Richter und Beamte in Hessen-Kassel STEFAN BRAKENSIEK Richter und Beamte an den Unterbehörden in Hessen-Kassel Möglichkeiten und Grenzen einer Kolleküvbiographie Eine individuelle Biographie sieht sich immer mit der Frage konfrontiert, welche Geltung ihr über den Einzelfall hinaus eigentlich zukommt. Reprä'sentativität sicherlich nicht, aber vielleicht enthält eine bestimmte, in dieser Form ganz einmalige Konstellation von persönlicher Lage, psychischer Disposition und situationsbezogenem Handeln zeittypische Merkmale. Die Rekonstruktion einer Biographie kann deshalb unter bestimmten Voraussetzungen Hinweise geben auf historische Verhältnisse allgemeiner Natur, vor allem auf die Erfahrungsdimension von Geschichte, auf die Bewältigung gesellschaftlicher Brüche und historischen Wandels. Damit dieses Ziel in erreichbare Nähe rückt, müssen dem historischen Biographen andere Lebensvcrläufc und deren gesellschaftliche Situierung bekannt sein. Woher sollte sonst sein Wissen um das Typische und das Individuelle stammen? Der Mikrokosmos einer einzelnen, dem Historiker wohlbekannten Stadt bildet hierfür einen besonders geeigneten Rahmen. Und umgekehrt können Biographien von einzelnen Bewohnern einer Stadt helfen, einige bis dahin unbekannte und gleichwohl bedeutungsvolle Seiten ihrer Geschichte zu begreifen und darzustellen. Unter glücklichen Umständen kommt der Historiker durch die Untersuchung eines individuellen Lebens wichtigen Aspekten städtischer Lebenswirklichkeit in der Vergangenheit nahe. Solche oder ähnliche Überlegungen liegen den übrigen Beiträgen dieses Bandes zugrunde. An dieser Stelle wird der umgekehrte Weg beschrittcn, der von einer Kollektivbiographie, für die sich in der Geschichtswissenschaft auch der Begriff Prosopographie eingebürgert hai, zu einzelnen biographischen Miniaturen führt. Die sozialgeschichtlich-kollektivbiographischc Methode weist nämlich ebenfalls inhärente Grenzen der Erkenntnis auf, weshalb sie der Ergänzung durch individualisierende Herangehensweisen bedarf. Dem Verfasser sind diese Zusammenhänge deutlich geworden, als er an einer kollektivbiographisch.cn Studie über Richter und Beamte arbeitete. Diese Juristen waren im Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts an den Untcrbehörden in Hessen-Kassel tätig. In der Regel lebten und wirkten sie in Städten, ohne doch Stadtbürger im üblichen Sinne zu sein, waren sie doch die örtlichen Vertreter der landesherrlichen Obrigkeit. 1 Stefan BRAKENSIEK: Fürstendiener, Staatsbeamte, Bürger. Amtsführung und Lebenswelt 45 Am Beispiel der Kollektivbiographie der hessischen Ortsbeamten werden die Chancen und die inhärenten Grenzen der prosopographischen Herangehensweise bestimmt. Eine solche Methodenreflexion sollte man sinnvollerweise nicht abstrakt, sondern gegenstandsbezogen unternehmen. Die Methode wird deshalb anhand eines spezifischen Themas verdeutlicht, der Erfahrung des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs um 1800, wie er sich aus der Perspektive der Richter und Beamten dargestellt hat. In dieser sogenannten „Reformzcit" ereigneten sich radikale Veränderungen in Politik, Recht und gesellschaftlicher Ordnung, die das Berufsleben von Staatsdienern vollkommen veränderten. Um diesen Wandel in eine längere Perspektive zu stellen, werden eingebürgerte allgemeine Prozeßbegriffe, wie Rechtsstaatsentwicklung, Bürokratisierung und Stabsdisziplinierung, benutzt, ihnen wird jedoch der Charakter notwendiger Entwicklungen genommen.2 Sie werden nicht als gegeben postuliert, sondern inhaltlich zu bestimmen versucht. Die Entwicklung erscheint dann zwar als zielgerichtet, aber nicht als linear und unumkehrbar. Es interessiert nicht so sehr das „Was", sondern das „Wie" historischer Prozesse. Daß sich in der Reformära um 1800 ein Bürokratisierungsschub ereignete, ist unstrittig, auf welche Weise er zustandkam, ist schon weniger klar, wie die Akteure ihn gestalteten und welchen Sinn sie ihrem Handeln beimaßen, ist großenteils unbekannt. Wenn von den Akteuren des Bürokratisierungsprozcsses die Rede ist, sind nicht nur der Fürst und die Angehörigen der politischen Sphäre am Hof und in den hauptstädtischen Behörden gemeint, sondern auch die nachgcordneten Beamten in der Provinz, die die Anordnungen der Zentrale umsetzen sollten, und der Ortsbeamten in nicderhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999 (Bürgertum 12). 2 Dabei wird zwar begrifflich an die von Max Weber entwickelte Hcrrschaftssoziologie angeknüpft, ohne daß jedoch seine Prämissen sämtlich geteilt würden. Seinem Ideahyp rationaler, damit zugleich bürokratischer Herrschaft liegt die Vorstellung von Bürokratien zugrunde, die den Zielen eines Souveräns vollkommen unterworfen sind. Ihre Rationalität beruht auf einem Zweck-Mittel-Scbcma: Den Befehlen der Staatsspitze, die allein die Zwecke bestimmt, wird von Seiten der Beamten Gehorsam entgegengebracht. Die Legitimität bürokratischer Herrschaft fußt ausschließlich auf der Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit des Verwaltungshandelns. Diese Prämissen teilt der Vf. nicht. Seiner Ansicht nach bilden Befehl und Gehorsam weder die typischen Kommunikationsformen in Bürokratien, noch tragen Verwaltungen vor allen anderen gesellschaftlichen Institutionen den Pro/,eß der okzidentalen Rationalisierung. Vielmehr ist das Wirken von Bürokratien nur dann angemessen zu beurteilen, wenn sie in Beziehung zu ihrer jeweiligen Umwelt analysiert werden. Der Webersche Bürokratiebcgriff wird lediglich in heuristischer Absicht adaptiert, da er Ricluungskritencn für den Wandel historischer Verwaltungen bietet. Vg], Max WEDER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, S. 124-130, 551-579 u. 825-837. Kritisch hierzu: Niklas LUHMANN: Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate MAYNTZ (Hg.): Bürokratische Organisation, Köln 21971, S. 36-55; Thomas ELLWEIN: Entwicklungstendenzen der deutschen Verwaltung im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwahungswissenschaft, l, 1987, S. 13-54; DERS.: Der Staat als Zufall und Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung m Deutschland am Beispiel Ostwestfalcn-Lippe, Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815-1918, Opladen 1993. Stefan Brakensiek Richter und Beamte in Hessen-Kassel darüber hinaus die von den Maßnahmen Betroffenen, die Bürger und Untertanen. All diese Beteiligten haben durch ihr Handeln - in jeweils unterschiedlichem Maße - auf den Prozeß Einfluß genommen. Die Herausbildung von Strukturen wird als das Ergebnis von Interaktionen zwischen Personen gedeutet. 3 Für eine solche Untersuchung bieten sich die Niederjustiz und die untere Verwaltung auf der Ebene der Ämter in besonderem Maße an. Die Ortsbeamten wurden deshalb in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, weil sich in ihrem Wirken die angedeuteten Probleme bündeln lassen. Von allgemeinen Strukturentwicklungen ausgehend wurde nach den lebensweltlichen Grundlagen für das Handeln von staatlichen Amtsträgern in der Interaktion mit ihrer Umwelt gefragt. Dadurch lassen sich Antworten geben auf die Frage, auf welche Weise Richter und Beamte durch interessengeleitetes und s hingerichtetes Handeln zur Ausgestaltung der staatlichen Strukturen beigetragen haben. Die lebensweltÜche Herangehensweise ermöglicht zudem, die Reichweite und die Grenzen von Bürokratisierungs- und Dis2;iplinierungsprozessen zu bestimmen. Vor allem sollte mit der Fiktion einer reinlichen Trennung zwischen dienstlicher und privater Sphäre aufgeräumt werden. Die Lokalbeamten wurden ausgewählt, weil sie den Grenz- und Testfall für die Bürokratisierungs- und Disziplinierungsbemühungcn jeder Staatszentrale darstellen. Erstens waren sie wegen ihrer räumlichen Distanz zur Residenz und zu den Verwaltungshauptorten nur unter Schwierigkeiten zu kontrollieren. Zweitens sahen sich die Ortsbeamten angesichts des Lebens in einer meist kleinen Stadt, in der es nur eine Handvoll gebildeter Bürger gab, außerbürokratischen Einflüssen in ganz anderem Maße ausgesetzt als die Angehörigen zentralisierter Verwaltungsstäbe. Sie mußten sich mit der Einwohnerschaft ihres jeweiligen Amtsortes auseinandersetzen, vor allem hatten sie sich mit den mediaten Herrschafts trägem, den Adligen, dem Magistrat und dem Pfarrer zu arran- gieren, die in einem Konkurrenzverhältnis zum Vertreter des Fürstenstaats stehen mochten. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Ortsbeamten, sozusagen als Außenposien des neuzeitlichen Staates, ihr Handeln nicht ausschließlich an den Direktiven ihrer Vorgesetzten onemierlen, war ausgesprochen groß. Nun waren die Ortsbeamtcn nicht allein in lokale Konstellationen eingebunden, sondern sie verfügten in der Regel über zahlreiche überörtliche Kontakte. Es ist hinlänglich bekannt, daß die Amtsträgcr in den Territorien des Reichs vielfach weit verzweigten, einflußreichen Familienverbänden entstammten. 5 Auch die Beamtenfamilien in der hessischen Provinz pflegten familiäre und außerfamiliäre Kontakte, die sie untereinander und mit den Spitzen von Armee, Hof und Verwaltung verbanden. Für die Rekrutierung der Amtsträger in hessen-kasselischen Diensten, für deren Berufskarrieren und ihren politischen Einfluß waren diese informellen, außerdienstlichen Kontakte von ausschlaggebender Bedeutung. Man kannte jedoch bisher weder die genaue Beschaffenheit solcher Verbindungen noch die Antwort auf die Frage, warum sich die Fürsten bei der Bestellung ihrer Diener fremden Interessen beugten, die ihren eigenen auf den ersten Blick zuwiderliefen. Die Studie untersucht diese Fragen exemplarisch: Gestalt und Funktion von Familienverbänden, von Frcundschafts- und Freimaurerbünden sowie von Klientelnetzen wurden in ihren Bezügen zur Ortsbeamtenschaft rekonstruiert. 6 46 3 Vgl. Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wisscnsso/.Jologic, Frankfurt 1969. 4 Die Lokalbeamten sind lange ein Stiefkind der historischen Forschung gewesen. Für die Amtmänner war man auf eine Studie angewiesen, die überwiegend normative Quellen nutzt. Siehe Carl-August AGENA: Der Amtmann im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Richter- und Beamtentums, Göctingen 1972. Erst in den letzten Jahren ist eine Veränderung der Situation feststellen. Vgl. Hansgeorg MOLITOR: Vom Untertan zum Administre. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Rcvoiulionskriegeri bis zum Ende der napoleonischen Zeh, Wiesbaden 1980; Rüdiger LENZ: Kellerei und Unteramt DÜsbcrg. Entwicklung einer regionalen Vcrwaltungsinstanz im Rahmen der kurpfäl/.ischen Territorialpolitik am unteren Neckar, Stuttgart 1989; Winfried HELM: Obrigkeit und Volk. Herrschaft im frühneuxei t lieben Alltag Niederbayerns, untersucht anhand archivaüscher Quellen, Passau 1993; Joachim EIBACH: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt 1994; Ulinka RUDLACK: Frühneuzeitliche Staatlichkeit und lokale Herrschaftspraxis in Württemberg, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Jg. 24, 1997, S. 347-376; Michaela HOHKAMP: Herrschaft in der Herrschaft. Die vorder Österreich ischeObervogtciTribergvon 1737 bis 1780, Göttingen 1998; BRAKENSIEK (wie Anm. 1). 47 5 Vgl. Joachim LAMPL: Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Die Lcbcnskreise der höheren Beamten an den Kurhannoverschen Zentral- und Hofbehörden, 2 Bde., Göttingcn 1963; Bernd WUNDER: Die Sozialstruktur der Geheirnratskollcgien in den süddeutschen protestantischen Fürstentümern (1660-1720). Zum Verhältnis von sozialer Mobilität und Briefadel im Absolutismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 58, 1971, S. 145-220; Etienne FRANCOIS: Städtische Eliten in Deutschland zwischen 1650 und 1800. Einige Beispiele, Thesen und Fragen, in: Heinz Schilling u. Herman Diederiks (Hg.): Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit, Köln 1985, S. 65-S3; Luise ScHORN-ScnÜTTü: Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und Braunschweig-Wolffenbütrel, in: ebd., S. 275-336; Heinz SCHILLING: Wandlungs- und Differenzierungsprozcssc innerhalb der bürgerlichen Oberschicht West- und Nord westdeutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, in: Marian BISKUP u. Klaus ZKRNACK (Hg.): Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und l 7. Jahrhundert. Parallelen, Verknüpfungen, Vergleiche, Wiesbaden 1983, S. 121-173; Sigrid Jahns: Der Aufstieg in die juristische FunktionseJite des Alten Reiches, in: Winfried SCHULZE (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 198H, S. 353-387; Luise SCHORN-SCHÜTTE: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen- Kassel und der Stadt Braunschwcig, Gütcrsloh 1996. Für Hessen vgl. Karl E. DEMANDT: Amt und Familie. Eine soziologisch-genealogische Studie zur hessischen Vcrwaltungsgeschichte des 16. Jahrhunderts, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 2, 1952, S. 79-133. 6 Theoretische Grundlage bei Wolfgang REINHARD: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" 48 Stefan Brakensiek Die Spezialisierung der historischen Forschung in eine Frühneuzeitforschung und eine Historiographie zum 19. und 20. Jahrhundert hat es mit sich gebracht, daß bestimmte erkenntnisleitende Fragen um 1800 plötzlich ihre Relevanz zu verlieren scheinen. Diese Feststellung trifft auch zu auf Familien- und Klientelverbände, deren Erforschung sich bei Frühneuzeithistonkern großer Beliebtheit erfreut. Sollte es Napoleon gelungen sein, diese Bande, die die ständische Gesellschaft zusammenhielten, mit einem Schwertstreich zu durchschlagen? In der Forschung reduziert sich für die Jahrzehnte nach l800 der Zusammenhang zwischen Familie und sozialer Stellung zumeist auf die siratifikatonsche Frage nach der sozialen Herkunft von Angehörigen einer bestimmten Gruppe. Von dieser Tradition wurde abgerückt und die gleichen Methoden wurden durchgängig für den Gesamtzeitraum von 1750 bis 1830 erprobt. Kontinuität und Wandel von gesellschaftlichen Strukturen lassen sich so über die politischen Brüche der napolcomschen Zeit hinweg verfolgen. Nun zum engeren Thema, den Möglichkeiten und Grenzen einer Koüektivbiographie: Genau besehen beruht die hier präsentierte Vorgehensweise auf der Kombination von drei Methoden, erstens der klassischen Herangehensweise der Verwaltungsgeschichte, zweitens einer prosopographischen Erfassung der Ortsbeamtenschaft und drittens kurzen biographischen Skizzen, die in den jeweiligen lokalen Verhältnissen situiert wurden. Im Zentrum der Studie steht jedoch die Kollektivbiographie. Mithilfe verwaltungs- und rechtsgeschichthcher Methoden lassen sich Aussagen über normative Veränderungen treffen, über die Ausdiffercnzierung eigenständiger Sparten von Verwaltung, Rechtsprechung und freiwilliger Gerichtsbarkeit, über die Vervielfältigung der Verwaltungsaufgaben, über die Frage der Rcchtskodifizierung und über die Genese des Beamtenrechts. Erst seit der napoleonischen Zeit entwifckelte sich solch cm eigenständiges Dienstrecht, das anschließend zu einem wesentlichen Bestandteil der öffentlich-rechtlichen Sphäre wurde/ Bislang hat sich die Forschung überwiegend damit begnügt, diese normativen Entwicklungen nachzuzeichnen. Die prosopographische Herangehensweise läßt über die Beschreibung hinaus Aussagen zu über das Ausmaß von Verhaltensändertingcn, die sich aufgrund des Wandels der normativen Vorgaben eingestellt haben. Beispielsweise kann der reale Wandel des Karnercsystems bestimmt werden, indem die Veränderungen der beruflichen Laufbahnen im untersuchten Personenkreis als Konzept zur Erforschung historischer l-'ührungsgruppen, München 1979. Vgl. außerdem das Kapitel „Dimensionen der sozialen Verflechtung" bei BRAKENSIEK (wie Anra. 1), S. 276-330. 7 Vgl. dazu Bernd WUNDEK: Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbcamtentums in Bayern und Württemberg (1780-1825), München 1978; Stefan BRAKENSIEK: Die Herausbildung des Beamtenrechts in Hessen-Kassel bis zum Staatsdienstgcsetz von 1831, in: Hessisches Jahrbuch für Landcsgeschichte, 48, 1998, S. 105-146; Kurt DÜLFER: Fürst und Verwaltung. Grund/.üge der hessischen Verwaltungsgescllichte Im 16.-19. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 3, 1953, S. 150-223. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 49 analysiert werden. Mithilfe der prosopographischen Methode lassen sich so die Grenzen des normativen Wandels bestimmen. Am Beginn der Untersuchung stand die Frage nach den Karrieren von Amtsträgern im Dienst der Landgrafen (seit 1S03 Kurfürsten) von Hessen-Kassel. Aufgrund der Angaben m den seit 1764 jährlich erscheinenden Staatskalendern wurden die beruflichen Werdegänge von etwa 2.500 Personen aus der Zeit zwischen 1764 und 1830 rekonsmuert. Als Untersuchungsregion wurde die Provinz Niederhessen ausgewählt, das Umland der Residenzstadt Kassel, mit einem Flächenumfang von knapp 5.000 qkm und etwa 215.000 Einwohnern im Jahre 1789, also etwa von der Größe eines heutigen Regierungsbezirks. 8 Staatskalender haben für die Rekonstruktion von Karriereverläufen Vor- und Nachteile. Ihr wesentlichster Vorteil besteht in der Vollständigkeit, so daß man sicher sein kann, alle zu einem bestimmten Zeitpunkt im Staatsdienst beschäftigten Personen namentlich genannt zu bekommen, seien sie nun Vollzeitbeamte oder lediglich vom Fürsten mit bestimmten Aufgaben betraute Honoratioren. Als Ausgangsquelle für eine Prosopographie sind sie deshalb ideal. Ihre Nachteile liegen auf der Hand: Mit keinem Wort erfährt der Leser eines Almanachs, woher eine in den Fürstendienst eintretende Person stammt, wie alt sie ist, welchen Ausbildungsgang sie absolviert hat und ob sie andernorts möglicherweise bereits eine Berufskarnere durchlaufen hat. Eben so kommentarlos wie ein Beamter nach seiner Bestallung erstmals in einen Staatskalender aufgenommen wird, verschwindet sein Name in einer der späteren Ausgaben wieder, ohne daß wir erfahren, warum. Hat er gekündigt, ist er gestorben, pensioniert, in eine andere Gegend oder Position versetzt oder wegen Amtsvergehen zu Festungshaft verurteilt worden? Will man diese und andere Fragen beantworten, muß man zusätzliche Materialien heranziehen. In diesem Fall waren das Bestallungsurkunden, Personalakten, genealogische Arbeiten, die Kirchenbücher von Kassel, Universitätsmatrikeln sowie Nachlässe, Biographien und Veröffentlichungen von Beamten. Eine besonders wichtige Quelle stellt die zeitgenössische 21-bändige „Hessische Gelehrtengeschichte" dar.9 Das 8 Folgende Staaiskalender wurden ausgewertet: Hochfürstlich Hesien-Casselscher Staatsund Adress-Calender auf das Jahr Christi [1764-1787], Kassel 1764-1787; Landgräflich Hessen-Casseüscher Staats- und Adress-Calender auf das Jahr [1788-1802], Kassel 1788-1802; KurHessischer Staats- und Adress-Kalender auf das Jahr [1803-1806], Kassel 1803-1806; Almanach royal de Westphalie, Kassel 1810-1813; Kur-Hessischer Staats- und Adress-Kalender auf das Jahr [1814-1819], Kassel 1814-1819; Handbuch des kurhessischen Miiitair-, Hof- und Civil Staats auf das Jahr 1820, Kassel 1820; Kurhessisches Staats- und Adress-Handbuch auf das Jahr [1822-1830], Kassel 1822-1830. 9 Friedrich Wilhelm STRIEDER (Hg.): Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, 18 Bde., Marburg 1781- 1819; Karl Wilhelm JUSTI (Hg.): Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten-, Schriftstellerund Künstler-Geschichte vom Jahre 1806 bis zum Jahre 1831, Marburg 1831; Otto GERLAND (Hg.): Grundlage y_\i einer Messischen Gelehrten-, Schriftsteiler- und Künstler-Geschichte vom Jahre 1831 bis auf die neueste Zeit, 2 Bde., Kassel 1863 u. l S68. 50 Stefan Brakensiek Amtshandeln von ausgesuchten Beamten wurde auf der Grundlage von Protokollimd Rcchnungsbüchern sowie einzelnen Verwaltungsakten rekonstruiert.10 Eine prosopographische Studie läßt sich für 2.500 Personen nicht bewältigen, so daß eine sinnvolle Auswahl getroffen werden mußte. In diesem Fall handelt es sich um die 234 Richter und Verwaltungsbeamten, die auf der untersten Ebene von Rechtsprechung und Verwaltung tätig waren. Bis zur Okkupation Hessen-Kassels durch Napoleon im Winter 1806/07 nannte man diese Lokalbehörden „Ämter", die dort tätigen Beamten „Amtmänner". Die Ortsbeamten waren kleine Despoten, die innerhalb ihres Sprengeis - meist einer Kleinstadt und den umliegenden Dörfern - Recht sprachen m allen Zivilsachen, als Untersuchungsrichter in allen Strafsachen tätig wurden und in Zusammenarbeit mit den örtlichen Honoratioren, also dem Stadtrat und den Dorfvorstehern, die Ordnungs- und Wohlfahrtspolizei regelten. Anders als in Preußen, und auch anders als im Frankreich des Ancien Regime, war in Hessen-Kassel etwa 90% der Landbevölkerung unmittelbar der Gerichtsbarkeit von landesherrlichen Amtern unterworfen, und lediglich ein Zehntel der Dorfbewohner unterstand in erster Instanz Patrimonialgerichten des Adels. Die große Wichtigkeit der Amtmänner sollte deutlich geworden sein: Außerhalb der Residenz verkörperten sie den frühmodernen Staat. Dieser Territorial Staat trug das altertümliche Gepräge eines Patnmonmms im Besitz der Dynastie, mit verhältnismäßig simplen, den Verhältnissen jedoch angemessenen Verwaltungsstrukturcn. Die Vorgehensweise der Kollektivbiographie ist im Kern eine analytische. In die Analyse eingewoben sind allerdings zahlreiche biographische Streiflichter mit erzählendem Charakter. Diese individualisierenden Passagen dienen zwei Zwecken, einem stilistischen und einem crkenntnistheoretischen. Zunächst einmal bringen sie Abwechslung in die Darstellung und lassen die Verhaltensweisen des untersuchten Personenkreises am Einzelfall lebendig hervortreten. Ausgehend von der Überlegung, das einzelne Leben als real gewordene Möglichkeit zu begreifen, verfolgen die biographischen Miniaturen jedoch auch einen systematischen Zweck. Die Prosopographie hat nämlich dort ihre Grenzen, wo es um konkretes Verhalten und um die Bedeutung geht, die die Beteiligten ihrem Handeln zumessen. Menschen sind niemals vollständig sozial determiniert, sondern verfügen immer über einen Freiheitsspielraum. Selbst ein völlig einzigartiges Verhaken läßt sich jedoch sinnvoll historisch analysieren. Wenn die Begleitumstände und die Reaktionen des sozialen 10 Die wichtigsten Fundorte: Staatsarchiv Marburg, Bestand 5 (Hessischer Geheimer Rat), Bestand 16 I (Kurhessischcs Ministerium des Inneren, Generalrcposmir), Bestand 17 II (Landgräfliche Regierung Kassel, Herrschaftliche Rcpositur), Bestand 17a (Kurhessische Regierung Kassel, Generalrepositur), Bestand 17d (Landgraf l i ehe Regierung Kassel, Familienrepositiir), Bestand 75.3 (Königreich Westphalen, Ministerium der Justiz), Bestand 75.5 (Königreich Westphalen, Ministerium des Inneren), Bestand 76a (Präfekturakten des Fulda-Departemems), Bestand 77a (Präfckturakten des Werra-Dcpartcmcnt.s), Bestand 250 (Kurhcssischcs Justizministerium), Bestand 340 (Fa.milicnarchive und Nachlässe), Bestand Protokolle II, Bestand Kopiare, Nr. 152-18C (Bestallungen). Richter und Beamte in H essen-Kasse l 51 Urnfelds auf diese Aktivität überliefert sind, wirft das konkrete Handeln ein Schlaglicht auf das Feld zeitgenössischer Handlungsmöglichkeiten. 11 Eine Kollektivbiographie trennt zunächst familiäre Verbindungen, Karriercverläufe und politische Überzeugungen analytisch m einzelne Faktoren und setzt sie anschließend zu statistisch nachweisbaren, regelmäßig vorkommenden Mustern im Zeitverlauf zusammen. Man verfügt dadurch über Maßzahlen, die Aussagen zulassen über den Grad der Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Faktorenkornbination.12 So werden die Struktiirbedingungen des Handelns offengelegt. Eine einzelne Handlung wird dadurch jedoch weder vorhersagbar noch ist sie auf diese Weise vollständig zu deuten. Will man sich auch den krisenhaften Momenten einer Gesellschaft nähern und die Motive der Beteiligten rekonstruieren, reicht das prosopographische Instrumentarium deshalb nicht aus. Nur in der Konkretheit einer bestimmten Biographie lassen sich die in der Prosopographic analytisch getrennten Faktoren so zusammenführen und diskutieren, daß sie mehr sind als die Summe von Einzehatsachen und Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Mit etwas Glück stellt sich vergangener lebensgeschichtlicher Sinn her oder auch dessen Gegenteil, ein biographischer Bruch, der trotzdem nicht völlig kontingent sein muß. Einzelbeispiele sind per definitionem nicht typisch; sie können gleichwohl erkenntnisfördernd wirken, m dem Sinne, daß sie eine gelebte Handlungsalternative vor Augen führen. Diskutiert im Zusammenhang mit dem Typischen, läßt die individuelle Biographie aufblitzen, in welcher Weise sozialer Wandel und soziales Handeln aufeinandertreffen. Das ist ein hoher Anspruch an eine historische Biographik. Häufig geraten Lebensdarstcllungen ins naive Psychologisieren. Dem Leser werden unkontrollierbare Deutungsangcbotc gemacht, die psychoanalytisch gesprochen nichts anderes sind, als eine Übertragung des Historikers auf seinen Gegenstand. Bis zu einem ge11 Zu den erkenn m is theoretischen Problemen und möglichen Lösungen vgl. Andreas GESTRICH: Sozialhistorische Biographieforschung, in: DERS. (Hg.): Biographie - sozialgeschichtlich, Göttingen 1988, S. 5-28; Hedwig RÖCKELKIN: Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur „neuen historischen Biographie", in: DIES. (Hg.): Biographie als Geschichte, Tühingcn 1993, S. 17-38; Jürgen SCHLUMBOHM: Mikrogeschichtc -Makrogeschichie. Zur Eröffnung einer Debatte, in: DERS. (Hg.): Mikrogeschickte - Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? Göttingcn 1998, S. 7-32. Dort auch das fulminante Plädoyer für einen „relational realism" in der Geschichtsschreibung: Charles TILLY: Micro, Macro, or Megrim? ebd.: S. 35-51. 12 Lawrence STONE: Prosopography, in: Daedalus, 100, 1971, S. 46-79; Neidhart BULST: Zum Gegenstand und zur Methode von Prosopographie, in: DERS. u. Jean-Pierre GENET (Hg.): Medieval Lives and the Fiistorian. Studies in medieval prosopography, Kalarnazoo 1986, S. 1-16; Francoise AUTRAND (Hg.): Prosopographie et genese de l'etat moderne, Paris 1986; Heinrich BEST: Rcconstructing Political Biographies of the Past: Configurations, Sequences, Timing and the Impact of Hisiorical Change, in: Helene MII.I.ET (Hg.): Informatique et prosopographie, Paris 1985, S. 247-260; Wilhelm Heinz SCHRÖDER: Kollektive Biographien in der historischen Sozialforsehung. Eine Einführung, in: DERS. (Hg.): Lebenslauf und Gesellschaft. Zum Einsatz von kollektiven Biographien in der historischen Sozialforschung, Stuttgart 19K5, S. 7-1 7. 52 Stefan Brakenstek wissen Grade ist das unvermeidlich. Er bleibt auf schriftliche Quellen angewiesen, die in der Regel mehrere Sichtweisen zulassen, und die vor allem das meiste im Ungewissen lassen. Nun könnte man meinen, dies sei Anlaß genug, von historischen Biographien ganz Abstand zu nehmen. Damit würde man jedoch eine Quelle der erkenntnisfördernden Inspiration zum Versiegen bringen. Deshalb wurde in der vorgestellten Studie der Versuch unternommen, m biographischen Skizzen jeweils Deutungsangebote für einen H and l ungs Zusammenhang am Beispiel eines einzelnen Ortsbeamten zu liefern. Mit den Ergebnissen der Kollektivbiographie im Gepäck ließ sich der schwierige hermeneutische Weg zuverlässiger durchschreiten als ohne sie. Das Verfassen der biographischen Miniaturen erfolgt hierdurch in methodisch kontrollierter Weise, und die empirische Grundlage für die Urteile des Autors werden für den Leser leichter nachvollziehbar. Es besteht Konsens darüber, daß sich nach 1800 die deutschen Territorien bei Strafe der Auslöschung dazu gezwungen sahen, durch Modernisierung der Finanz-, Heeres- und Behördenverfassung sowie durch Gesellschaftsreformen auf die machtpolitische Herausforderung durch das napoleonische Frankreich zu reagieren.13 Der hessische Kurfürst fand dazu keine Gelegenheit mehr. Da er als ein Anhänger Preußens galt, schlug Napoleon sein Territorium dem neugebildctcn Königreich Westphalen zu. Dieser Musterstaat stand unter der Regentschaft seines jüngsten Bruders Jeröme. Hessen-Kassel und seine Beamtenschaft gerieten für die Dauer von sechs Jahren in den Wirkungsbereich des französischen Modells von Staat und Gesellschaft. Nur vergleichbar mit dem Großherzogtum Berg und dem Rheinland durchlief Westphalen einen Reformweg, der radikalere Züge trug als in Preußen und in den übrigen Rheinbundstaaten. Die wcstphälischcn Reformen umfaßten die Vereinheitlichung des Rechts, die Reorganisation der Staatsverwaltung, die rechtliche Gleichstellung der männlichen Einwohner als Voraussetzung für die Schaffung einer Staatsbürgergcsellschaft, die Beseitigung der alten Feudalordnung sowie die Gewährung einer Verfassung. Diese KonstUutionsaktc sah eine begrenzte politische Partizipation der Großgrundbesitzer, bedeutenden Kaufleute und einiger prominenter Gelehrter vor.14 13 Zum Forschungsstand zur Reformzeit vgl. Walter DeMEL: Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Absolutismus, München 1993 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 23). 14 Zur wcstphälischcn Refurmpolitik siehe Helmur BEROING: Napoleonische Herrschaftsund Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-1813, Göttingen 1973; DERS.: Das Königreich Westfalen als Modellstaat, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, 54, 1985, S. 181-193. Die beste Darstellung der Ercigmsgcschichte bietet weiterhin Arthur KLEINSCHMIDT: Geschichte des Königreichs Westfalen, Gotha 1893. Zur Bürokratieentwicklung siehe Johannes WEIDEMANN: Neubau eines Staates. Staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung des Königreichs Westphalen, Leipzig 1936. Von rcchtshistorischer Seite vgl. Werner SCHUBERT: Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zivilrecht, Gerichtsverfassungsrecht und Zivilprozeßrecht, Köln 1977. Zur Adaption des Code Napoleon siehe Elisabeth FEHRENBACH: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaateji, Göttingen 1974. Die Finanzreform schildert Richter und Beamte in Hessen-Kassel 53 Die westphähsche Reformzcit bedeutete für Hessen-Kassel eine extreme Beschleunigung des Wandels von Staat und Gesellschaft, dem nach dem Wiener Kongreß ein fast ebenso abruptes Abbremsen folgte. Restauration war hier kein leeres Wort., auch wenn einige Reformen, so beispielsweise die Abschaffung der Gerichtsbarkeit des Adels und der Städte, überdauerten und viele politische und gesellschaftliche Prozesse unumkehrbar geworden waren. Diese wcchsclvollc Geschichte betraf die Nicderjustiz und die untere Verwaltung in ihrem Kern und bildete eine prägende Erfahrung für mindestens zwei Generationen von Richtern und Verwaltungsbeamten. 15 Was hat nun die Studie zu den hessischen ürtsbeamren im Zusammenhang mit Fragen nach dem großen Umbruch in der Reformzeit um 1800 erbracht? Die Reformen wirkten auf die Gruppe der Ortsbeamten unmittelbar ein: Sie veränderten nicht nur deren Rekrutierungs- und Laufbahnmuster, sondern betrafen auch ihr Selbstvcrständms und hatten Auswirkungen bis hinein ins Familienleben. Der Aufbau von komplett neuen Instanzenzügen, wie es das westphähsche Regime 1807/08 unternahm, bedeutete einen wichtigen Einschnitt im Berufsleben der kurhessischen Ortsbeamten. Die Restauration des Kurstaates nur wenige Jahre später machte auch die Reformfortschritte innerhalb der Staatsverwaltung zum Großteil wieder rückgängig. Das Organisationsedikt von 1821, das Kurfürst Wilhelm II. bald nach Antritt seiner Regierung erließ, bildete den nächsten gravierenden Umschwung zum neoabsolutistischen Verwaltungsstaat. Diese behördeiipolinsche Achterbahnfahrt veränderte die Struktur der Unterbehörden, das Sozialprofil ihres Personals und die Mentalität der Ortsbeamten. 10 Diese Behauptung soll belegt werden anhand der Veränderungen der Nachwuchsrckrutierung. Im 18. Jahrhundert bildete eine Amtmanns-Stellung die Endstation einer Junstenlaiifbahn auf mittlerem Niveau. Die Ortsbeamten des Ancien Regime stammten mehrheitlich aus Beamtenfamilien der Landgraf Schaft. Bevor sie in den landesherrlichen Dienst traten, hatten sie bereits mehrere Jahre hindurch als Anwälte oder Justitiare gewirkt. Sie wurden erst im Alter von 30 bis 40 Jahren bestallt, wenn sie als gestandene „Geschäftsleute" galten, und verweilten dann meist bis zum Ende ihres Lehens im selben Amtstädtchen, wohin sie der Landgraf berufen hatte. Für die Herrschaftspraxis hatte diese Rekrutierungsweise weitreichende Folgen. Die Vertrautheit der Amtsträger mit ihrem Umfeld bereitete den Boden für den vorherrschenden patrimomalen Herrschaftsstil, eine Art brutaler GemütlichHans-Peter ULLMANN: Finanzrcformen im Königreich Westfalen 1807-1813, in: DKKS. u. Winfried SPEITKAMP (Hg.): Konflikt und Reform. Festschrift für Helmut BHRDING, Göttingen 1995, S. 118-135. Die Rolle der westfälischen Vertretungskörperschaften analysiert Herbert OBENAUS: Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia, 9,1981, S. 299-329. '5 Winfried SPEITKAMP: Restauration als Transformation. Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1813-1830, Darmstadt 1986. 16 Zur Geschichte der Unterbehörden vgl. BRAKILNSIEK (wie Anm. I), S. 49-57. Zu ihrem Aufgabenregime siehe ebd., S. H9-158. 54 Stefan Brakensiek keit, oftmals begleitet von einer gewissen Kumpanei zwischen den Vertretern der Obrigkeit und sozial hervorgehobenen Untertanengruppen. 17 Die Anstellung eines Amtmanns beruhte meist auf der Fürsprache eines Verwandten oder eines sonstigen Gönners, der eine bedeutende Stellung im landgräflichen Dienst einnahm. Selbst wenn ein Kandidat nur über verwandtschaftliche Kontakte in der Provinz verfügte und sich kein Fürsprecher aus den allerhöchsten Sphären fand, rangierte er vor Mitbewerbern, die nicht aus dem Territorium stammten oder die über keinen Anhang innerhalb der fürstlichen Verwaltung verfügten. Dieses Phänomen ist für die Dienerschaft m vielen Reichsterritorien ähnlich beschrieben worden, ohne daß eine befriedigende Erklärung dafür gegeben wurde. Der empirische Befund bietet allein noch keinen Hinweis darauf, was die Fürsten und ihre Ratgeber dazu veranlaßte, die Söhne, Neffen und Schwiegersöhne ihrer Amtsträger bei der Nachwuchsrckrutierung zu bevorzugen, zumal diese Praxis von Zeitgenossen vehement kritisiert wurde. Hinweise finden sich in Bewerbungsschreiben von Juristen, die, Erwartungen und Haltungen ihres künftigen „Brotherren" antizipierend, den eigenen familiären Hintergrund als Argument für sich ins Feld führten. 18 Selbstverständlich verweisen die Bewerber auf ihre juristischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten. Diese uns vertrauten Leistungskriterien bilden jedoch nur den Hintergrund, vor dem die Anwärter ihr zentrales Argument entfalten, das für ihre Anstellung spricht: ihre familiäre Herkunft närnlich. Gutachten der Regierung Kassel 1 * und die Memoiren von Landgraf Wilhelm IX.20 legen nahe, daß der Fürst und die maßgeblichen Personen in seinem Umfeld ähnlich urteilten. Nichts konnte sie dazu zwingen, hauptsächlich Bewerber aus dem eigenen Lande und dann auch noch solche mit bestimmtem familiären Hintergrund auszuwählen. Und trotzdem stand der Ämterpatronage aus Familienrücksichten Tür und Tor offen. Es ist evident, daß diese Rekrutierung des Beamtennachwiichses den Fürsten nützlich schien und ihren Ansichten über das Wesen einer gottgefälligen, wohlgeordneten und der Gerechtigkeit genügenden Landeshernschaft entsprach. Die bereitwillige Hinnahme des Nepotismus bedeutete nicht, daß Qualitätsstandards vollständig außer Kraft gesetzt wurden, sondern daß die fachliche Schulung von Bewerbern lediglich eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Anstellung im hessischen Dienst darstellte. Die funktionale Rationalität dieser Form der Rekrutierung liegt auf der Hand: Ein angehender Amtmann, der aus einer heimischen Juristenfamilie stammte, kann17 Zu den. Karrieremustern von Ortsbeamten siehe ebd., S. 85-118. 1S Ein typisches Bewerbungsschreiben aus dem Jahre 1764 ist abgedruckt bei Hellmuth KLEMM: Otto Christian Hattenbach's, des fürstlich Hessen-Rotenburglschen Amtmanns zu Sontra, und seiner Eheliebsten Luisa Katharina Schulzin Nachkommen, HciJbronn 1938, S. 10. 19 Staatsarchiv Marburg, Bestand 17 II (Regierung Kassel, Herrschaftliche Rcpositur), Nr. 134,135, 137,159,160, 161,279,291,293,660. 20 Rainer VON HESSEN (Hg.): Wir Wilhelm von Gottes Gnaden, Die Lcbcnserinnerungen Kurfürst Wilhelms 1. von Hessen 1743-1821, Frankfurt 1996. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 55 te Land und Leute, verstand die Mundart, war mit dem Partikularrecht vertraut und von klein auf in die juristische Praxis eingeweiht. Außerdem bot das Aufwachsen m einem Beamtenhaushalt günstige Voraussetzungen zur Tradierung eines spezifischen Flerrschaftswissens, das von der Aneignung des esprit de corps über das Öffentliche Auftreten bis zur körperlichen Erscheinungsweise und unwillkürlichen Gesten reichte. Diese Aneignung von Herrschaftwissen im Rahmen der Primärsozialisation hat die Wahrscheinlichkeit des Gelingens für sich. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß ein nepotisches oder klientehstisches Rekrutierungssystem nicht von vornherein weniger erfolgreich - im Sinne von Qualitätssicherung sein muß als cm System, das auf emem ausgefeilten Prüfungswesen beruht. Die theoretisch konkurrierenden Normhonzontc des Leistungsprinzips und des Geblütsprmzips konnten m der Praxis zumindest teilweise harmonisicrt werden.21 Soweit der funktionale Sinn nepotischer Rekrutierung, damit er historische Realität werden konnte, bedurfte es sozialer Praxis, d.h. individuell gemeinten Sinns. Reine Nützhchkcitserwägungen spielten bei der Rekrutierungspolitik sicher eine große Rolle; sie wurden jedoch überlagert von den Traditionen des hausväterlichen Regiments.23 Im Selbstverständnis der hessischen Landgrafen handelte es sich bei den Beamten nicht um die Dienerschaft eines abstrakten Staatswesens, sondern um ihre personlichen Diener, um Mitglieder des fürstlichen Großhaushalts. Das Wohl solcher Haushaltsangehönger lag ihnen am Herzen. Die Versorgung der Nachkommenschaft von verdienten Beamten, ihre Ausstattung mit angemessenen Amtspositionen, entsprach einer Haltung, die darauf setzte, daß die über Generationen gewachsene Bindung zwischen der Dynastie und bestimmten Beamtenfamilien ein hoch entwickeltes Loyahtätsempfmden jedes einzelnen Dieners hervorbringen werde. Neben den Angehörigen der von alters her maßgeblichen Familien gab es immer auch eine kleine Zahl von Außenseitern, die es schaffte, eine Amtmannstelle zu ergattern. Diese sozialen Outsider, zum Beispiel begabte Söhne von Dorfpfarrern oder Schreibern, zählten meist zur Klientel eines Adligen. Ehrgeizige junge Männer sahen sich mangels familiärer Verbindungen gezwungen, vornehme Fürsprecher zu finden. Seit dem spaten IS. Jahrhundert erfolgte die Patronage oftmals im Rahmen des Freimaurer-Zusammenhangs, mit wichtigen Konsequenzen: Eine Verbindung, die auf der gemeinsamen Logenzugehörigkeit von Patron und Klient beruhte, unterschied sich vom althergebrachten Klientelismus sowohl der Form nach als auch durch ihren politischen Gehalt. Der aufgeklärte Gönner in Kassel suchte in den „patriotischen" Ortsbeamten Gefolgsleute, die nicht nur seine Machtambitionen stützten, sondern darüber hinaus durch innerbehördliche Berichte und durch Pu21 Zur sozialen Herkunft der Ortsbcamten und zu ihrer Sozialisation vgl. BRAKENSIEK (wie Anm. 1), S. 194-219 u. S. 243-275. 22 Paul MÜNCH: Die „Obrigkeit im Vaterstand". Zur Definition und Kritik des „Landcsvatcrs" während der Frühen Neuzeit, in: Daphms, 11 (1982), S. 15-40. 56 Stefan Brakensick blikationen die Notwendigkeit von Reformen untermauerten und durch einzelne gelungene Reformansätze in ihren Sprengein deren allgemeine Realisierbarkeit nachwiesen. 23 Was veränderte sich in der napoleonischen Zeit? Hessen-Kassel wurde dem 1808 gegründeten Königreich Westphaieii zugeschlagen, das nach dem Wunsch seiner Schöpfer ein Musterstaat werden sollte, in dem die gesellschaftspolitischen Prinzipien der Französischen Revolution auf deutschem Boden verwirklicht würden. Jn den sechs Jahren seiner Existenz stellten die Institutionen des Königreichs Westphaien getreue Kopien französischer Vorbilder dar. Die neuen Herren traten mit dem Anspruch an, eine mustergültige Justiz und Verwaltung zu formen, in der ausschließlich Talent und Verdienst zu Amt und Würden verhelfen sollten. Nach französischem Vorbild führte man eine eng gestaffelte Folge von Ämtern ein, die Laufbahnen bildeten, auf denen sich ein Bewährungsaufstieg rasch vollziehen konnte. Je höher jemand innerhalb der Hierarchie aufstieg, desto strengeren Kriterien hatte er zu genügen, wobei das Alter des Amtsträgers und die regelmäßig erfolgenden Berurteiltingen durch seine Vorgesetzten den Ausschlag gaben, während Prüfungen nur beim Eintritt in den Staatsdienst eine Rolle spielten.24 Soweit die Rekrutierungstheorie, die Praxis sah freilich anders aus. Durch die neu eingeführte Trennung von crstmstanzhcher Rechtsprechung und lokaler Verwaltung vermehrte sich die Zahl der Staatsämter für Juristen ganz erheblich. Da man diesen großen Behördenapparat innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden stampfen mußte, stellte man bevorzugt die alten Kämpen im hessischen Justiz- und Verwaltungsfach an. Nicht genug damit, der plötzliche Stellenausbau, der mit einer Verdoppelung der Stellen innerhalb der Ortsverwaltung und niederen Justiz einherging, veranlaßte die neuen Herren in Kassel dazu, auch auf Patrimonialrichter, Anwälte und Honoratioren aus den alten Stadträten zurückzugreifen. Konnte man im Falle der Richter noch auf akademisch geschultes Personal zurückgreifen, erschöpfte der Ausbau einer Verwaltung bis hinab auf Ortsebene das Reservoir der heimischen Juristen und Kamcrahsten. Bei der Besetzung der Maineamter griff 23 Patronage und Klientelismus sind wichtige Forschungsgegenstände im mediterranen Raum und in Frankreich. Vgl. Rolartti MOUSNIER: Les fidelites et les chenteles en France aux XVP, XVIIe, et XVIIIe siecles, in: HSstoire sociale, 15 (1982), S. 35-46. Die klassische Definition von Patronage findet sich bei Sharon KETTERING: The Historieal Development of Poliiical Clienielism, in: Journal of Intcrdisciplmary History, 18/3 (1988), S. 419-447. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. Gunncr LIND: Great Fricnds and Small Fricnds. Chcntciism and thc Power Elite, in: Wolfgang REINHARD (Hg.): Power Elites and State Building, Oxford 1996, S. 123-147. Zum Patronagesystem in Hessen-Kassel siehe BKAKENSIEK (wie Anm. 1), S. 276-330. Dort auch Nachweis der Literatur zu den Freimaurerlogen in Deutschland. 24 Königliches Dekret vom 7. Dezember 1807, wodurch die Publikation der Konstitution des Königreiches Wcstphalen verordnet wird, in: Bulletin des Lois et des Decrets du Royaume de Wesrphalie, l (1808), S. 3-31; Königliches Dekret vom 27. Januar 1808, welches die Verfassung der Gerichsthöfe enthalt, ebd.: S. 282-311. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 57 man deshalb auch auf Personen ohne Universitätsstudium zurück, auf pensionierte Offiziere, Stadtschreiber, Steuereinnehmer und die alten Bürgermeister. 25 Gleichwohl blieb nicht alles einfach beim Alten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert fanden sich im engen Gehäuse des hessen-kasselischen Behördenapparates eine ganze Reihe Amtsträger, die im Sinne eines „aufgeklärten Absolutismus" auf Reformen drängten. Die Stunde dieser „Patnoten" kam im Gefolge des Friedens von Tilsit im Juli 1807. Eine kleine, hochkarätige Gruppe von Justiz- und Vcrwaltungsfachleuten schuf die Behörden des neuen Königreichs Westphaien. Selbstverständlich waren sie dabei auf die Mitwirkung der alten Eliten angewiesen. Was lag näher, als sich der Hilfe von Personen zu vergewissern, die die französische Sprache beherrschten und denen der Ruf von Weltoffenheit und Reformbcreitschaft vorauseilte? Man kann deutlich erkennen, daß in dieser ersten Reorgamsationsphasc die mnerhessischen B innen Verflechtungen an Bedeutung verloren, während räumlich und sozial weiter gespannte Kontakte der Beamten ganz neue Relevanz gewannen. Wer Mitglied in einer Freimaurerloge oder Sozietät war, verfügte häufig über solche Kontakte, die sich über Hessen hinaus auf das gesamte Gebiet des neuen Königreichs erstreckten. Aus den Vorgängerstaaten Westphalens strömten zahllose Spitzenbeamte nach Kassel, um sich den neuen Herren anzudienen. Gelang es ihnen zu reüssieren, sahen sie sich nach bekannten Mitstreitern um, wodurch sich erhebliche StartvortcÜc für die hessischen Juristen ergaben, die solche Kontakte aufleben lassen konnten. 26 Diese Zusammenhänge lassen erkennen, weshalb einige Ortsbeamte in dem historischen Moment einer Staats g ründung einen fulminanten Karriereschub erlebten. Man sollte jedoch festhalten, daß es sich dabei um Ausnahmefälle handelte. Die meisten Amtmänner und die Richter an den Patnmomalgerichten standen dagegen im Jahr 1807 vor Schwierigkeiten, weil ihre berufliche Zukunft und ihre materielle Absicherung in der Schwebe blieben. Sicherheit über ihr weiteres Schicksal erlangten die meisten von ihnen erst im Frühjahr 1808, als die Richter an den Tribunalen erster Instanz und die Friedensrichter bestallt wurden. Um zum Kreis der Gücklichen zu gehören, sahen sich viele hessische Juristen veranlaßt, alle Beziehungen spielen zu lassen, die ihnen zu Gebote standen. Die Patrimonialrichter befanden sich dabei in einer mißlicheren Lage als die Amtmänner, da diese als die maßgeblichen Figuren der alten Ortsverwaltung bis zum Inkrafttreten der neuen Behördenorganisation weiteramtierten und im Rahmen dessen auch Gutachten zu erstatten hatten, die über die Fähigkeiten und Leistungen der bisherigen Kollegen und Untergebenen befanden. Auf diese Weise wirkte das alte Personal unmittelbar mit bei der Bestellung des neuen, ein Vorgang, der sich auf allen Ebenen der Behördenhierarchie zutrug. 37 In ihrem Bemühen, die Unwägbarkeiten des politischen Systemwechsels auszugleichen, aktivierten die hessischen Provinzjuristen in erster Linie ihre alten fami25 BRAKENSIEK (wie Anm. 1), S. 92/93. 26 Ebd.: S. 312-315. 27 Zum Rekruticrungs- und Auswahlvertahren siehe: Staatsarchiv Marburg, Bestand 77a 58 Stefan Brakensiek liären, beruflichen und klientehstischen Verbindungen, bemühten sich darüber hinaus aber auch um neue Kontakte. Sie gingen dabei die Angehörigen der entstehenden Vertretungskörperschaften um Hilfe an oder wandten sich ratsuchend an die Präfekten als die neuen starken Männer in der Provinz. Einer kleinen Minderheit gelang es, sich frühzeitig abzusichern durch Verbindungen zur Besatzungsarmee oder zur Spitze der neuen Ziviladministration. Etwa zwei Fünftel der Ortsbeamten organisierten ein unspektakuläres Hinübergleiten m die neuen Verhältnisse: Man stellte sie in ähnlicher Position wie zuvor an, oftmals am selben Dienscori. Bei einem Sechstel der Beamten spielten familiäre Verbindungen die ausschlaggebende Rolle, wenn z.B. nahe Verwandte Abgeordnete im jeweiligen Distriktsrat waren, dem das Vorschlagsrecht für die Friedensrichter zustand. Adelspatronage spielte ebenfalls bei einem Sechstel eine Rolle, vor allem bei den vormaligen Justitiaren an Patnmonialgenchten. Zahlreiche Rittergutsbesitzer gehörten als Höchstbesteuerte einem Distriktsrat an und waren dadurch in die Lage versetzt, ihre ehemaligen Pnvatrichter unmittelbar zu protegieren, um sich für geleistete Dienste erkenntlich zu zeigen und weil sie hoffen mochten, ihren Einfluß auf die Rechtsprechung über ihre Hintersassen weiterhin geltend machen zu können. Die neuaufgebaute Klientel der Präfekten und Unterpräfekten im Kreis der Ortsbeamten bestand aus mindestens einem Fünftel. Nach der Schlacht von Leipzig wurde das Kurfürstentum Hessen-Kassel unter der Herrschaft seines angestammten Hauses wiederhergestellt. Der greise Fürst Wilhelm I. kehrte im Winter 1813/14 aus dem Prager Exil nach Kassel zurück und setzte sein autokratisches Regiment bis zu seinem Tode 1821 fort. Nahezu alle napoleonischen Errungenschaften in Justiz, Verwaltung und Gesellschaftspolitik wurden zurückgenommen. Lediglich solche Teilreformen blieben erhalten, die geeignet waren, die Steuereinnahmen zu vergrößern oder den unmittelbaren Zugriff des Landesherrn und seiner Verwaltung auf die Untertanen zu erleichtern. Entsprechend blieb es bei der Abschaffung der Patnmonialgcnchte. Für die Richter und Verwaltungsbeamten unterer Instanz bedeutete die Rückkehr des Kurfürsten einen tiefen Einschnitt, der so manche hoffnungsvolle Junstenkarnere jäh beendete. Was sich in westphälischer Zeit als besonders wertvoll erwiesen hatte, konnte sich in der Restauration in ein Karnerehindernis verkehren. Enge Kontakte zu Ministern oder Präfekten als den politisch maßgebenden Figuren während der napolconischcn Zeit erregten beim zurückgekehrten Kurfürsten Wilhelm lebhaften Widerwillen. Zwar war er geneigt, seine alte Beamtenschaft ohne intensiveres Nachforschen über ihre Rolle •während der Zeit der „Fremdherrschaft" weitcrzubeschäftigen. Wer sich jedoch allzu sehr mit den politischen Verhältnissen im Königreich Wcstphalcn identifiziert hatte und wer sich nicht als verlorener Sohn gab, der reumütig zu seinem Vater zurückkehrte, der durfte nicht auf Gnade rechnen. (Werra-Departement), Nr. 1487; Bestand 75,3 (Königreich Westphalen, Justizminisrenum), Nr.4, Nr.9, Nr.11-13; Bestand 75.5 (Königreich Westphalen, Innenministerium}, Nr. 3-10. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 59 Was geschah nun mit der riesigen Schar westphälischer Amtsträger auf hessischem Boden? Nahezu alle erwarteten, m kurhessische Dienste übernommen zu werden. Das rcstaurative Regiment griff zu unterschiedlichen Lösungen: Lediglich ein Drittel der lokalen Verwaltungsbeamten wurde in den kurhcssischcn Dienst übernommen, zumeist im Heer und in der Steuerverwaltung. Dagegen gab man sich im Falle der Richter deutlich mehr Mühe, denn drei Viertel von ihnen wurden übernommen. Sofern sie bereits 1807 in kurhessischen Diensten gestanden hatten, kehrten sie auf ihre alten Positionen zurück. Für die jüngeren unter den Richtern vermehrte man die Assessoren- und Adjunktenstellen. Sie wurden auf diese Weise m eine Warteschleifc geschickt, die das tröstende Versprechen späterer Versorgung barg. Für die besonders problematischen Fälle älterer Juristen, die erstmals in westphälischer Zeit in den Staatsdienst gelangt waren, fand man eine pragmatische Lösung: Sie erhielten feste Anstellungen als Amtssekretäre m der örtlichen Justiz. Diese Positionen waren mit minimalen Fixbcsoldungcn dotiert, bescherten jedoch ihrem Inhaber durch kalkulierbare Sporteleinnahmen ein verhältnismäßig sicheres Auskommen. Was bedeuteten die politischen Umbrüche der Reformära für die Ortsbeamten? In der turbulenten Zeit zwischen dem November 1807 und der Jahreswende 1813/14 durchlebten sie ein wahres Wechselbad der Gefühle, angefangen bei der völligen Ungewißheit über ihre berufliche Zukunft nach dem Untergang des hessischen Staates, über die plötzlich rosigen Aussichten auf Einstellung oder Beförderung in den Anfangsjahren des Königreichs Westphalen, dann über die Panik angesichts der allgemeinen Anarchie im November und Dezember 1813, als plündernde Kosaken umherstrciften und der antifranzösische Mob ihre Köpfe forderte, bis zur Furcht vor der Rache des zurückgekehrten Kurfürsten, dessen Intransingcnz man aus semer langjährigen Regierungszcit vor 1807 zur Genüge kannte.28 Als Folge dessen griff ein Gefühl der Unsicherheit über künftige Entwicklungen um sich, eine Unsicherheit, die weit über das vorher übliche Maß hinausging. Für alle Arrivierten, die in den sozialen Zusammenhängen des alten Regimes fest verankert gewesen waren, bildete die napoleonische Zeit eine Phase mit erhöhtem Lebensrisiko. Für Leute mit Ambitionen und für Aufsteiger aus weniger reputierlichen Verhältnissen bot die Zeit aber auch vorher ungeahnte Möglichkeiten. Manche duckten sich selbstgenügsam in die gefundene Karrierenische und hofften so, die Stürme der Zeit überdauern zu können. Manche allerdings griffen beherzt zu 2S Zur Situation der Ortsbeamcen in den Existenzkrisen des Königreichs Westphalen siehe BÜAKENSIEK (wie Anm. 1), S. 349-356. Den Aufstand von 1S09 in Hombcrg/Efzc schildert besonders eindringlich der dortige Pfarrer in: Selbstbiographie von Johann Christian Martin, Metropolitan in Ilombcrg, 1744-1811, m: Nachrichten des J.P. Marun'.schen Farnilienverbandcs, Heft 7, 192(i. Die Anarchie zu Ende der napoleoru'schen Herrschaft schildert in den glühendsten Farben der Mairc von Grcbenstem in: Pro Memoria Kroescheli, aufgesetzt am 14. November 1813 in Kassel, in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 325/30 (Städtische Altertumssammlung Marburg), Nr. 10. 60 Stefan Brakensiek und nutzten die eine oder andere unverhoffte Karnerechance, von der sie ahnten, daß sie sich so bald nicht wieder bieten würde. Wie mit diesen veränderten Verhältnissen, mit den gesteigerten Chancen und Gefahren umgegangen wurde, welche Emotionen im Spiel waren und welche Lösungsstrategien gefunden wurden, faßt sich mit prosopographischen Methoden allein nicht klären. Deshalb soll am Beispiel einer einzelnen I.ebensgescrnchte vorgestellt werden, wie die Erfahrungswelt eines bürgerlichen Amtsträgers rekonstruierbar wird, wenn man Prosopographie und Biographie miteinander verschränkt. Bei diesem Beamten handelt es sich um Valentin Bess. Er wurde im März 1769 geboren; gestorben ist er im Alter von 66 Jahren im Jahr 1835.29 Sein Leben lang hat er Hessen nicht verlassen und wohnte - seine Studienjahre an der Landesuniversität Marburg einmal ausgenommen - immer in seinem Geburtsort Nentershausen.30 Folgt man von der Residenzstadt Kassel kommend der Fulda etwa 60 Kilometer flußaufwärts und biegt kurz nach dem Eisenbahnknotenpunkt Bebra links von der Hauptstraße ab, so schlängele sich heute wie vor zweihundert Jahren über ungefähr zehn Kilometer eine enge Straße durch die bewaldete Mittelgebirgslandschaft bis man in das Kirchdorf Nentershausen gelangt. Dieser weitabgewandte Ort bestand im Jahr 1819 aus ganzen 88 Häusern, die 896 Einwohner beherbergten. 31 Nentershausen genoß kein Stadtrecht, obwohl es in Hessen-Kassel durchaus Städte dieser Größe gab. Seine Funktion als Amtsort für die umliegenden Weiler verdankte das Dorf wohl seiner Kirche, der nahegelegenen Richelsdorfer Kupferhütte und einem Rittergut, das der Familie von Baumbach gehörte. Neben der Adelsfamilie, Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern beherbergte Nentershausen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch einige bürgerliche Notabein, den reformierten Prediger, den Arzt, den Gutsverwalter der Baumbachs, drei Hütteningenieure, den Oberförster und - als herausragende Figur - den örtlichen Amtmann. 25 Die Lebensdaten von Valentin Bess und seiner Familie finden sich bei Bernhard KOERNER (Hg.): Deutsches Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien, 52, 1927, S. 205-206; Gerhard BÄTZING: Pfarrergeschichte des Kirchenkreiscs Homberg von den Anfängen bis 1984, Marburg 1988, S. 619; Wilm SIPPEL: Daten zur nordliessischen Führungsschient, Bd. 2, Lehrte 1987, S. 273-275 u. Bd. 4, Lehrte 1988, S. 923-924; DERS. (Hg.): Die Geschichte des „Metropolitaiiats" Sontra 1525-1975, Bd. 2, Göttingen 1983, S. 150-160; Gesamthochschulbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardtsche Sammlung: Losch-Kartei. 30 Der Eintrag vom 22. Oktober 1787 in die Matrikel der Universität Marburg lautet: „Valentinus Bess, Nentershusa Hass." Vgl. Wilhelm DIEHL: Suchbuch für die Marburger Universitätsmatrikel von 1653 bis 1830, Darrnstadt 1927, S. 22; Theodor BIRT (Hg.): Caralogi studiosorum Marpurgensium cum annalibus conjuncti series recentior (1653-1830), (Nachdruck) Ncndeln 1980. Das Stammbuch eines Kommilitonen verzeichnet unter dem 3. März 1790: „Valentin Bess aus Unterliesscn, Rcchtsbeflissener in Marburg, ließ sich Michaelis 1790 examinieren und reiste in seine Vaterstadt ab." Siehe Martha MÖLLER u. Eduard GRIMMKL: Das Stammbuch des Johann Georg Möller, in: Hessische Familienkunde, 3, 1954/56, S. 240-251, hier S. 240. 31 Vgl. Kurhessischcr Staats- und Adresskalender auf das Jahr 1819, Kassel 1819. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 61 Hinzu kam seit dem Frühjahr 1791 der Advokat Valentin Bess, der mit den übrigen Honoratioren des Orts aufs engste verbunden war. Sein Vater war Johann Georg Bess (1734-1810), Oberförster in Nentershausen und im Siebenjährigen Krieg hochdekorierter Unteroffizier eines hessischen Jägerregiments, ein alter Haudegen, stolz auf seine soldatischen Tugenden.32 Bereits der Großvater väterlicherseits, Johann Hartmann Bess (1698-1785), war Förster in hessischen Diensten gewesen, und auch die Mutter, Maria Dorothea Claus (1742-1772), entstammte einer Forstleutcdynastie. Als Johann Valentin Bess zehn Monate nach der Eheschließung seiner Ehern geboren wurde, da knüpfte sich an ihn als den männlichen Erstgeborenen die Hoffnung auf Fortsetzung der beruflichen Familientradition. Jedoch: „Ein Fehler, der mich schon bey der Geburt des linken Auges beraubte, hinderte in der freyen Wahl meiner künftigen Bestimmung, und da man Neigung und Fähigkeit zu den Wissenschaften bey mir wahrzunehmen glaubte, widmete mein Vater mich einem wissenschaftlichen Fache. Ich studierte von 1787 bis 1790 die Rechte auf der Academie in Marburg, wurde im Frühjahr 1791 bey der Regierung in Cassel geprüft, tüchtig gefunden und mit der Erlaubniß, als Advocat practiciren zu dürfen, begnadigt." 33 So schrieb Valentin Bess noch als über Fünfzigjähriger. Dieser Geburtsfehler, der neben einer Sehbehinderung auch eine Entstellung des Gesichts verursacht hatte, sollte sich in mehrfacher Hinsicht als fata! für seine berufliche Zukunft erweisen. In die Fußstapfen von Vater und Großvätern vermochte er nicht zu treten, weil ein Förster mit der Schußwaffe umzugehen hat, wozu zwei gesunde Augen erforderlich sind. Daß er den väterlichen und großväterlichen Hoffnungen nicht entsprach, daß er irn Alter von drei Jahren seine leibliche Mutter verlor und daß er aufgrund seines schreckeneinflössenden Aussehens vermutlich massive Kränkungen durch seine Altersgenossen erfuhr, all diese Faktoren gaben seinem Selbstbewußtsein schwere Stöße, die sich in einem übertriebenen Ehrgefühl und einer Neigung zu Sarkasmen und cholerischen Aufwallungen niederschlugen. Erschwerend kam noch hinzu, daß weder die Eltern noch andere Verwandte Beziehungen zum Juristen-Milieu unterhielten, so daß Valentin Bess ganz auf sich gestellt war bei der Suche nach einer auskömmlichen Stellung.34 32 Autobiographische Notizen des Vaters sind veröffentlicht bei Wilhelm BESS: Aus dem Tagebuch eines Veteranen des siebenjährigen Krieges, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, Neue Folge, 2, } 869, S. 193-241. 33 Valentin Bess an die Regierung Kassel vom 1. Mai 1815 in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250 (Kurhessisches Justizministerium), Nr. 573: Akten, betreffend den Rechtsstreit mit dem vormaligen Justmanus V. Bess zu Nentershausen (1815 bis 1824) (unpaginiert). Der Rechtsstreit wurde später durch alle Instanzen bis vor das Oberappellationsgei'icht getragen: Staatsarchiv Marburg, Bestand 266 (Obergericht Kassel), Nr. 839 u. 840: Anwalt Bess zu Nentershausen gegen Staatsanwalt Kassel wegen verweigerter Aushändigung von Dotalgeldern (1823-29, 182935,1842). 34 Im Jahr 1791, als Bess nach Abschluß seines Studiums die Stellensuche aufnahm, waren seine Großväter (beide ehedem Revierförster in der hessischen Forstverwaltung) verstorben. Seine Stiefmutter entstammte einer Handwerkerfamilie. Sein Vater war als Försier in Nentcrs- 62 Stefan Brakemiek Zunächst bemühte sieb Bess um eine Stelle als Auditeur und Regimentsquartiermeister. Das vom Vater als Kriegsveteran akkumulicnc Ehrkapital reichte aus, ihm einen Vorstcllungstermin beim Fürsten zu verschaffen, allem: „Euer Königliche Hoheit, wie ich in den 1790er Jahren bey Gelegenheit der Bewerbung um eine Auditeurstelle, allerhöchst denenselben persönlich mich praesentirte, geruhten mir zu erkennen zu geben, daß eben wegen dem gedachten Gesichtsfehler eine solche Stelle für mich nicht schicklich sey, mir jedoch huldreichst zu erlauben, daß ich mich um andere Stellen allerdings melden dürfte." 35 Bei dieser unverbindlichen Zusage blieb es, und Valentin Bess kehrte nach Nentershausen zurück, um sich dort als Rcchtsanwalt niederzulassen. Als Advokat an einem Untergericht gehörte er zürn akademischen Proletariat unter den hessischen Juristen. So wie ihm erging es vier Fünfteln der niederhessischen Anwälte im Ancien Regime: Die wenigen attraktiven Staatsämter blieben ihnen dauerhaft verschlossen. Als ein Jurist aus der Provinz ohne Verbindungen zum Landgrafen oder zur Zentralverwaltimg konnte Bess kaum erwarten, in den hessischen Fürstendienst zu gelangen.36 Als Advokat verdiente Valentin Bess in Nentershausen zunächst kaum mehr als ein Trinkgeld, denn für eine florierende Anwaltskanzlei fehlten alle örtlichen Voraussetzungen. Die hessische Staatsverwaltung versuchte, Advokaten möglichst aus dem Verfahren an den Untergerichten fernzuhalten, weil Anwälte im Verdacht standen, erstens die Untertanen gegen die Obrigkeit aufzuhetzen und zweitens den armen Landbewohnern den letzten Heller aus der Tasche zu ziehen.37 Valentin Bess nutzte seine reichlich bemessene Zeit, urn sich bei der örtlichen Adelsfamilie von Baumbach als Privatsekretär nützlich zu machen. Die Baumbachs gehörten zu den bedeutendsten Geschlechtern Hessen-Kassels; die weitverzweigte Sippe besaß mehrere Rittergüter, war auf den Landtagen immer präsent und besetzte im 18. und 19. Jahrhundert Schlüsselstellungen innerhalb der hessischen Administration. Der damalige Majoratshcrr auf Gut Nentershausen, Ludwig von Baumbach, war in den Jahren von 1788 bis 1798 Landrat im Fulda-Bezirk. 38 Richter und Beamie in Hessen-Kassel 63 Was Ludwig von Baumbach für Valentin Bess besonders interessant machte, war seine Eigenschaft als Inhaber der Patrimonialgerichtsbarkeit über insgesamt neun Dörfer, darunter auch Nentershausen und einige umliegende Weiler. Fünfundzwanzig Jahre hindurch bis zum Jahr 1795 hatte der Advokat Wilhelm Ludwig Limberger aus Hcrsfeld diesem Adelsgericht der Baumbachs als Richter vorgestanden. Als Limberger starb, kam die Chance für Valentin ßess, dessen Nachfolge anzutreten. Vier Jahre des Wartens bis 1795 hat es gedauert, bis sich diese Möglichkeit eröffnete. Der erste Erfolg zog bald weitere nach sich, denn Valentin Bess konnte in wenigen Jahren zusätzlich Ämter akkumulieren: Ein Jahr später, 1796, wurde er Richter über den Hüttenort Richelsdorf im Auftrag der von Cornberg, schließlich im Jahr 1803 auch noch von Boyneburgischer Gerichtshalter über das Stettfeldcr Pnvatgericht. Valentin Bess durfte sich glücklich schätzen, in die Reihen der Adelsjustitiare aufgerückt zu sein, denn von den 324 niederhessischen Advokaten in den letzten vier Jahrzehnten des Ancien Regimes gelang dieser Schritt lediglich 136 (also etwas mehr als 40%). Die drei Richterstellen trugen ihm ein Jahreseinkommen von etwa 500 Rt. ein.39 Valentin Bess wähnte sich im sicheren Hafen einer bürgerlichen Existenz und begab sich - nunmehr bereits Mitte Dreißig - auf Brautschau. Fündig wurde er in unmittelbarer Nachbarschaft, im Pfarrhaus von Nentershausen. Im Januar 1805 heiratete er seine Cousine, die nicht ganz 17-jährige Pfarrerstochter Wilhelmine Clatiss.40 Der Entschluß zu dieser Ehe bekommt einen geradezu tragischen Zug, wenn man sieht, wie sich Kalkül als Illusion erwies: Zwei Jahre später wurde Kurhessen von den napoleonischen Armeen besetzt, die neuen Herren hoben die Patrimonialjustiz umgehend auf und Valentin Bess stand ohne Amt und Einkommen genau dort, wo er fünfzehn Jahre zuvor begonnen hatte. Das Schicksal hatte dieses Mal aber noch ein Einsehen mit der |ungen Familie und nach mehr als zwei Jahren des Hoffens und Bangens erhielt Valentin Bess im April 1809 die Stelle des Frie- archiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. 36 Aussage aufgrund der prosopographischen Auswertung der Staatskalender. 37 Artikel „Advocatcn" in: Ulrich Friedrich Koi j t> (Hg.): Handbuch zur Kenntnis der Hes- prominenter Freimaurer, Mitglied dc.s Illuminatenordens und enger Freund des Freiherrn von Knigge, der einige Jahre auf Gut Nentershausen lebte, Hauptmann, von 1787 bis 1798 Landrat im Fuldastrombe/irk, während der westphälischeri Zeit bis xu seinem Tod Präfekturrat ini Werra-Departement, Mitglied des Departementsrats im Werra-Departement und Abgeordneter der Grundeigentümer im Werra-Departement in den Reichsständen des Königreichs Wcstphalen. Vgl. Jochen LENCEMANN: Parlamente in Hessen 1808-1813. Biographisches Handbuch der Reichsstande des Königreichs Westphalen und der Ständevei-sammlung des Großherzogtums Frankfurt, Frankfurt 1991, S. 115; Michael SCHI.OTT (Hg.): Wirkungen und Wertungen. Adolph Freiherr Knigge im Urteil der Nachwelt (1796-1994). Eine Dokumentensammlung, Göttingen 1998. sen-Casselischen Landes-Verfassung und Rechte, Bd. l, Kassel 1796, S. 120-130; Artikel „Anwaid", ebd.: S. 199-208; Untergerichtsordnung vom 9. April 1732, in: Neue Sammlung der Landes-Ordnungen, Ausschreiben und anderer allgemeinen Verfügungen, welche bis zum Ende des Octobers 1806 für die älteren Gebietsteile Kurhessens ergangen sind, Bd. l, Kassel 1828, S. 39 Angaben zu den Richtern an den Patrimonialgcrichten vgl. Staatskalender 1795-1806. Die Karrieredaten von Bess finden sich bei Karl GEISEL: Kurhessische Rechtskandidat.cn und ihr Verbleib (1803-1866), in: Staatsarchiv Marburg, Bestand M 77, Nr. 19, Bd. 1. Die Summe der Einnahmen von Valentin Bess aus den Ämtern als Adelsrichlcr: Bericht des Procurator fisci 324-359. 38 Ludwig Wilhelm von Baumbach-Neatershausen (1755-1811), Herr auf Nentershausen, Heer an die Regierung Kassel vom 26. Juni 1817, in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. 40 Siehe Anm. 29. hausen weit von allen einflußreichen Stellen in Kassel entfernt; seine beruflichen Kontakte beschränkten sich auf das Forstleute- und Offiziersmilieu. Der Bruder war x,u dieser Zeit gerade elf Jahre alt, Schwäger nicht vorhanden. Die beiden Onkel mütterlicherseits verfügten als Pfarrer in Nentershausen bzw. Förster in Obergrenzebach ebenfalls über keinerlei maßgebliche Kontakle. 35 Immediateingabe Valentin Bcss an den Kurfürsten, undatiert (Ende Mai 1815), in: Staats- 64 Stefan Brakensiek densrichters in Nentershausen. Er war am Ziel seiner Berufswünsche, denn er trat nun in die Fußstapfen des von ihm bewunderten Amtmanns Georg Dietrich Braun, der bereits nach Nentershausen berufen worden war, als Bess noch ein Kind war, und der dort fast dreißig Jahre lang die öffentlichen Geschäfte geleitet hatte bis zu seinem Tod im Jahr 1805. Die Karriere des Amtmanns Braun steckte den Erfahrungs- und Erwartungshorizont für Bess ab, den Horizont, vor dem alles das gesehen werden muß, was sich in der Folge ereignete.41 Valentin Bess hat als westphälischer Friedensrichter in der Zeit von 1808 bis 1813 recht unauffällig und erfolgreich gewirkt. Im Gegensatz zu zahlreichen Kollegen in Hessen ist er nicht von Teilnehmern an den antmapoleomschen Aufständen von 1809 und 1813 verprügelt und beraubt worden.42 Als die Kosaken des Generals Ts chemische w die napoleonischc Armee aus dem mittleren Deutschland vertrieben hatten, blieben die westphälischen Beamten zunächst kommissarisch in ihren Ämtern, so auch Valentin Bess. Erst im Verlauf des Frühjahrs 1814 hob der zurückgekehrte Kurfürst die westphälischen Justiz- und Verwaltungsbehörden auf und stellte die alte Amtsverfassung wieder her. Die früheren Amtleute sollten möglichst in ihre altvertrauten Stellungen zurückkehren, was in Nentershausen nicht glücken konnte, denn der frühere Amtmann Braun war verstorben. Kein Wunder also, daß Valentin Bess annahm, er sei der designierte Amtmann. Alle seine - teils Jahre später verfaßten - Schreiben spiegeln noch das Entsetzen und das Gefühl verletzter Ehre, als nicht er bestallt wurde, sondern Georg Friedrich Christian Coester, ein zwölf Jahre jüngerer ehemaliger Justitiar einer Seitenlinie des hessischen Fürstenhauses: „Mit Schrecken vermißte ich bey Durchlesung des die Ernennungen verkündigenden öffentlichen Blattes darin meinen Namen und ich kann es nicht leugnen, auch die Kränkung dieser Zurücksetzung um so tiefer gefühlt zu haben, je mehr ich mir bewußt war, daß ich meine Pflichten stets treulich erfüllt hatte, und nun mit einer inzwischen auf fünf Kinder angewachsenen Familie mich plötzlich wieder brodlos sehen mußte." 43 Der direkte Vergleich zwischen den Konkurrenten urn die Amtmannsposition in Nentershausen verdeutlicht, warum dem jüngeren Coester der Vorzug gegeben wurde gegenüber dem erfahreneren Bess, dessen juristischen Sachverstand übrigens niemand anzweifelte. Der jüngere Kandidat war vor allem habituell überlegen, er vereinte größere Weitläufigkeit mit den weitaus besseren Kontakten zu den Ent41 Angaben zu Georg Dietrich Braun bei STRIEDER, Gclchrtcngcschichle, Bd. 6, S. 149 u. 354356. Dessen Vorbildfunktion für Valentin Bess in Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. 42 Einstellungsverfahren und Komlmtenlisten der westphälischen Justizverwaltung in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 75.3 (Königreich Westphalen, Ministerium der Justiz), Nr. 9, 12 u. 13. Daß Bess von den Aufstandsbewegungen nicht tangiert wurde, kann nur aufgrund des Fehlens von entsprechenden Spezialakten in den Beständen 5 (Geheimer Rat) und 17 II (Regierung Kassel) geschlossen werden. Wo es Aufstände und Tätlichkeiten gegen Beamte gab, sind solche Akten überliefert. 43 Bess an Regierung Kassel am 1. Mai 1815, in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 65 scheid u ngszentrcn m Kassel. Coester hatte in Göttingen und Marburg studiert, war als Sekretär des Landgrafen von Hessen-Philippstal mit diesem in den Jahren 1805 und 1806 in den Niederlanden, in Leipzig und Paris gewesen.44 Die Welt des Valentin Bess war um vieles enger, und was noch wichtiger war, im kritischen Moment fehlte ihm ein machtvoller Fürsprecher, denn sein Protektor, Ludwig von Baumbach, war 1S11 gestorben. Dagegen verfügte Coester über zwei besonders vorteilhafte Verbindungen: Zum einen hielt der Philippsialer Landgraf die Hand weiterhin schützend über ihn, zum anderen war sein Onkel, Taufpate und Vormund, Hermann Friedrich Wetzel, bei der Restauration des Kurstaates zum Regierungsrat in Kassel ernannt worden und gehörte somit derjenigen Behörde an, die dem Kurfürsten die Kandidaten für die Amtrnannspositionen in Niederhessen in Vorschlag brachte. 45 Valentin Bess war durch diese Vorgänge derart gekränkt, daß er die berufliche Chance, die man ihm bot, nicht nutzte. Im Gegensatz zu zahlreichen Schicksalsgenossen schlug er das Angebot der Regierung Kassel in den Wind, irgendwo in Hessen Amtssekretär zu werden. Mit 45 Jahren wollte er nicht als zweiter Mann, womöglich unter der Leitung eines Jüngeren, arbeiten. Was nun folgte, war ein über i* Angaben zu Georg Friedrich Christoph Coester (1780-1839) in: Friedrich Georg Karl GROSS: Alphabetisches Verzeichnis cler Schüler des Lyceum Fridericianum während der Jahre 1779-1835 aus den Classen IV-I, in: Königliches Gymnasium zu Kassel genannt Fridericianum. Programm vom Schuljahre 1879/80, Kassel 1880, S. 1-62, hier S. 7; Götz VON SELLE (Hg.): Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen (1734-1837), Hildcsheim 1937; Ilgncr: Aus den hinterlassen«) Papieren des Landrats Harten zu Hcrsfcld, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 42, 1908, S. 53-71, hier S. 68; Wilhelm RABE: Die Pfarrer- und Beamtensippe Köster (Coester) aus Niederlistingen, in: Hessische Familienkunde, 3, 1954/56, S. 362; Karl GEISEL: Kurhessische Rechtskandidaten und ihr Verbleib (1803-1866), in: Staatsarchiv Marburg, Bestand M 77, Nr. 19, Bd. 1; Wilm SIPPEL: Daten 7.ur nordhessischen Führungsschicht, Bd. 5, Lehrte 1989, S. 1229; Gerhard BÄTZING: Pfarrergeschichte des Kirchcnkreises Wolfhagen, von den Anfängen bis 1968, Marburg 1975, S. 201. Personalakten in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 6a, Nr. 839 u. 840; Bestand 82a, Nr. 194 u. 213; Bestand 180 Hanau, Nr. 217. 45 Hermann Friedrich Wetzel war nach Auskunft der Staatskalender von 1777 bis 1795 als Richter an verschiedenen Gerichten des hessichen Adels tätig. Seil 178 l lebte er in Kassel, wo er zunächst auch als Anwalt am Regierungskollegiurn tätig wurde, l 783 zog er als Senator in den Rat der Residenzstadt Kassel ein, zu deren Bürgermeister er l 796 gewählt wurde. Die Mitgliedschaft im Siadtrat bedeutete, daß er zugleich Richter am Stadtgericht Kasse! war. Im Jahr 1800 erhielt er vom Landesherrn den Ratstitel verliehen. Während der napoieonischcn Zeit amtierte Wetzel als Richter am Tribunal erster Instanz. Vom zurückgekehrten Kurfürsten wurde er 1814 zum Rat an die Regierung Kassel berufen, eine Mittelbehörde mit administrativen und gerichtlichen Aufgaben. Er war Mitglied in einigen der wichtigsten Kommissionen der Hauptstadt, im Direktorium des Gymnasiums, in der Straßenbaukommission, in der Direktion des Zuchthauses, im Kommerzkollegium, in der Polizeikommission und im Aufsichlsrat der Brandversichcrungsgcsellschaft. Irn J a h r 1824 erhielt er mit seiner Pensionierung den Titel eines Geheimen Regierungsrates verliehen. Wetzel starb im Jahre 1827. 66 Stefan Brakensiek zehn Jahre geführter erbitterter Federkrieg zwischen Bess und der Justizverwaltung in Kassel. Der in seinen Zukunftserwartungen enttäuschte und in seiner Ehre gekränkte ehemalige Richter ließ alle Geschmeidigkeit und alles Geschick vermissen und kämpfte mit Schreiben in sarkastischem Tonfall um das, was er für sein gutes Recht hielt. Zunächst forderte er nichts weniger als eine Begründung für das unmögliche Verhalten der Obrigkeit und seine Einstellung als Richter auf der nächsten vakant werdenden Stelle. 4& Seine Argumentation folgte Vorstellungen, wie sie auch von dem führenden Juristen am Kasseler Oberappellationsgericht, Burkhardt Wilhelm Pfeiffer, vertreten wurden. Im Gegensatz zum Kurfürsten, der das Königreich Westphalen schlicht als unrechtmäßiges Okkupationsregime ansah, dessen Gesetze als nichtig anzusehen seien, vertrat Pfeiffer die Ansicht, alle europäischen Mächte von Rang hätten Westphalen völkerrechtlich anerkannt, so daß Rechtsakte des Königreichs zu respektieren seien. 47 Zwei fundamental verschiedene Auffassungen vom Staat trafen aufeinander: Die legitimistische Sicht des Kurfürsten und einer Minderheit von Anhängern in der Verwaltung, die von einer Identität von Staat und Dynastie ausging und die Auffassung von Pfeiffer, Bess und einer Mehrheit der hessischen Juristen, die besagte, daß es jenseits der Person des Fürsten ein Abstraktum „Staat" gebe, das von dynastischen Wechselfällen und Eroberungen nicht tangiert werden könne. Diese Position hatte die gesamte Tradition naturrechtlichen und aufgeklärten Denkens über den Staat auf ihrer Seite. Überdies entsprach sie der Erfahrung einer ganzen Generation von Beamten, die - bei aller kritischen Distanz zu Napoleon und seinem Regime - miterlebt hatte, daß auch eine durch Ihr hohes Alter legitimierte Herrschaft wie die hessische hinweggefegt werden konnte. Weiterhin hatten sie die Erfahrung gemacht, daß jedes Staatswesen auf die Dienste der Bürokratie in ihrer Gesamtheit angewiesen war, auch wenn der einzelne Beamte vielleicht entlassen werden mochte. Die Vorstellung von einer Weiterexistenz des Staatswcscns über die politischen Brüche hinweg fand demnach eine lebensweltliche Fundierung. Vertrat Pfeiffer den Standpunkt von der Kontinuität des Staatswesens - unbeschadet der Eroberung Hessens - aus der exponierten Stellung des Oberappellationsrates mit einer Brillianz, der selbst der Kurfürst seinen Respekt nicht versagen konnte, so focht Bess aus der Stellung des Underdogs mit ungelenkerer Feder und weniger Erfolg: „. - - der Staat hat aber, indem er mich vom Brot gestoßen, mir das, was ich ehemals hatte, nicht wieder gegeben, mir mit Undank gelohnet, und dadurch allergnädigster Kurfürst! mich zu einiger Bitterkeit gereizt . . . Pflicht und Ehrgefühl nötigen mir im äußersten Falle den Rechtsweg ab. Der rechtliche Mann darf nie etwas begehen, was mit der Gerechtigkeit m Widerspruch tritt, und daß ich in die Gerechtigkeit meiner Sache Zutrauen setze, beweist eben der Umstand, daß Bess an Regierung Kassel am I. Mai 1815, in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. Burchard Wilhelm PFEIFFER: Inwiefern sind Regierungshandlungen eines Zwischenherrschcrs für den rechtmäßigen Regenten nach dessen R ü c k k e h r verbindlich? Hannover 1819. 46 47 Richter und Beamte in Hessen-Kassel 67 ich mich dem Urteil der vaterländischen Gerichte selbst zu unterwerfen wage, ja ich bin sogar bereit, durch eine öffentliche Bekanntmachung das ganze tcutsche Publikum in den Stand zu setzen, über die Rechtlichkeit meiner Ansprüche zu entscheiden. Ich habe durch'mein Betragen nicht verdient, wie bisher geschehen, und jetzt noch fortwährend geschieht, mich behandelt zu sehen. Gerechtigkeit, nur Gerechtigkeit, will ich, und auf alles übrige leiste ich Verzicht. Diese Entschließung kann mein ungünstiges Geschick mir abnötigen, die Gerechtigkeit darf aber selbst dem größten Verbrecher nicht versagt werden, . . ,"'48 Solche Ketzereien und Drohungen des eifernden Bess veranlaßten die Regierung in Kassel, ein förmliches Dienstaufsichtsverfahren gegen ihn einzuleiten, das zeitweilig kurz davor stand, mit einem scharfen Verweis wegen Unbotmäßigkeit und dem Verlust der Anwartschaft auf jegliches Staatsamt zu enden. Im letzten Augenblick wurde diese Gefahr abgewendet von einigen Regierungsräten, die Mitleid mit dem armen Teufel in der Provinz hatten und die spürten, daß es keine moralische Rechtfertigung dafür gab, daß sie sich unangefochten in ihren Ämtern hielten, obwohl sie allesamt hochrangige Posten unter Jerorne eingenommen hatten, während Valentin Bess fortgejagt wurde. Beleidigen lassen wollten sich die Räte in Kassel jedoch nicht, und so vollzogen sie mit landesherrlicher Genehmigung ein demütigendes Ritual an Bess: Sie bestellten ihn nach Kassel ein und ließen ihn unter ihren Augen eigenhändig die unziemlichen Passagen aus seinen Eingaben streichen. Spätestens bei dieser Gelegenheit werden sie bemerkt haben, daß die Sehkraft auch des rechten Auges von Valentin Bess rapide nachließ, daß dieser kurz davor stand, völlig zu erblinden. Seine Chancen, jemals wieder als Richter eingestellt zu werden, waren endgültig dahin. 49 Welche allgemeinen Aussagen lassen sich aufgrund des vorgestellten Einzelfalls treffen? Valentin Bess bildete sicherlich einen Grenzfall innerhalb des Spektrums der sozialen Herkunft juristisch geschulter Beamter. Die Zeitgenossen hätten ihn wegen seines familiären Hintergrunds eher einer der technischen Berufsspartcn zugeordnet, wo subalterne Amtsträger wirkten, also den Tätigkeitsfeldern der Förster, Unteroffiziere, Gerichtsschreiber oder Steuereinnehmer. Auch wenn er unter denjenigen, die jemals als Ortsbeamtc tätig wurden, ein sozialer Außenseiter war, so ist Bess doch ein typischer Vertreter für die Gruppe der sozialen Aufsteiger. Die ehrgeizigen Söhne von subalternen Amtsträgern stellten nämlich die Mehrheit unter ihnen. Eine gewisse gefühlsmäßige Verbundenheit mit der Dynastie, dem Territorialstaat und seiner Verwaltung wurde diesen Söhnen von klein auf eingepflanzt. Der Lebensstil ihrer Herkunftsfamilien folgte - soweit die ökonomischen Möglich48 Immediateingabe des Valentin Bess an den Kurfürsten, undatiert (Ende Mai 1815), in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. t' Bericht des Advoc.itus Fisci Friedrich Georg Pfeiffer 7,11 Kassel vom 12. Juni 1815, „die gegen den vormaligen Justitiar Beß zu Ncntershfiusen wegen sich erlaubter anstössigen und strafbaren Äußerungen verfügte Untersuchung betr."; Akte der Kurfürstlichen Regierung Kassel vom 17. Juli 1815, in: Staatsarchiv Marburg, Bestand 250, Nr. 573. 68 Stefan Brakensiek keiten es zuließen - den Mustern bürgerlicher Reputierlichkcit. Demonstrative Wohlanständigkeit, die Pflege bestimmter Bildungsgüter und vor allem eine sorgfältige Kindererziehung gehörten dazu. Die Eltern waren häufig bereit, für die Ausbildung der Söhne große materielle Entbehrungen auf sich zu nehmen. Trotz aller landesherrlichen Erlaße an die Universitäten, die Sohne von Subalternbeamten nicht zur Hochschule zuzulassen, blieben das Theologie- und seltener auch das Jurastudium enge Karriereschleusen, die sozialen Aufstieg dosiert zuließen. Angesichts der fast handwerklich-zünftig anmutenden Rechtsprechung und Verwaltung in Hessen wurden die Ambitionen der juristisch geschulten Aufsteiger im 18. Jahrhundert zwar regelmäßig frustriert, man hatte sich jedoch eine Funktionsehte m den Startlöchern herangezüchtet, die sofort zur Verfügung stand, als das Königreich Westphalen ihre Dienste nachfragte. Wie viele Beispiele zeigen, speiste sich das Reservoir der politisch Unzufriedenen, die während der Restaurationszeit auf eine Liberalisierung der Landesverfassung drängten oder sogar einen deutschen Nationalstaat anstrebten, unter anderem aus dem Kreis derjenigen, die während der napoleonischen Ära in verantwortliche Positionen gelangt und vom zurückkehrenden Kurfürsten entlassen worden waren. Aber auch diejenigen Richter und Beamten, denen die politisch-institutionellen Brüche nicht geschadet hatten, durchliefen in dieser Zeit wichtige Lernprozesse, die sie geneigt machten, Reformen zu fordern: Verfässungsgebung und Rechtsstaatsgarantien sollten die Möglichkeit der Fürsten zu willkürlichen Entscheidungen einhegen und dadurch die Professionalität des administrativen und richterlichen Handelns absichern. Und ein kodifiziertes Beamtenrecht sollte die Amtsträger in ihrer Dienststellung schützen, denn ihre Arbeitsverträge bildeten bis dahin lediglich eine privatrechtliche Materie, keine öffentlich-rechtliche. Entsprechend war die Unkündbarkeit von Beamten und Richtern keineswegs rechtlich gesichert, sondern lediglich brauchmäßige Fürstenpraxis. Der „Fall Bess" geht jedoch in diesen allgemeinen Überlegungen nicht auf. Seme Person hat etwas Sperriges, seine Reaktionen auf die Zumutungen der Zeit tragen außer den typischen auch ganz eigene, etwas exaltierte Züge. So konnte er sich nie wirklich für eine Verhaltensalternative entscheiden: In ein und demselben Schreiben appellierte er an die fürstliche Gnade, behielt sich jedoch den Rechtsweg offen und drohte sogar, notfalls seinen Fall öffentlich zu machen. Man gewinnt den Eindruck, daß er an einen Erfolg gar nicht recht glauben mochte. In seinem Kampf ging es möglicherweise weniger darum, eine (Wieder-)Anstellung im Staatsdienst durchzusetzen, als einen biographischen Selbstentwurf zu retten, und dadurch die Selbstachtung zu wahren. Um das beurteilen zu können, müßte man mehr über Valentin Bess in Erfahrung bringen, wozu jedoch die Quellen fehlen. Daß wir uns aber überhaupt der Befindlichkeit einer Person in einer lebensgeschichtlichen Krise so weit nähern konnten, verdanken wir nicht etwa einer autobiographischen Quelle, sondern einer Untersuchungsakte der Verwaltung gegen einen unbotmäßigen Beamten. Richter und Beamte in Hessen-Kassel 69 Das wiederum ist ausgesprochen typisch für das ausgehende 18. und frühe 19. Jahrhundert. Die Autobiographien und zeitgenössischen Nachrufe gehorchen nämlich vorwiegend ihren Gattungsgesetzen und eignen sich deshalb in erster Linie als serielle Quellen für eine Mentaütätsgeschichtc ihrer Autoren. Man sollte sie als Bestandteil der bürgerlichen Kultur betrachten, als Medien, die der Selbststilisierung und Selbstverständigung dienten, aus denen deshalb eher das Typische als das Individuelle spricht.50 Reflexionen, die individuelle Erfahrung aufgreifen und bewußt verarbeiten, sowie unbeabsichtigte Selbstentblößungen finden sich eher in Gerichts- und Verwaltungsakten, insbesondere in solchen, in denen es um existenzielle Fragen geht. Im Fall der niederhessischen Ortsbeamten haben sich die Kommissionsprotokolle und die Akten der vorgesetzten Behörden als Fundgruben erwiesen, die entstanden sind im Rahmen von Untersuchungen gegen einzelne Beamte, denen Vergehen zur Last gelegt wurden. Wenn ein Verfahren auf des Messers Schneide stand und drohte, die Existenz des Angeschuldigten zu vernichten, dann legte dieser manchmal eine Lebensbeichte ab. Aber auch ein weniger dramatischer Vorgang, beispielsweise ein Gesuch um Beförderung, konnte Beamte zu erstaunlich intimen Selbstthematisierungen veranlassen. So lassen sich selbst innerhalb des meist gering geachteten Personalschriftguts der Verwaltung Quellen für eine Geschichte der Erfahrung finden. 50 Vgl. hierzu Michael MAUKKR: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkwei- sen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815), Göttingcn 1996. Sonderdruck aus Biographieforschung und Stadtgeschichte Lemgo in der Spätphase der Hexenverfolgung Herausgegeben von Gisela Wilbertz und Jürgen Scheffler Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2000