Jahrbuch 2010/2011 | Luther, Stefan | Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen Controlling of spatio-temporal dynamics of the heart Luther, Stefan Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen sind die Folge komplexer, oftmals chaotischer, raum-zeitlicher Erregungsmuster des Herzens. Das Verständnis der zugrundeliegenden dynamischen Prozesse eröffnet neue Perspektiven für Diagnostik und Therapie. Summary Life-threatening cardiac arrhythmias are associated w ith complex, often chaotic, spatial-temporal patterns of electrical excitation. Understanding the underlying dynamical processes opens new perspectives for diagnostics and therapy. In Deutschland sterben jährlich mehr als 100.000 Menschen am plötzlichen Herztod, verursacht durch maligne ventrikuläre Arrhythmien, w ie z. B. dem Kammerflimmern. W ährend beim normalen, regelmäßigen Herzschlag eine W elle elektrischer Erregung über den Herzmuskel läuft und diesen zu einer koordinierten Kontraktion bringt, ist beim Kammerflimmern die raum-zeitliche Anregung chaotisch und die geordnete mechanische Bew egung des Herzmuskels unterbunden. In Folge kann der Herzmuskel kein Blut pumpen. W ird dieser Zustand nicht innerhalb w eniger Minuten beendet, tritt der Herztod ein. Die Mechanismen, die zum Auftreten von Kammerflimmern führen, sind trotz intensiver Forschung auf diesem Gebiet noch w eitestgehend unverstanden. Derzeit ist die Defibrillation mit hochenergetischen elektrischen Schocks die einzige effiziente Therapie, um lebensgefährliches Kammerflimmern zu beenden. Ziel der Defibrillation ist, alle Erregungsw ellen im gesamten Herzgew ebe gleichzeitig zu beenden. Die hierzu notw endigen hohen Energien können allerdings zu erheblichen Schädigungen des Herzmuskels und zu traumatischen Schmerzen beim Patienten führen. Dies motiviert die Suche nach alternativen, schonenderen Therapien. Eine w irkungsvolle und im Idealfall schmerzfreie Therapie von Arrhythmien hätte vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und demoskopischen Entw icklung eine erhebliche sozio-ökonomische Bedeutung. Ursache von Herzrhythmusstörungen © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/5 Jahrbuch 2010/2011 | Luther, Stefan | Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen A bb. 1: R a um -ze itliche s Erre gungsm uste r a uf de r O be rflä che e ine s He rze ns wä hre nd k a rdia le r Fibrilla tion (Bildfe ld 6 x 6 cm 2). Fa rbcode : schwa rz = in R uhe , ge lb = e rre gt. © Ma x -P la nck -Institut für Dyna m ik und Se lbstorga nisa tion Der Herzmuskel ist ein erregbares Medium. Die physiologische Ausbreitung elektrischer Erregung erfolgt ausgehend vom Taktgeber des Herzens, dem Sinusknoten, über die Vorhöfe, durch den Atrioventrikularknoten und das nachfolgende Erregungsleitungssystem und erreicht schließlich die rechte und linke Kammer. Die regelmäßige, elektrische Erregung führt in der Folge zu einer koordinierten Muskelkontraktion des Herzens und einer effektiven Pumpfunktion. Neben dieser lebensw ichtigen Funktion ist eine raum-zeitlich komplexe, gleichw ohl pathologische Anregung im Herzmuskel möglich (Abb. 1) [1]. Das Auftreten von Spiralw ellen elektrischer Erregung w ird assoziiert mit sehr schnellen, periodischen Anregungen, dem sogenannten Herzrasen bzw . der Tachykardie. Das Aufbrechen der Spiralarme führt zu raum-zeitlich chaotischer Dynamik. In diesem als Fibrillation bezeichneten Zustand kommt es zu inkohärenter, nicht koordinierten Muskelkontraktion und in Folge zu einem Erliegen der Pumpleistung. Anhaltende Fibrillation der Herzkammern führt innerhalb von Minuten zum plötzlichen Herztod. A bb. 2: Fibrilla tion in de r Ze llk ultur. Da rge ste llt ist die P ha se de r rotie re nde n W e lle n und die P osition de r P ha se nsingula ritä te n (rot = im Uhrze ige rsinn rotie re nd, grün = e ntge ge n de m Uhrze ige rsinn rotie re nd; Bildfe ld 4 x 4 cm 2). © Ma x -P la nck -Institut für Dyna m ik und Se lbstorga nisa tion / C . R ichte r Methoden und Konzepte der nichtlinearen Dynamik erlauben es, die elektromechanischen Instabilitäten und Bifurkationen und die arrhythmogenen Eigenschaften des multizellulären Substrates zu charakterisieren. W esentlich ist hierbei die Vorstellung der Herzrhythmusstörung als sogenannte dynamische Krankheit [2], der zufolge sich das Entstehen der Störungen als dynamischer Prozess darstellt und sich durch den Übergang von einfacher zu komplexer raum-zeitlicher Dynamik manifestiert. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Arrhythmien sind die Eigenschaften sogenannter Phasensingularitäten, die den Kern einer rotierender Spiralw ellen charakterisieren und deren topologische Ladung ihren jew eiligen Drehsinn anzeigt. Abbildung 2 zeigt die für kardiale Fibrillation typische transiente Dynamik von Phasensingularitäten am Beispiel einer zw eidimensionalen Zellkultur. Aufgrund der Erhaltung der topologischen Ladung können Singularitäten nur jew eils paarw eise entstehen oder vernichtet w erden. Diese Ladungserhaltung ist eine w esentliche Ursache für erhebliche Schw ierigkeiten, die selbsterregte, raum-zeitlich chaotische Dynamik der Fibrillation zu beenden (Abb. 3). © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/5 Jahrbuch 2010/2011 | Luther, Stefan | Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen A bb. 3: 3D-R e k onstruk ution e ine s Ka ninche n-He rze n. (A) 3DO be rflä che n-Ge om e trie de r He rze ns. (B) Da rste llung de r photore a listische n, a na tom ische n O be rflä che nte x tur. (C ) Me ssung de r Me m bra nspa nnung und P roje k tion a uf die O rga nobe rflä che . Fa rbcode : schwa rz = in R uhe , ge lb = e rre gt. © Ma x -P la nck -Institut für Dyna m ik und Se lbstorga nisa tion Neue Wege zur schonenden Terminierung von Arrhythmien Der Schlüssel für die Entw icklung neuer, schonender Verfahren zum Beenden lebensgefährlicher Arrhythmien beruht auf zw ei Beobachtungen. Die erste Beobachtung ist, dass die komplexe, raum-zeitliche Dynamik des Herzens w ährend der Arrhythmie auf dem Vorhandensein und der W echselw irkung einer geringen Anzahl von Phasensingularitäten bzw . –filamenten beruht. Die zw eite Beobachtung ist, dass kleine Störungen des Systems insbesondere dann w irkungsvoll sind, w enn sie in unmittelbarer Nähe der Phasensingularitäten angebracht w erden. Ein W eg zum schonenden Beenden von Arrhythmien bestünde also darin, die die Arrhythmie treibenden Phasensingularitäten mit kleinen, lokalen Störungen zu kontrollieren und schließlich zu entfernen. Die Umsetzung dieser Strategie scheiterte jedoch bisher daran, dass die hierfür notw endige Anzahl von Metallelektroden nicht in den Herzmuskel eingebracht w erden kann, da die Verankerung dieser Elektroden im Muskel zu einer nicht tolerierbaren Schädigung des Muskels führen w ürde. Die Lösung dieses Problems beruht nun auf einer von Pumir et al. [3] zunächst in der Theorie vorgeschlagenen Strategie, bei der sogenannte virtuelle Elektroden die Rolle der invasiven Metallelektroden übernehmen sollen. Virtuelle Elektroden können durch ein äußeres elektrisches Feld an anatomischen Heterogenitäten der elektrischen Leitfähigkeit im Muskel induziert w erden. Heterogenitäten dieser Art kommen im Herzen aufgrund seiner komplexen Anatomie und Funktion vielfältig vor. Neben sich baumartig verzw eigenden Muskelstrukturen sow ie Einw ölbungen an den Herzinnenw änden zählt hierzu insbesondere das koronare Gefäßsystem selbst. Von einem interdisziplinären Team am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und an der Cornell University konnte der erste experimentelle Nachw eis in vitro erbracht w erden, dass Fibrillation in der Tat mithilfe virtueller Elektroden nicht invasiv und effektiv kontrolliert w erden kann [4]. Durch eine Folge von fünf Pulsen eines schw achen äußeren elektrischen Feldes w urde Fibrillation in den Vorhöfen terminiert, mit einer um etw a 80-90 Prozent reduzierten Energie im Vergleich zu dem konventionellen Elektroschock. Kontrolle Elektrische Turbulenz im Herz Die Ursache dieser signifikanten Energiereduktion ist die Möglichkeit, mithilfe virtueller Elektroden direkten Einfluss auf die Dynamik der Phasensingularitäten zu nehmen. Dies ist um so w ichtiger, w enn sich Spiralw ellen an anatomische Heterogenitäten anheften und um diese rotieren. Die Arbeitsgruppe um Igor Efimov an der W ashington University in St. Louis konnte im Experiment zeigen, dass einzelne Spiralw ellen durch ein schw aches, gepulstes elektrisches Feld von der Heterogenität abgelöst w erden können (sogenanntes unpinning) [5,6]. Dieser Mechanismus w urde nun für die Kontrolle vieler Spiralw ellen verallgemeinert. Mithilfe © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/5 Jahrbuch 2010/2011 | Luther, Stefan | Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen von Computersimulationen ist es möglich, w eitere Details der komplizierten Dynamik zu analysieren, um so die Terminierung von Spiralw ellen zu optimieren [7–9]. Neben diesen dynamischen Prozessen gelingt es zunehmend, molekulare Mechanismen der Arrhythmie-Entstehung zu identifizieren [10]. Kooperative Forschungsstrategie – from bench to bedside Die Erforschung von Herzrhythmusstörungen und die Entw icklung neuer diagnostischer und therapeutischer Strategien erfordert ein interdisziplinäres und kollaboratives Forschungsumfeld. Von besonderer Bedeutung ist hierfür das Heart Research Center Göttingen (HRCG), ein Zusammenschluss von universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Göttingen sow ie das von Prof. S.E. Lehnart (Universitätsmedizin Göttingen) koordinierte Verbundprojekt EUTrigTreat. Translationale kardiologische Forschung hat das Ziel, Erkenntnisse der Grundlagenforschung rasch und effektiv in die klinische Anw endung zu überführen. Das Beispiel erfolgreicher Niedrigenergie-Defibrillation zeigt, w ie w ichtig die Rolle der nichtlinearen Dynamik und Konzepte der Selbstorganisation für die erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie ist. S.L. acknow ledges support from the MPG and BMBF (FKZ 01EZ0905/6). The research leading to the results has received funding from the European Community's Seventh Framew ork Programme FP7/20072013 under grant agreement 17 No. HEALTH-F2-2009-241526, EUTrigTreat. [1] F.H. Fenton, E.M. Cherry: Visualization of spiral and scroll waves in simulated and experimental cardiac tissue. New Journal of Physics 10, 125015 (2008). [2] J. Bélair, L. Glass, U. an der Heiden, J. Milton: Dynamical disease: Identification, temporal aspects and treatment strategies of human illness. Chaos 5, 1-7 (1995). [3] A. Pumir, V. Nikolski, M. Hörning, A. Isomura, K. Agladze, K. Y oshikawa, R. Gilmour, E. Bodenschatz, V. Krinsky: Wave Emission from Heterogeneities Opens a Way to Controlling Chaos in the Heart. Physical Review Letters 99, 208101 (2007). [4] F.H. Fenton*, S. Luther*, E.M. Cherry, N.F. Otani, V. Krinsky, A. Pumir, E. Bodenschatz, and R.F. Gilmour, Jr.: Termination of Atrial Fibrillation Using Pulsed Low-Energy Far-Field Stimulation. Circulation 120, 467-476 (2009). * both authors have contributed equally. [5] C. M. Ripplinger et al.: Mechanisms of unpinning and termination of ventricular tachycardia, Americal Journal of Physiology 291, H184-H192 (2006). [6] S. Takagi et al. Unpinning and removal of a rotating wave in cardiac muscle. Physcial Review Letters 93, 058101 (2004). [6] S. Takagi et al.: Unpinning and removal of a rotating wave in cardiac muscle. Physcial Review Letters 93, 058101 (2004). © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/5 Jahrbuch 2010/2011 | Luther, Stefan | Kontrolle raum-zeitlicher Dynamik im Herzen [7] P. Bittihn, A. Squires, G. Luther, E. Bodenschatz, V. Krinsky, U. Parlitz, S. Luther: Phase-resolved analysis of the susceptibility of pinned spiral waves to far-field pacing in a twodimensional model of excitable media. Philosophical Transactions of the Royal Society A 368, 2221-2236 (2010). [8] P. Bittihn, G. Luther, E. Bodenschatz, V. Krinsky, U. Parlitz, S. Luther: Far field pacing supersedes anti-tachycardia pacing in a generic model of excitable media. New Journal of Physics 10, 103012 (2008). [9] A. Pumir et al.: Wave-train-induced termination of weakly anchored vortices in excitable media. Physical Review E 81, 010901(R) (2010). [10] S. Petitprez et al.: SAP97 and Dystrophin Macromolecular Complexes Determine Two Pools of Cardiac Sodium Channels Nav1.5 in Cardiomyocytes. Circulation Research 108, 294-304 (2011). © 2011 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/5