen Erfahrungen?, bes. S. 19–25. 5 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studien, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge (= Reiseliteratur und Kulturanthropologie, Bd. 8), Berlin/Münster 2006, S. 9–24, hier S. 12. 10 Dagmar Freist licher und interdisziplinärer Methoden- und Theoriereflexion und der damit verbundenen Dynamisierung der Konzepte gewandelt und Gemeinsamkeiten hervorgebracht.6 Es ist nicht das Anliegen dieser Einleitung, diese Verände­ rungen wissenschaftsgeschichtlich in allen ihren Verästelungen nachzuzeich­ nen.7 Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sich diese Theoriediskussion mit praxis- und subjektivierungstheoretischen Denkstilen berührt und welche Re­ levanz eine solche Annäherung von Denktraditionen und Denkstilen für eine historische Praxeologie haben kann. 1. D iskurse Den Ausgangspunkt diskursanalytischer Theoriebildung bildet das Verständ­ nis von Diskursen und diskursanalytischen Verfahren nach Foucault, auch wenn er nie ein einheitliches diskurstheoretisches Programm verfasst hat. Teil der Diskursanalyse sind die Bestimmung des Orts einer Reihe von ähn­ lichen Aussagen (im Sinne des historischen, sozialen und kulturellen Aus­ 6 | Vgl. dazu die verschiedenen turns in der Geschichtswissenschaft, den Kulturwissenschaften und den Sozialwissenschaften. Zum cultural turn vgl. Bonnell, Victoria/ Hunt, Lynn: Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/Los Angeles 1999; Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart/Lutter, ­C hristina (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Berlin/Wien 2001; Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 15–57; zum practice turn Schatzki, Theodore/Knorr-Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/ New York 2001; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282– 301; Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussions­a n­r e­ gung, in: Sozial Geschichte 22 (2007), 3, S. 43–65; zum performative turn: FischerLichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001; Stäheli, Alexandra: Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, L­ yotard und dem ‚pictorial turn‘, Wien 2004; Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003; zum spatial turn: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. Aufl., Bielefeld 2009; zum emotional turn vgl. Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a.M. 2006, S. 7–27. 7 | Für einen Überblick über die Entwicklung der Praxistheorie aus kulturtheoretischen Ansätzen vgl. Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien; Bachmann-Medick, ­D oris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl., Hamburg 2009. Diskurse – Körper – Ar tefakte gangspunkts), die Erfassung diskursiver Regelmäßigkeiten (Generierung von Ordnungsschemata durch miteinander verbundene Aussagen), Evidenzen des Denk-, Sag- und Machbaren (durch Wiederholung und Verdichtung be­ stimmter diskursiver Elemente) und schließlich die diskursive Tradition (Ar­ chiv), die sich aus den drei genannten Elementen bildet.8 Die entscheidende Grundannahme von Diskurstheorien ist die epistemische Unhintergehbarkeit der Sprache (sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesys­ teme), eine Prämisse, die mit dem „linguistic turn“ in den 1990er Jahren zum forschungstheoretischen Paradigma ausgerufen wurde.9 Diskurstheorien ge­ hen davon aus, dass es keine Wirklichkeit hinter den Diskursen gibt, die an sich erfahrbar wäre und der Diskurse gewissermaßen nur übergestülpt wurden.10 Einer der Hauptkritikpunkte gegen diese „Analysen von Aussagensyste­ men“ war die Setzung homogener Diskurskomplexe, die andere Diskurse und Mehrdeutigkeiten – „ein Geschwätz zwischen den Zeilen“ – ignorierten,11 die Reduktion von Konstruktionen bildlich auf ein verbales Handeln, die De­ thematisierung von Wandel und nach dem Verlust des Subjekts als Akteur die Verdinglichung von Diskursen zum Status eines Subjekts. Unbelichtet blieb weiter die Frage nach den Funktionsweisen von Diskursen und nach dem Ver­ hältnis diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. Mit der Einführung des „Dispositiv“ als „Gesamtheit von Institutionen, Diskursen und Praktiken“,12 bietet Foucault selbst ein Konzept, um die Diskursanalyse durch die Frage der Wechselbezüge zwischen Diskursen, Institutionen und normierenden Wis­ sensordnungen zu erweitern13 und „Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und nichtdiskursiven Bereichen“ sichtbar zu machen.14 Diskur­ se bringen nicht nur die Dinge hervor, die sie bezeichnen, sie generieren zu­ 8 | Die interne Dynamisierung des Diskursbegriffs lässt sich nachzeichnen in den drei folgenden Werken: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1979; ders.: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981; ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987; ders.: Was ist Kritik, Berlin 1992. 9 | Schöttler, Peter: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151; Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse. 10 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31. Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse, S. 36. 11 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 41–45. 12 | Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn 2007, S. 101. 13 | Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. 14 | Foucault, M.: Archäologie des Wissens, S. 231; vgl. auch Füssel, Marian/Neu, Tim: Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235, hier S. 217. 11 12 Dagmar Freist gleich durch diskursive Regelmäßigkeiten die Grenzen des Denk-, Sag-, und Machbaren und sind damit untrennbar verbunden mit Effekten der Macht (das „regulierende Ideal“), verursachen Inklusion und Exklusion. Diskursive Praktiken werden dabei als Äußerungsmodalitäten, Handlungskontexte und Funktionsweisen von Diskursen verstanden, die sich in die Körper einschrei­ ben und so ihren Wahrheitsanspruch materialisieren. Mit den Begriffen Kritik und Genealogie gelingt es Foucault, Machtverhältnisse und die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderung beschreibbar zu machen.15 Bei der Frage nach dem Verhältnis von Diskursen und Praktiken hat die Forschung zunächst die Frage aufgeworfen, ob es um eine „kausale Konstituti­ onsbeziehung“ zwischen Wissen und Handeln – erzeugen bestimmte kulturel­ le Schemata notwendigerweise bestimmte Handlungsmuster – oder eine „Ex­ pressionsbeziehung“ geht – kulturelle Schemata existieren allein dadurch, dass sie sich in Praktiken „ausdrücken“.16 Praxistheoretisch hat vor allem Andreas Reckwitz über seine Definition „kultureller Codes“ eine Annäherung von dis­ kurs- und praxistheoretischen Denkweisen vorgenommen,17 auch wenn er an anderer Stelle die Praxis- und Diskursanalyse als „zwei konträre Fundierungs­ strategien“ dargestellt hat.18 „Code-Ordnungen“, die den Rahmen dafür liefern, „was praktizierbar erscheint und was nicht“, sind „in sozialen Praktiken enthal­ ten und geben diesen ihre Form bzw. kommen in den Praktiken zum Ausdruck und ermöglichen diese“.19 Eine nichtdiskursive Praktik ist nach Reckwitz „eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens [...] und umfasst darin spezifische Formen des Wissens, des know how, des In­ terpretierens, der Motivation und der Emotion“.20 Diskurse als ein Netzwerk sprachlicher sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesyste­ me sind „selbst nichts anderes als spezifische soziale Praktiken der Produktion von geregelten Repräsentationen; sie sind Praktiken der Repräsentation, [...] 15 | Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens. 16 | Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien, S. 590f. 17 | Vgl. dazu Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006, S. 36 u. 42 und ders.: Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspek­ tiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 15–45, hier S. 17. 18 | Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188– 209, hier S. 191-194. 19 | Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practice Formations, in: Reihe Soziologie/Sociological Series 92 (2009), S. 1–22, hier S. 10. 20 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 36 und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 11, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz. Diskurse – Körper – Ar tefakte die regeln, was wie darstellbar ist“.21 Praktiken und Diskurse als „umfassen­ de ‚Praxis-/Diskursformationen‘“22 sind durch ihren gemeinsamen Bezug auf kulturelle Codes, so die Argumentation, miteinander verbunden und institu­ tionalisieren so bestimmte Subjektivierungsweisen in je spezifischen Feldern (Politik, Wissenschaft). Subjektivierung aus dieser Perspektive bedeutet einen Unterwerfungsprozess des Einzelnen unter eine kulturelle Ordnung (codes), „die ihm körperlich und psychisch Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ‚einschreibt‘“.23 Theodore Schatzki hat kausale Zusammenhänge zwischen Diskursen und Praktiken negiert: „It is important to emphasize that the re­ lation of expression (manifestation, making present) is noncausal.“24 Es sind die Akteure selbst, die in praktischen Vollzügen mentale Wissensordnungen performativ hervorbringen und je spezifische Ausdrucksformen verleihen.25 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive haben Marian Füssel und Tim Neu in Anschluss an Foucault und Bourdieu zwar betont, dass Diskurse und Praktiken ihren eigenen Logiken folgen, dass sich über die Inkorporierung und Performanz diskursiver Strukturen allerdings ein verbindendes Element zwischen Diskursen und Praktiken analytisch fruchtbar machen lässt.26 An die Stelle der Repräsentation von Praktiken in Diskursen bei Reckwitz tritt bei Schatzki die Erzeugung von Sinn im praktischen Vollzug. 2. K örper Kulturwissenschaftlich und historisch ausgerichtete Körperstudien haben sehr früh an diskurstheoretische Überlegungen angeknüpft und den Körper als eine invariante biologische Realität infrage gestellt. Die Folge war zum ei­ nen eine radikale Historisierung des Körpers verbunden mit der „Erforschung der Umformung von Leiblichkeit in verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaftsformen“,27 zum anderen eine Rekonzeptualisierung des Körpers 21 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 43, und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 11f., dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz. 22 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 44. 23 | Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Individuums, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75–92, hier S. 78, und Jonas, M.: The Social Site Approach, S. 14, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz. 24 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 33. 25 | Ders., Kap. 2. 26 | Füssel, M./Neu, T.: Doing Discourse, S. 22–223. 27 | Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut, Stuttgart 1987, S. 14f. 13 14 Dagmar Freist als diskursiv hervorgebrachte, soziale Konstruktion; Körpererfahrung und Kör­per­wahrnehmung werden in dieser Perspektive allein über Diskurse er­ möglicht.28 Durch diese Diskursivierung des Körpers entstand allerdings das analytische Problem, dass diesen Diskursen vorgängig eine Stofflichkeit (Leib) existiert, die die Frage nach der Materialität permanent aufwirft.29 Dieses er­ kenntnistheoretische Paradoxon findet sich wieder in der Unterscheidung der Geschlechterforschung von sex (biologischem Geschlecht) und gender (sozi­ aler Konstruktion von Geschlecht). Genau hier setzt Judith Butler an, wenn sie kritisch aufzeigt, dass „die Grenzen des linguistischen Konstruktivismus“ erreicht seien, wenn das biologische Geschlecht als unkonstruierbar apos­ trophiert werde30 und fragt zugleich, ob die Möglichkeit bestehe, „die Frage nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Ge­ schlechtsidentität zu verknüpfen“.31 Jene „ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“, hat Butler als Ausgangspunkt genommen für ihre „Reformulie­ rung der Materialität von Körpern“.32 Das „regulierende Ideal“ in der Lesart von Butler ist nicht nur eine regulierende Kraft, bezogen darauf, wie etwas zu bezeichnen, zu bewerten und zu unterscheiden sei (männlicher Körper, weiblicher Körper, das biologische Geschlecht), sondern „eine Art produkti­ ve Macht“, die durch ständige Wiederholungen Wahrheiten konstituiert (das biologische Geschlecht), die sich mit der Zeit zwangsweise materialisieren.33 Ständige Wiederholungen tragen zugleich ein Moment der Instabilität in sich als die dekonstituierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, was zu einer potentiell produktiven Krise in der Konsolidierung von Normen (der biologische Körper) und deren Naturalisierung führen kann.34 Die theoretischen Debatten um den Körper der 1990er Jahre haben nicht nur polarisiert, sondern auch zu einer Schärfung von Begrifflichkeiten und Theorieansätzen geführt und das Forschungsfeld über historische Körper­ diskurse hinaus geöffnet. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Theorien des 28 | Ellerbrock, Dagmar: Körper – Moden – Körper-Grenzen, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 52–84, hier S. 53; vgl. auch Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000. 29 | List, Elisabeth: Wissende Körper – Wissenskörper – Maschinenkörper. Zur Semiotik der Leiblichkeit, in: Die Philosophin 5 (1994), S. 9–26. 30 | Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1997, S. 27. 31 | Ebd., S. 21. 32 | Ebd., S. 22. 33 | Ebd., S. 21. 34 | Ebd., S. 33.