Diskurse - Körper - Artefakte - Historische Praxeologie in

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Dagmar Freist (Hg.)
Diskurse – Körper – Artefakte
Praktiken der Subjektivierung | Band 4
Editorial
Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie
eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen
sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert.
Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und
Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente
der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des
DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in
historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung
eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der
Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des
Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des
Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen.
Die Reihe wird herausgegeben von
Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie
Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte
Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des
19. und 20. Jahrhunderts
Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters
Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie
Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit
Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie
Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl
von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie
und Religionspädagogik
Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft
Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie
Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft
Dagmar Freist (Hg.)
Diskurse – Körper – Artefakte
Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung
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Lektorat: Dr. Joachim Tautz
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Inhalt
Diskurse – Körper – Artefakte
Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung
Dagmar Freist | 9
D iskurse
Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung
Ärztliches Self-Fashioning in der Frühen Neuzeit
Michael Stolberg | 33
Umkämpfte Erzählungen
Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Offiziers
in der preußischen Nachreformära
Nikolaus Buschmann | 57
„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“
Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften
des 18. Jahrhunder ts
Lucas Haasis | 87
Die relationale Gesellschaft
Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit
aus praxeologischer Perspektive
Marian Füssel | 115
Beyond the Sea
Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhunder t
Constantin Rieske | 139
Szenen der Subjektivierung
Zu den Schriftpraktiken der Wallfahr t im 18. Jahrhunder t
Eva Brugger | 161
K örper
Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen
Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem
Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhunder t
Christina Beckers | 187
„… daß mein leib mein seye.“
Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis
in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652–1722)
Mareike Böth | 221
„In Gelb!“
Selbstentwür fe eines Mannes im Fieber
Annika Raapke | 243
A rtefak te
Überlegungen zu einer Nationaltracht
„Social Imaginary“ im Schweden des späten 18. Jahrhunder ts
Mikael Alm | 267
Was macht ein(en) Hausmann?
Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation
Frank Schmekel | 287
Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen
Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuer te
Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen Neuzeit
Beverly Lemire | 311
„Zu Notdurfft der Schreiberey.“
Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei
Meg Williams | 335
„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“
Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im
Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit
Dagmar Freist | 373
Autorinnen und Autoren | 405
Diskurse – Körper – Artefakte
Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung
– eine Annäherung
Dagmar Freist
Diskurse, Körper, Artefakte – diese Begriffe umreißen vertraute Forschungs­
felder, die auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Dis­
kurstheorien gehen seit den späten 1960er Jahren davon aus, dass es nicht
möglich sei, „sich in der Wahrnehmung von Wirklichkeit jenseits der Sprache
bzw. jenseits von Diskursen zu bewegen“,1 Formen des Wahren und Wirk­
lichen werden diskursiv ausgebildet.2 Die Körpergeschichte hat zumindest in
ihren Anfängen gegen „eine kulturalistische Verflüssigung historischer Kate­
gorien“3 für die Unmittelbarkeit des Körpers oder dann doch wenigstens des
Leibes als Ort unmittelbarer Erfahrungen und damit seiner Materialität jen­
seits von Diskursen plädiert,4 und Artefakte „als von Menschen gefertigte[n]
Dinge[n]“ wurden interpretiert als direkte oder indirekte Manifestationen von
Kultur.5 Seit diesen programmatischen Anfängen der jeweiligen Forschungs­
felder und Theorien hat sich das Bild unter dem Einfluss innerwissenschaft­
1 | Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003,
S. 31.
2 | Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2008.
3 | Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik
des Körpers, in: Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte
als Sozialgeschichte, hg. v. Bielefelder Graduiertenkolleg zur Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 16–34, hier S. 19.
4 | Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 1, S. 1–33; vgl. dazu auch Tanner, J.: Wie
machen Menschen Erfahrungen?, bes. S. 19–25.
5 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studien, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur
kulturellen Transformation der Dinge (= Reiseliteratur und Kulturanthropologie, Bd. 8),
Berlin/Münster 2006, S. 9–24, hier S. 12.
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Dagmar Freist
licher und interdisziplinärer Methoden- und Theoriereflexion und der damit
verbundenen Dynamisierung der Konzepte gewandelt und Gemeinsamkeiten
hervorgebracht.6 Es ist nicht das Anliegen dieser Einleitung, diese Verände­
rungen wissenschaftsgeschichtlich in allen ihren Verästelungen nachzuzeich­
nen.7 Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sich diese Theoriediskussion mit
praxis- und subjektivierungstheoretischen Denkstilen berührt und welche Re­
levanz eine solche Annäherung von Denktraditionen und Denkstilen für eine
historische Praxeologie haben kann.
1. D iskurse
Den Ausgangspunkt diskursanalytischer Theoriebildung bildet das Verständ­
nis von Diskursen und diskursanalytischen Verfahren nach Foucault, auch
wenn er nie ein einheitliches diskurstheoretisches Programm verfasst hat.
Teil der Diskursanalyse sind die Bestimmung des Orts einer Reihe von ähn­
lichen Aussagen (im Sinne des historischen, sozialen und kulturellen Aus­
6 | Vgl. dazu die verschiedenen turns in der Geschichtswissenschaft, den Kulturwissenschaften und den Sozialwissenschaften. Zum cultural turn vgl. Bonnell, Victoria/
Hunt, Lynn: Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/Los Angeles 1999; Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart/Lutter, ­C hristina
(Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Berlin/Wien 2001; Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 15–57; zum practice turn Schatzki, Theodore/Knorr-Cetina, Karin/Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/
New York 2001; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken.
Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–
301; Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussions­a n­r e­
gung, in: Sozial Geschichte 22 (2007), 3, S. 43–65; zum performative turn: FischerLichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001; Stäheli,
Alexandra: Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, L­ yotard und
dem ‚pictorial turn‘, Wien 2004; Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische
Quellen, Berlin 2003; zum spatial turn: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial
Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. Aufl., Bielefeld
2009; zum emotional turn vgl. Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie. Eine
Einleitung, in: Ders. (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt
a.M. 2006, S. 7–27.
7 | Für einen Überblick über die Entwicklung der Praxistheorie aus kulturtheoretischen
Ansätzen vgl. Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien; Bachmann-Medick,
­D oris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb.
Aufl., Hamburg 2009.
Diskurse – Körper – Ar tefakte
gangspunkts), die Erfassung diskursiver Regelmäßigkeiten (Generierung von
Ordnungsschemata durch miteinander verbundene Aussagen), Evidenzen
des Denk-, Sag- und Machbaren (durch Wiederholung und Verdichtung be­
stimmter diskursiver Elemente) und schließlich die diskursive Tradition (Ar­
chiv), die sich aus den drei genannten Elementen bildet.8 Die entscheidende
Grundannahme von Diskurstheorien ist die epistemische Unhintergehbarkeit
der Sprache (sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesys­
teme), eine Prämisse, die mit dem „linguistic turn“ in den 1990er Jahren zum
forschungstheoretischen Paradigma ausgerufen wurde.9 Diskurstheorien ge­
hen davon aus, dass es keine Wirklichkeit hinter den Diskursen gibt, die an sich
erfahrbar wäre und der Diskurse gewissermaßen nur übergestülpt wurden.10
Einer der Hauptkritikpunkte gegen diese „Analysen von Aussagensyste­
men“ war die Setzung homogener Diskurskomplexe, die andere Diskurse und
Mehrdeutigkeiten – „ein Geschwätz zwischen den Zeilen“ – ignorierten,11
die Reduktion von Konstruktionen bildlich auf ein verbales Handeln, die De­
thematisierung von Wandel und nach dem Verlust des Subjekts als Akteur die
Verdinglichung von Diskursen zum Status eines Subjekts. Unbelichtet blieb
weiter die Frage nach den Funktionsweisen von Diskursen und nach dem Ver­
hältnis diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. Mit der Einführung des
„Dispositiv“ als „Gesamtheit von Institutionen, Diskursen und Praktiken“,12
bietet Foucault selbst ein Konzept, um die Diskursanalyse durch die Frage der
Wechselbezüge zwischen Diskursen, Institutionen und normierenden Wis­
sensordnungen zu erweitern13 und „Verhältnisse zwischen den diskursiven
Formationen und nichtdiskursiven Bereichen“ sichtbar zu machen.14 Diskur­
se bringen nicht nur die Dinge hervor, die sie bezeichnen, sie generieren zu­
8 | Die interne Dynamisierung des Diskursbegriffs lässt sich nachzeichnen in den drei
folgenden Werken: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M./Berlin/
Wien 1979; ders.: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981; ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987; ders.: Was ist Kritik, Berlin 1992.
9 | Schöttler, Peter: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151; Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse.
10 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31.
Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse, S. 36.
11 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 41–45.
12 | Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge,
Paderborn 2007, S. 101.
13 | Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
14 | Foucault, M.: Archäologie des Wissens, S. 231; vgl. auch Füssel, Marian/Neu, Tim:
Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235, hier S. 217.
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Dagmar Freist
gleich durch diskursive Regelmäßigkeiten die Grenzen des Denk-, Sag-, und
Machbaren und sind damit untrennbar verbunden mit Effekten der Macht
(das „regulierende Ideal“), verursachen Inklusion und Exklusion. Diskursive
Praktiken werden dabei als Äußerungsmodalitäten, Handlungskontexte und
Funktionsweisen von Diskursen verstanden, die sich in die Körper einschrei­
ben und so ihren Wahrheitsanspruch materialisieren. Mit den Begriffen Kritik
und Genealogie gelingt es Foucault, Machtverhältnisse und die Bedingungen
der Möglichkeit von Veränderung beschreibbar zu machen.15
Bei der Frage nach dem Verhältnis von Diskursen und Praktiken hat die
Forschung zunächst die Frage aufgeworfen, ob es um eine „kausale Konstituti­
onsbeziehung“ zwischen Wissen und Handeln – erzeugen bestimmte kulturel­
le Schemata notwendigerweise bestimmte Handlungsmuster – oder eine „Ex­
pressionsbeziehung“ geht – kulturelle Schemata existieren allein dadurch, dass
sie sich in Praktiken „ausdrücken“.16 Praxistheoretisch hat vor allem Andreas
Reckwitz über seine Definition „kultureller Codes“ eine Annäherung von dis­
kurs- und praxistheoretischen Denkweisen vorgenommen,17 auch wenn er an
anderer Stelle die Praxis- und Diskursanalyse als „zwei konträre Fundierungs­
strategien“ dargestellt hat.18 „Code-Ordnungen“, die den Rahmen dafür liefern,
„was praktizierbar erscheint und was nicht“, sind „in sozialen Praktiken enthal­
ten und geben diesen ihre Form bzw. kommen in den Praktiken zum Ausdruck
und ermöglichen diese“.19 Eine nichtdiskursive Praktik ist nach Reckwitz „eine
sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens [...]
und umfasst darin spezifische Formen des Wissens, des know how, des In­
terpretierens, der Motivation und der Emotion“.20 Diskurse als ein Netzwerk
sprachlicher sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesyste­
me sind „selbst nichts anderes als spezifische soziale Praktiken der Produktion
von geregelten Repräsentationen; sie sind Praktiken der Repräsentation, [...]
15 | Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens.
16 | Reckwitz, A.: Transformation der Kulturtheorien, S. 590f.
17 | Vgl. dazu Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006, S. 36 u. 42
und ders.: Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das
kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspek­
tiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 15–45, hier S. 17.
18 | Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008, S. 188–
209, hier S. 191-194.
19 | Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practice Formations, in: Reihe Soziologie/Sociological Series 92 (2009), S. 1–22, hier S. 10.
20 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 36 und Jonas, M.: The Social Site Approach,
S. 11, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
Diskurse – Körper – Ar tefakte
die regeln, was wie darstellbar ist“.21 Praktiken und Diskurse als „umfassen­
de ‚Praxis-/Diskursformationen‘“22 sind durch ihren gemeinsamen Bezug auf
kulturelle Codes, so die Argumentation, miteinander verbunden und institu­
tionalisieren so bestimmte Subjektivierungsweisen in je spezifischen Feldern
(Politik, Wissenschaft). Subjektivierung aus dieser Perspektive bedeutet einen
Unterwerfungsprozess des Einzelnen unter eine kulturelle Ordnung (codes),
„die ihm körperlich und psychisch Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit
‚einschreibt‘“.23 Theodore Schatzki hat kausale Zusammenhänge zwischen
Diskursen und Praktiken negiert: „It is important to emphasize that the re­
lation of expression (manifestation, making present) is noncausal.“24 Es sind
die Akteure selbst, die in praktischen Vollzügen mentale Wissensordnungen
performativ hervorbringen und je spezifische Ausdrucksformen verleihen.25
Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive haben Marian Füssel und Tim
Neu in Anschluss an Foucault und Bourdieu zwar betont, dass Diskurse und
Praktiken ihren eigenen Logiken folgen, dass sich über die Inkorporierung
und Performanz diskursiver Strukturen allerdings ein verbindendes Element
zwischen Diskursen und Praktiken analytisch fruchtbar machen lässt.26 An
die Stelle der Repräsentation von Praktiken in Diskursen bei Reckwitz tritt bei
Schatzki die Erzeugung von Sinn im praktischen Vollzug.
2. K örper
Kulturwissenschaftlich und historisch ausgerichtete Körperstudien haben
sehr früh an diskurstheoretische Überlegungen angeknüpft und den Körper
als eine invariante biologische Realität infrage gestellt. Die Folge war zum ei­
nen eine radikale Historisierung des Körpers verbunden mit der „Erforschung
der Umformung von Leiblichkeit in verschiedenen Epochen, Kulturen und
Gesellschaftsformen“,27 zum anderen eine Rekonzeptualisierung des Körpers
21 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 43, und Jonas, M.: The Social Site Approach,
S. 11f., dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
22 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 44.
23 | Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Individuums, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75–92, hier S. 78, und Jonas, M.: The Social Site
Approach, S. 14, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
24 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human
Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 33.
25 | Ders., Kap. 2.
26 | Füssel, M./Neu, T.: Doing Discourse, S. 22–223.
27 | Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut, Stuttgart 1987, S. 14f.
13
14
Dagmar Freist
als diskursiv hervorgebrachte, soziale Konstruktion; Körpererfahrung und
Kör­per­wahrnehmung werden in dieser Perspektive allein über Diskurse er­
möglicht.28 Durch diese Diskursivierung des Körpers entstand allerdings das
analytische Problem, dass diesen Diskursen vorgängig eine Stofflichkeit (Leib)
existiert, die die Frage nach der Materialität permanent aufwirft.29 Dieses er­
kenntnistheoretische Paradoxon findet sich wieder in der Unterscheidung der
Geschlechterforschung von sex (biologischem Geschlecht) und gender (sozi­
aler Konstruktion von Geschlecht). Genau hier setzt Judith Butler an, wenn
sie kritisch aufzeigt, dass „die Grenzen des linguistischen Konstruktivismus“
erreicht seien, wenn das biologische Geschlecht als unkonstruierbar apos­
trophiert werde30 und fragt zugleich, ob die Möglichkeit bestehe, „die Frage
nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Ge­
schlechtsidentität zu verknüpfen“.31 Jene „ständig wiederholende Macht des
Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und
restringiert“, hat Butler als Ausgangspunkt genommen für ihre „Reformulie­
rung der Materialität von Körpern“.32 Das „regulierende Ideal“ in der Lesart
von Butler ist nicht nur eine regulierende Kraft, bezogen darauf, wie etwas
zu bezeichnen, zu bewerten und zu unterscheiden sei (männlicher Körper,
weiblicher Körper, das biologische Geschlecht), sondern „eine Art produkti­
ve Macht“, die durch ständige Wiederholungen Wahrheiten konstituiert (das
biologische Geschlecht), die sich mit der Zeit zwangsweise materialisieren.33
Ständige Wiederholungen tragen zugleich ein Moment der Instabilität in sich
als die dekonstituierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, was
zu einer potentiell produktiven Krise in der Konsolidierung von Normen (der
biologische Körper) und deren Naturalisierung führen kann.34
Die theoretischen Debatten um den Körper der 1990er Jahre haben nicht
nur polarisiert, sondern auch zu einer Schärfung von Begrifflichkeiten und
Theorieansätzen geführt und das Forschungsfeld über historische Körper­
diskurse hinaus geöffnet. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Theorien des
28 | Ellerbrock, Dagmar: Körper – Moden – Körper-Grenzen, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 52–84, hier S. 53; vgl. auch Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit.
Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000.
29 | List, Elisabeth: Wissende Körper – Wissenskörper – Maschinenkörper. Zur Semiotik der Leiblichkeit, in: Die Philosophin 5 (1994), S. 9–26.
30 | Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1997, S. 27.
31 | Ebd., S. 21.
32 | Ebd., S. 22.
33 | Ebd., S. 21.
34 | Ebd., S. 33.
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