Klinische Fachliteratur kritisch lesen. $$ Teil I: Fussangeln in

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PRAXIS
Klinische Fachliteratur
kritisch lesen
Teil I: Fussangeln in Fallberichten
und Fallserien
M. F. Feya, A. Bührerb
Einleitung
«Evidence-based medicine» verlangt, dass unsere klinischen Entscheide im Alltag (und
mögen sie noch so simpel sein, wie beispielsweise der Entscheid, beim einen Patienten die
Senkung zu bestimmen und beim anderen
nicht) auf wissenschaftliche Evidenz abgestützt
werden [1]. Die Beschäftigung mit Fachliteratur ist somit unabdingbare Basis unserer täglichen Arbeit, auch für die Kollegen in Praxis und
Tabelle 1.
Parameter assoziiert mit dem Risiko, eine Hitzewelle in Chicago nicht
zu überleben.
Parameter
Hitzeopfer
Überlebende
Hausbewohner
(Nachbarn)
Odds ratio
(d.h. das Risiko,
an Hitze zu sterben,
falls der Parameter in
Kolonne 1 vorliegt)
Klimaanlage in Funktion
25%
53%
0,2 (0,2–0,4 )
Wohnung unter dem Dach
52%
32%
4,7 (1,7–12,8)
Bettlägerig
16%
4%
5,5 (2,5–12,1)
Hausbesuche
von Gemeindeschwestern
20%
5%
6,2 (2,9–13,4)
Die %-Werte geben an, bei wie vielen Hitzeopfern bzw. überlebenden Hausbewohnern ein
bestimmter Parameter zur kritischen Zeit vorlag. Die Odds ratio gibt das Risiko an, an
Hitze zu sterben, falls der Parameter vorliegt, oder zu überleben, falls er nicht vorliegt.
Die Referenzzahl ist 1,0, und die Streuwerte sind in Klammern angegeben.
a
Institut für medizinische
Onkologie, Inselspital Bern
b
Innere Medizin FMH, Novazzano
Korrespondenz:
Prof. M. Fey
Institut für medizinische
Onkologie
Inselspital
CH-3010 Bern
E-mail: [email protected]
Spital, die sich nicht direkt an klinischen Forschungsprogrammen beteiligen. Medizinische
Fachliteratur ist denn auch leicht erhältlich: Sie
proliferiert sogar in einem Mass, das kaum
mehr überblickbar ist. Literatursuchprogramme im Internet, «Journals online», Kongress-Abstracts auf CD-ROM und dergleichen
erleichtern die thematisch gesteuerte Suche
nach Literatur zu einem bestimmten Problem.
Der «evidence-based medicine» wären somit in
der Praxis und im Klinikalltag trotz Zeitdruck
Tür und Tor geöffnet? Die kritische Lektüre
eines durch Blättern oder «Surfen» aufgespür-
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ten Artikels wird jedoch um so wichtiger, je einfacher sich die Literaturernte gestaltet. Man
darf getrost davon ausgehen, dass nicht alles,
was an medizinischer Fachliteratur publiziert
wird oder im Internet «heruntergeladen» werden kann, höchsten wissenschaftlichen Qualitätsansprüchen genügt. Thematisch wären Literatur zur Pathogenese verschiedener Krankheiten, zu Problemen der Diagnostik und
schliesslich Arbeiten über den Wert von therapeutischen Massnahmen zu behandeln. Wir
beschränken unsere Ausführungen auf Literatur zur Therapie hauptsächlich mit Beispielen
aus der Onkologie, und wir erläutern einige
Prinzipien, wie in der klinischen Fachliteratur
die Spreu vom Weizen zu trennen wäre.
«Post hoc ergo propter hoc»
Bei der Einführung neuer Therapien stellt sich
mitunter die Frage, ob eine therapeutische
Massnahme den Verlauf der Krankheit massgeblich beeinflusst oder nicht. Dies trifft namentlich für Krankheiten zu, die spontan ausgesprochen wechselhafte Verläufe nehmen
können. Man denke an Diabetes, koronare
Herzkrankheit oder an das metastasierende
Mammakarzinom. Bei derartigen Leiden ist es
alles andere als trivial, zu belegen, inwiefern
eine neue Therapie tatsächlich den Verlauf
massgeblich (günstig oder ungünstig) beeinflusst – d.h., den Beleg zu erbringen, dass
Verlauf und Therapie kausal verknüpft sind
(Tab. 1).
Ein Beispiel:
Die amerikanische Stadt Chicago wird im
Sommer von Hitzewellen heimgesucht, denen
regelmässig einige Bewohner erliegen. Der
«Epidemic Intelligence Service» (sic!) des Centre for Disease Control in Atlanta, USA, und
assoziierte Gruppen beschäftigten sich mit Risikofaktoren für sommerlichen Hitzetod.
Mehrere Parameter, die in diesem Zusammenhang von Relevanz sein mochten, wurden
bei Hitzeopfern und bei ihren Nachbarn verglichen. Die Nachbarn, so die Auflage der Studie, hatten zur kritischen Zeit unter denselben
Bedingungen wie die verstorbenen Hausbewohner gelebt, die Hitze aber überstanden.
Kritisch für die Frage des Überlebens war beispielsweise, ob ihre Klimaanlage in Ordnung
war, ob ein Hausbewohner mobil oder wegen
Krankheit (in einer Dachkammer) ans Bett gefesselt war. Diese beiden Parameter (ausgefallene Klimaanlage, Bettlägerigkeit) legen
einen kausalen Zusammenhang mit dem
Hitzetod nahe (Tab. 1). Hitzeopfer wurden in
ihrer Wohnung wesentlich häufiger von Gemeindekrankenschwestern besucht als ihre
überlebenden Nachbarn. Diese statistisch
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hoch signifikante Assoziation impliziert nun
(im Gegensatz zum Parameter «Ausfall der
Klimaanlage») eo ipso keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Besuch der
Krankenschwestern und Hitzetod (etwa im
Sinne, dass die Krankenschwestern die Hitzeopfer umgebracht hätten!) [2].
In Analogie zu diesem Beispiel darf eine Assoziation oder Korrelation eines günstigen oder
ungünstigen Krankheitsverlaufs mit einer bestimmten Therapie nicht in jedem Fall als direkter Beweis für Nutzen oder Schaden der
neuen Behandlung ausgelegt werden.
Plazebo- oder Suggestiv-Effekte sind wichtige
Probleme bei der Überprüfung echter versus
vermeintlicher «klinischer» Effekte. In der Therapie sind Plazebo-Effekte gut bekannt. Interessanterweise sind auch andere Gebiete, so die
Epidemiologie, davon betroffen.
Ein Krebsregister in Kanada gab eine Warnung heraus, wonach die Krebsinzidenz lokal
gestiegen wäre. Dies wurde von der Presse
dramatisch aufgebauscht, und die Bevölkerung berichtete zunehmend über Beschwerden, die zu Krebskrankheiten gepasst hätten.
Es stellte sich heraus, dass die Warnung haltlos war, da sie auf einer Fehlberechnung
beruhte. Der Vorfall illustriert den PlazeboEffekt einer nicht fundierten Krebswarnung
in der Bevölkerung [3].
Es ist nicht einfach, derartigen Problemen bei
der Lektüre von Fachliteratur auf die Spur zu
kommen. Wir versprechen keine Patent-Rezepte, stellen jedoch einige Hinweise auf Hilfsmittel und Anregungen für kritischen Umgang
mit Gedrucktem in Aussicht.
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Beweiskraft von Kasuistiken ist gering, wenn
es darum geht, neue klinische Standards zu
erarbeiten (Tab. 2). Dagegen schwingen grosse randomisierte Studien, v.a. Metaanalysen
obenaus, die neue Therapien vergleichend gegenüber eingebürgerten «Standards» prüfen
[4].
«Der Fall» (kasuistische Berichte)
Der Patient, dessen Schicksal wir persönlich
miterleben, ist ein wichtiger Lehrmeister. Fallbesprechungen nehmen denn in internen Weiter- und Fortbildungsprogrammen von Kliniken, aber auch in Kongressen und Kursen
einen prominenten Platz ein. Dies scheint im
Widerspruch zu stehen mit dem niedrigen
«level of evidence» kasuistischer Berichte. Es
ist jedoch berechtigt, den meisten Fallberichten
eine geringe «Beweiskraft» zuzugestehen, da
die Abgrenzung zwischen «regulären» Verläufen und Ausnahmefällen nicht immer einfach
ist. Falls eine «neue» Therapie tatsächlich
einen durchschlagenden Effekt erzielt (beispielsweise die rasche Heilung einer vormals
nicht kurativ behandelbaren Krankheit), so
mögen in der Tat wenige klinische Fälle als Beweismaterial genügen, um aus der klinischen
Beobachtung einen neuen allgemein gültigen
Therapiestandard abzuleiten. Die Einführung
der Antibiotika in die Behandlung vormals letaler Infektionskrankheiten (z.B. der bakteriellen Meningitis) verbesserte deren Prognose
derart drastisch, dass keine weiteren Studien
(allenfalls mit Randomisation gegen Plazebo!)
benötigt wurden, um den Nutzen zu belegen.
Für den Nachweis bescheidener (wenn auch
klinisch durchaus relevanter) Effekte, wie sie
vielen neuen Behandlungen eigen sind, sind
Kasuistiken indessen nicht das richtige Mittel.
«Levels of evidence»
Nicht allen Studien kommt dasselbe wissenschaftliche Gewicht zu. Die wissenschaftliche
Tabelle 2. «Levels of evidence» [4].
«Levels of evidence» zur Abstützung klinischer Entscheide
Level I
Grosse, sogenannte Meta-Analysen
Grosse randomisierte klinische Studien mit hohem statischem «power» und mit
niedrigem Risiko falsch positiver und/oder falsch negativer Daten
Level II
Kleinere Meta-Analysen
Kleinere bis mittelgrosse randomisierte klinische Studien mit geringem
bis mittlerem statischem «power» (und damit relativ hohem Risiko v.a. für
falsch negative Resultate)
Level III
Prospektive, aber nicht-randomisierte klinische Studien
Level IV
Retrospektive Studien
Level V
Kasuistik, persönliche Meinungen und Erfahrungen
Fallserien
Wenn ein einzelner Fall nicht ausreicht, um den
Beleg für den Nutzen einer Therapie zu erbringen, so müsste als Beweislast vielleicht genügen, den Effekt bei anderen Patienten mit derselben Krankheit zu bestätigen. Studien, die
über Therapieresultate des Medikaments A bei
n Patienten berichten, sind denn auch ausgesprochen verbreitet. Oft handelt es sich um retrospektiv zusammengesuchte Fallserien aus
klinischem Archivmaterial, mit deren Zusammenstellung Heerscharen von Dissertanden
ihren Doktorhut erwerben können. Prospektiv
zusammengetragene Daten basieren auf Protokollen, in welchen die Diagnostik, die Selektionskriterien für die Patienten, die Therapie
und Verlaufsuntersuchungen vor Studienbeginn festgelegt (und hoffentlich eingehalten)
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werden. Und doch kommt Publikationen über
retro- und prospektive klinische Studien eine
relativ bescheidene Beweiskraft zu. Wo liegen
die Probleme?
In einer Studie zur Wirkung eines neuen Medikaments bei einer bestimmten Krankheit wäre
es wünschenswert, herauszuarbeiten, inwiefern das Medikament an und für sich (und nicht
andere Faktoren) den Verlauf bestimmt. Unabhängig von der Therapie sind bei der gleichen
Krankheit in der Regel prognostische Faktoren
«aktiv», die den Verlauf massgeblich mitbestimmen. Ist die Therapie zwar wirksam, aber
ihr Effekt bescheiden, so nimmt der Einfluss
prognostischer Faktoren auf den Verlauf unter
Umständen überhand – ist der Krankheitsverlauf günstig, so ist die Versuchung gross, ihn
einem (allenfalls nicht existenten!) Effekt einer
neuen «viel versprechenden» Therapie zuzuschreiben. In retrospektiv zusammengestellten
Fallstudien ist die Standardisierung der Diagnostik und damit die Überprüfung der Diagnosen oft unmöglich. So wird diskutiert, ob die
Östrogen-Substitution zur Vorbeugung von M.
Alzheimer dienlich sei. Die Schwierigkeit dieser Studien liegt darin, dass die AlzheimerKrankheit oft nicht klar von einer vaskulär bedingten Demenz abzugrenzen ist, bei der
Östrogene tatsächlich nützlich sein können.
Das metastasierende Mammakarzinom bietet
ein gutes Beispiel für das Problem der Krankheits-Heterogenität innerhalb «identischer
Diagnosegruppen»: Der Verlauf ist ausgesprochen unterschiedlich, und die klinische Palette
reicht vom fulminanten rasch letalen Verlauf
bis zu Patientinnen, die bei nachgewiesenen
Metastasen (namentlich Skelett- und Hautmetastasen) jahrelang leben. Prognostische Faktoren wie Erkrankungsalter, HormonrezeptorStatus und anderes mehr sind Mitspieler, die
das Schicksal einer Patientin wesentlich mitfärben (Tab. 3).
Die Hochdosis-Chemotherapie beim metastasierenden Mammakarzinom bietet ein gutes
Beispiel für den quantitativ beträchtlichen Effekt der Patienten-Selektion auf Parameter wie
rezidivfreies oder Gesamtüberleben.
Zahlreiche Publikationen scheinen Vorteile
einer hoch dosierten Chemotherapie beim
metastasierenden Mammakarzinom gegenüber weniger intensiven Zytostatika-Kombinationen und -Dosierungen aufzuzeigen. Einige
Studien sind der interessanten Frage nachgegangen, inwiefern Selektionskriterien für
Hochdosistherapien per se eine günstigere
Prognose anzeigen. Patientinnen, die für
Hochdosistherapien in Frage kommen, sind
in der Tat streng selektioniert. Sie sind in der
Regel relativ jung, ihr Allgemeinzustand gut,
ihre kardiale Funktion geprüft und für gut
befunden (als Voraussetzung für eine hoch
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Tabelle 3. Die «stillen» Statistiker
in der klinischen Onkologie.
Tumorheterogeneität bei «gleicher Diagnose»
Patienten-Selektion
Vorgefasste Meinungen der Ärzte und/oder
der Patienten
dosierte Anthrazyklin-Therapie). Diese Selektionskriterien, die erfüllt sein müssen, damit
eine Patientin überhaupt für eine Hochdosistherapie in Frage kommt, sind eo ipso
wichtige prognostische Faktoren, die einen
markant günstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen, unabhängig vom eigentlichen Therapieeffekt [5].
Wunschdenken oder un-/bewusst persönlich
gefärbte Interpretation klinischer Daten durch
Studienleiter, Prüfärzte und durch die Patienten selbst können einen unerwünschten Einfluss auf klinische Daten ausüben, vor allem
wenn «subjektive» klinische Parameter zur Debatte stehen.
In einer englischen Studie über den Effekt von
Antihypertensiva wurden Studienpatienten,
ihre Angehörigen und die behandelnden
Ärzte separat gebeten, Angaben bzw. eine
Einschätzung der Lebensqualität der Patienten unter Therapie zu geben [6]. Die Resultate
divergierten in erstaunlichem Mass: Die Ärzte
beurteilten die Lebensqualität ihrer Patienten
durchwegs als ausgezeichnet, die Patienten
nahmen eine «Mittelstellung» ein, und die Angehörigen waren durchwegs überzeugt, dass
die Lebensqualität der Patienten unter Therapie schlechter sei.
Gruppen vergleichen
Die Prüfung neuer Therapien erfolgt oft und
sinnvollerweise im Vergleich mit eingebürgerten Behandlungen. Es stellt sich die Frage, wie
solche Vergleiche «technisch» zu bewerkstelligen wären, damit sie aussagekräftig sind. Idealerweise sollten sich die Patientengruppen nur
in der gewählten Therapie (z.B. altes versus
neues Medikament) unterscheiden, so dass Unterschiede in den Verläufen (z.B. geringere Rezidivrate, längeres Überleben) auf einen Therapieeffekt zurückgeführt werden können. Die
Bildung der Vergleichsgruppen sollte insbesondere gewährleisten, dass wesentliche klinische
und biologische Faktoren, die unabhängig von
der Therapie den Verlauf bestimmen, in beiden
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Gruppen gleichmässig vertreten sind (z.B. Patientenalter, Tumorstadium, Verteilung molekularer/biologischer Prognosefaktoren).
«Historische» Kontrollgruppen
Der Vergleich einer prospektiv behandelten Patientengruppe mit sog. «historischen» Kontrollgruppen ist gängig. Es handelt sich dabei
um klinische Datenbanken von Patienten, die in
einer früheren Periode (meist vor Beginn einer
neuen Studie) mit einer «alten» Therapie behandelt und dokumentiert worden waren.
Diese archivierten Daten werden zum Vergleich
mit den Resultaten der Nachfolge-Studie herangezogen. In der Regel achten die Autoren
darauf, dass sich die früheren und die neuen
Patienten hinsichtlich bekannter wichtiger
prognostischer Faktoren nicht unterscheiden,
und sie hoffen, damit dem bereits diskutierten
Selektionseffekt auszuweichen. Beispielsweise
wird in der Onkologie darauf geachtet, dass die
zu vergleichenden Gruppen bezüglich Alter, Tumorstadium, Ausmass der Metastasierung und
in bezug auf weitere wichtige klinische und biologische Tumorcharakteristika keine wesentlichen Unterschiede aufweisen. Trotz dieser Vorsichtsmassnahmen sind derartige Vergleiche
mit Problemen behaftet, aus dem einfachen
Grund, weil nie alle wichtigen Krankheitscharakteristika in beiden Gruppen ausgewogen
vorliegen. In der Onkologie ist der «Will Rogers
Effekt» oder das Phänomen der «stage migration» bekannt geworden [7].
Zur Zeit der amerikanischen ökonomischen
Depression sahen sich viele Bevölkerungsgruppen in den USA gezwungen, aus ihren angestammten Lebensräumen auszuwandern.
So zogen beispielsweise Einwohner von
Oklahoma («Okies») nach Kalifornien. Will
Tabelle 4.
«Stage migration» und Überleben von Patienten mit Lungenkarzinom
bei Verbesserung der Diagnostik (schematische Darstellung; Überlebensraten nach einer adäquaten Beobachtungsperiode in % angegeben).
Früheres «staging» mit alten Methoden
Stadium I
Stadium II
90%
Untergruppen innerhalb
der heterogenen Stadien I–III
100%
50%
80%
60%
Stadium III
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Rogers, ein amerikanischer Humorist und
Philosoph, kommentierte diese Bevölkerungsverschiebung mit dem Bonot «when the Okies
left Oklahoma and moved to California, they
raised the average intelligence level in both
states». Ganz offensichtlich hielt Rogers
wenig von den intellektuellen Kapazitäten der
ausgewanderten Okies, aber noch weniger
von denjenigen der Californians.
Der «Will Rogers Effekt» wurde am Beispiel
des Lungenkarzinoms untersucht. Bei gleichbleibender Definition der TNM-Tumorstadien
wurden die Möglichkeiten zur Abklärung,
zum «staging» des Lungenkarzinoms in den
letzten Jahrzehnten erheblich verfeinert. Eine
Studie der Yale University School of Medicine
illustrierte das Problem der «stage migration»
eindrücklich [7]. Zwei Kohorten von Patienten
mit Lungenkrebs wurden verglichen: eine aus
den Jahren 1953–1964 und eine spätere aus
dem Jahre 1977. Den Patienten, die 1977 abgeklärt wurden, kamen technische Neuerungen zugute, vor allem bildgebende Verfahren,
die regionäre Lymphknotenmetastasen sensitiver nachwiesen. Wurden beim «staging» der
Patienten in der zweiten Kohorte nur die Untersuchungsresultate von Techniken berücksichtigt, die auch der ersten Kohorte zur Verfügung gestanden hatten, so ergaben sich
(scheinbar) mehr Patienten im Stadium I (definiert durch das Fehlen von Lymphknotenmetastasen) und (scheinbar) weniger im Stadium III.
Tabelle 4 stellt schematisch den Effekt der
«stage migration» auf die Überlebensraten
der Patienten dar. Die Prognose von Patienten
im TNM-Stadium II scheint sich gebessert zu
haben (Gesamtüberleben früher 50% versus
neu 70%). Diese «Prognoseverbesserung»
kommt dadurch zustande, dass gewisse Patienten dank neuen Untersuchungstechniken
einem höheren Stadium zugeteilt werden
(beispielsweise durch die sensitivere Erfassung von mediastinalen Lymphknotenmetastasen). Nehmen wir an, es sei zwischen den
60er und den späten 70er Jahren eine neue
(aber unwirksame) Therapie für Lungenkarzinom im Stadium II eingeführt worden. Bei
einem Vergleich behandelter Patienten im
Stadium II aus der jüngeren Kohorte mit
Patienten aus der älteren Kohorte würde
die Prognoseverbesserung im Überleben von
20% fast sicher der neuen Therapie zugeschrieben.
10%
40%
20%
0%
Stadium I
Stadium II
Stadium III
100%
70%
20%
Neues «staging» mit sensitiveren Methoden
Historische Vergleichsgruppen bieten also
Fussangeln, die einem verlässlichen Vergleich
neuer und alter Therapien in die Quere kommen. Gibt es andere Möglichkeiten, Kontrollgruppen zur Evaluation einer neuen Therapie
heranzuziehen?
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«Responders»
und «Non-Responders»
Anstelle historischer Vergleichsgruppen werden in einer onkologischen Studie gelegentlich
Patienten, die auf eine Therapie angesprochen
haben, verglichen mit Patienten, die nicht angesprochen haben. Stellt sich heraus, dass die
«responders» einen besseren Verlauf zeigen als
die Patienten mit therapierefraktärer Krankheit (z.B. Patienten mit Zytostatika-resistenten
Tumoren), so scheint der Beweis für die Wirksamkeit eines neuen Medikaments sauber erbracht. Ist dem so?
Die Coronary Drug Project Research Group
verglich bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit Clofibrat, einen Lipidsenker, mit
Plazebo, und zwar in einer randomisierten
Studie mit hohem statistischem «power» [8].
Patienten mit hoher «compliance», die nachweislich mehr als 80% ihrer Clofibrat-Tablet-
Tabelle 5.
Gründe, warum Tumorpatienten, die auf Therapie nicht ansprechen,
ohnehin einen ungünstigen Verlauf zeigen.
Patienten, die unter Chemotherapie eine Tumorremisson erzielen, erhalten mehr und
länger Therapie, während sie bei «non-responders» früher abgesetzt wird.
«Responders» weisen ohnehin eine bessere Prognose auf, unabhängig vom Therapieeffekt. So sind biologische Parameter, die Zytostatika-Resistenz vermitteln, oft eo ipso
ungünstige prognostische Faktoren.
In die Gruppe der «non-responders» werden oft Patienten eingeschlossen, die früh
sterben, bevor der Therapieeffekt definitiv beurteilt werden kann (z.B. Patienten mit
akuten Leukämien, die in der Aplasiephase der Induktionstherapie an Komplikationen
sterben, bevor die allfällige Leukämieremission erfasst werden kann).
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ten schluckten («responders»), verzeichneten
eine signifikant tiefere Mortalität als weniger
disziplinierte Patienten. Damit wäre an und
für sich (losgelöst vom Vergleich mit der Plazebo-Gruppe) eine günstige Wirkung der Substanz belegt, die davon abhängt, ob der Patient das Medikament konsequent einnimmt.
Interessanterweise fand sich derselbe Effekt
auch bei der Plazebo-Gruppe: Patienten, die
mindestens 80% ihrer verschriebenen Plazebo-Tabletten einnahmen («Plazebo-responders»), erfreuten sich ebenfalls einer statistisch signifikant geringeren Mortalität als die
weniger disziplinierten. Compliance zahlte
sich also auch im Plazebo-Arm der Studie aus.
Die Gesamt-Resultate der Studie (Vergleich
zwischen Clofibrat und Plazebo) konnten
keine Mortalitätssenkung durch Clofibrat
nachweisen.
Patienten mit Tumorerkrankungen, die nicht
auf Chemotherapie ansprechen, unterscheiden
sich in wichtigen Charakteristika von Patienten, die eine Tumorremission zeigen. Diese
Charakteristika bestimmen ihrerseits die
Prognose, unabhängig vom Therapieeffekt
(Tab. 5).
Haben wir den Grossteil der klinischen Studien
mit unseren Ausführungen soeben zu Grabe getragen? Nein! Fallberichte und einzelarmige
retro- oder prospektive Studien sind wesentlich
und wertvoll, vorausgesetzt, dass ihre Daten
korrekt interpretiert werden. In den problematischen Situationen, die wir aufgezeigt haben,
sind allerdings andere Studienanlagen nötig,
um in der Erarbeitung neuer klinischer Konzepte weiterzukommen. So werden wir uns
denn im Folgeartikel mit randomisierten Studien, mit Metaanalysen und nicht zuletzt mit
den Problemen der Publikationsmechanismen
an und für sich beschäftigen.
Literatur
1 Sackett DL, Richardson WS, Rosenberg W, Haynes RB. Evidence-based
medicine. How to practice and teach
EBM. 1st ed. Churchill Livingstone;
1997.
2 Semenza J, Rubin CH, Falter KH, Selanikio JD, Flanders D, Howe HL, et
al. Heat-related deaths during the
July 1995 heat wave in Chicago. N
Engl J Med 1996;335:84-90.
3 Guidotti TL, Jacobs P. The implications of an epidemiological mistake:
a community’s response to a perceived excess cancer risk. Am J
Public Health 1993;83:233-9.
4 The Steering Committee on Clinical
Practice Guidelines for the Care and
Treatment of Breast Cancer. Clinical
practice guidelines for the care and
treatment of breast cancer. A Canadian consensus document. Can Med
Assoc J 1998;158(3 Suppl):S2.
5 Rahman ZU, Frye DK, Buzdar AU,
Smith TL, Asmar L, Champlin RE, et
al. Impact of selection process on response rate and long-term survival
of potential high-dose chemotherapy
candidates treated with standarddose doxorubicin-containing chemotherapy in patients with metastatic
breast cancer. J Clin Oncol 1997;
15:3171-7.
6 Jachuck SJ, Brierley H, Jachuck S,
Willcox PM. The effect of hypotensive
drugs on the quality of life. J R Coll
Gen Pract 1982;32:103-5.
7 Feinstein AR, Sosin DM, Wells CK.
The Will Rogers phenomenon. Stage
migration and new diagnostic techniques as a source of misleading statistics for survival in cancer. N Engl J
Med 1985;312:1604-8.
8 The Coronary Drug Project Research
Group: Influence of adherence to
treatment and response of cholesterol on mortality in the coronary
drug project. N Engl J Med 1980;303:
1038-41.
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