Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Theorien Smiths, Ricardos und Marx’ von Joachim Böhm, Martin Müller und Tibor Zenker Wie schon W. I. Lenin in seiner Schrift "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus" darlegt, ist die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als "direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus"[1] entstanden. In diesem Sinne wollen wir im folgenden zeigen, welch große Bedeutung die Theorien von Adam Smith und David Ricardo für die Evolution der Marxschen Erkenntnisse besitzen, die dann schließlich im "Kapital" in ausgereifter Form ihren Niederschlag gefunden haben. Um sowohl Marx als auch seinen bürgerlichen Vorläufern gerecht zu werden, gilt es jedoch zu beachten, sich weder darauf zu reduzieren, der klassischen bürgerlichen Ökonomie ausschließlich ihre Fehler vorzurechnen, noch Marx als bloßen Epigonen Ricardos zu bezeichnen. Wesentlich erscheint viel mehr, das Augenmerk auf die Betonung der ideengeschichtlichen Kontinuität in der Entwicklung der bürgerlichen Klassik zu Karl Marx zu legen. Die ökonomische Theorie von Marx bedeutet zweifellos einen qualitativen Sprung in der Geschichte der politischen Ökonomie, und zwar sowohl aufgrund ihrer wissenschaftlichen Methode, ihrer inneren Geschlossenheit, ihrer sich in Übereinstimmung mit der Realität befindlichen Aussagkraft und ihres den bürgerlichen Denkhorizont deutlich überschreitenden Charakters. Oder wie Friedrich Engels über "Das Kapital" schreibt: "Solange es Kapitalisten und Arbeiter in der Welt gibt, ist kein Buch erschienen, welches für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre wie das vorliegende. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht, ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich entwickelt."[2] Unter diesen Gesichtspunkten ist Marx sehr wohl von der klassischen bürgerlichen Ökonomie getrennt, an dieser Stelle zeigt sich eine gewisse ideengeschichtliche Diskontinuität. Doch die Dialektik der Entwicklung ist gleichermaßen durch eine kontinuierliche Komponente bestimmt. Das gilt für den historischen Erkenntnisprozess der einzelnen politisch-ökonomischen Kategorien wie für die politische Ökonomie als Ganzes. Daher hat es auch keinen Sinn, die Analyse der klassischen Einzeltheorien (z.B. Geldtheorie) darauf zu beschränken, deren Unzulänglichkeiten aufzudecken. Diese Theorien sind dahingehend zu analysieren, welche Fortschritte sie der menschlichen Erkenntnis bringen. Wir wollen nun versuchen, anhand von Adam Smith und David Ricardo sowie ihren prinzipiellen Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte der politischen Ökonomie die grundsätzlichen Beziehungen zwischen der marxistischen Theorie und der klassischen Ökonomie mit ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu zeigen. Karl Marx hat Smith als Grundleger der politischen Ökonomie bezeichnet, um hervorzuheben, dass hier eine neue Stufe der Entwicklung eingeleitet worden ist. Smith gilt zurecht als Begründer der bürgerlichen Klassiker. "Die große Leistung der Klassiker besteht in der Entdeckung, dass der Profit, der Mehrwert, aus der Arbeit schlechthin stammt."[3] Erst bei Smith nimmt die politische Ökonomie die Gestalt einer Wissenschaft an. Marx macht auf die dialektische Beziehung zwischen Smith und seiner ökonomischen Basis einerseits und seinen Vorgängern andererseits aufmerksam und zeigt, dass Smith gerade deshalb Grundleger der politischen Ökonomie werden konnte, weil er die realen ökonomischen Gegebenheiten analysierte und unter Zuhilfenahme und Weiterentwicklung der bisherigen Erkenntnisse der politischen Ökonomie theoretisch im Interesse des Bürgertums verallgemeinerte. Smiths Stellung erklärt sich auch daraus, dass erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Reifegrad sowohl der kapitalistischen ökonomischen Basis als auch der politischen Ökonomie weit genug fortgeschritten war, um die Entwicklung einer Theorie zu gestatten, die alles andere auf diesem Gebiet erreichte in den Schatten zu stellen vermochte. Obwohl die politische Ökonomie "als eigene Wissenschaft erst in der Manufakturperiode aufkommt"[4], gab es auch vor Adam Smith eine Reihe von Theoretikern, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Zum Teil in engster Verbindung zur Philosophie haben schon im 17. Jahrhundert insbesondere William Petty, John Locke und Dudley North Ideen zur Analyse des Kapitalismus und der ihm innewohnenden ökonomischen Gesetze geäußert. Charakteristisch für diese Zeit sind jedoch merkantilistische Gedanken bezüglich der Quantität der Schriften, in deren Mittelpunkt die Grundvorstellung steht, Profit sei nichts anderes als ein Tauschgewinn, während die Frage nach der Bedeutung der Warenproduktion und damit der schaffenden Arbeit ausgeklammert bleibt. Erst im 18. Jahrhundert reifen auch die theoretischen Bedingungen heran, den Merkantilismus und die damit verbundene Einstellung zur politischen Ökonomie langsam zu überwinden. Als Vertreter können u.a. David Hume, Abraham Tucker, Richard Cantillon, Joseph Massie und James Steuart angeführt werden. Die politische Ökonomie wurde nicht mehr als Rezeptlieferantin für irgendwelche praktischen Belange oder als Interessensvertreterin von Kaufleuten aufgefasst, sondern sie wurde zum Erkenntnisinstrument der inneren Zusammenhänge der Produktionsweise im Interesse des Bürgertums ausgebaut. Aus dem Sammeln von Gedanken und dem Versuch, diese weiterzuführen und allgemeine Definitionen aufzustellen, entwickelte sich die politische Ökonomie als Wissenschaft der kapitalistischen Wirtschaft und deren Gesetze. Es bestand der Versuch, das zu tun, was freilich erst Adam Smith gelingen würde - nämlich die politische Ökonomie auf das Niveau zu heben, das Friedrich Engels wie folgt als politische Ökonomie wissenschaftlichen Anspruchs beschreibt: "Sie untersucht zunächst die besondern Gesetze jeder einzelnen Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausches und wird erst am Schluss dieser Untersuchung die wenigen, für Produktion und Austausch überhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können."[5] Am weitesten vorgedrungen in diese Richtung sind in England David Hume und in Frankreich die Physiokraten. Sowohl Hume als auch die Physiokraten haben sich bemüht, den Kapitalismus als Ganzes wissenschaftlich zu erfassen. Humes Hauptwerk besteht aus neun ökonomischen Essays ("Political Discourses"), die nur in loser Verbindung zueinander stehen und noch immer den Stempel merkantilistischen Denkens tragen. Wenngleich Hume gegen primitive wirtschaftliche Maßregeln despotischer Fürsten auftritt, die Lehre von der positiven Handelsbilanz kritisiert und alle relevanten ökonomischen Fragen unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Freiheit behandelt, so bleibt sein zentrales Anliegen dennoch der aus dem Handel abgeleitete Profit. Das innere Wesen der kapitalistischen Produktionsweise erfasst Hume nicht, er bleibt über weite Strecken an der Oberfläche, wenn er die ökonomische und damit vor allem militärische Macht eines Staates für den Kriegsfall als Ziel der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Volkes hinstellt. Da ihm die kapitalistische Produktion vom Mehrwert als Leitidee fremd ist, wird auch die Arbeitswerttheorie, der Hume durchaus positiv gegenübersteht, zu keiner tragenden Säule seiner Ansichten. Die Physiokraten, als deren Hauptvertreter Anne Robert Jacques Turgot und Francois Quesnay gelten, gelangen hingegen zu einer tiefgründigeren Untersuchung und Darstellung der bürgerlichen Produktions- und Klassenverhältnisse einschließlich wichtiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, wobei die Produktion gewissermaßen den Kristallisationspunkt ihrer Lehre bildet. "Die Physiokraten haben das Verdienst, den Profit aus der Produktion abgeleitet zu haben. Sie haben ihn aber nicht abgeleitet aus der Produktion schlechthin, sondern nur aus der landwirtschaftlichen Produktion."[6] Der Profit wird als natürliche Eigenschaft des Bodens betrachtet, der mehr trägt, als zur Ernährung der Arbeiter und des Viehs notwendig ist. Das Systems der Physiokraten zeichnet sich durch eine strenge innere Logik aus, es stellen sich jedoch als Konsequenz bestimmte irreale Elemente ein, so z.B. die Unproduktivität der Manufakturen. Trotz ihrer unvollkommenen ökonomischen und theoretischen Basis haben die Physiokraten wissenschaftliche Verdienste von unvergänglichem Wert geschaffen. Adam Smith hat den Physiokraten zweifellos viel zu verdanken, so z.B. in bezug auf das fundamentale Denken in kapitalistischen Kategorien oder die Systematik seiner Gedankenführung. Trotz einer gewissen Beeinflussung Smiths durch die Physiokraten darf nicht übersehen werden, dass er schon während seiner Edinburgher Vorlesungen und seiner Tätigkeit als Professor in Glasgow - also vor der intensiven Beschäftigung mit den Schriften der Physiokraten - wesentliche Gedanken seines Hauptwerks "Wealth of Nations" (1776) fast wörtlich entwickelt hat. Seine französischen Zeitgenossen haben also manches zur Vervollkommnung einzelner Seiten Smiths Systems beigesteuert, dessen prinzipielle Grundlage hat er aber unabhängig von ihnen geschaffen. Vor allem ist natürlich die Überwindung des eigenwilligen Ansatzes der Physiokraten, ihre Vorstellungen auf die agrarische Produktion zu beschränken, von entscheidender Bedeutung. Rosa Luxemburg schreibt: "In der zweiten Hälfte des 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts wurde nun die große Entdeckung von den Engländern Adam Smith und David Ricardo gemacht, dass der Wert jeder Ware nichts anderes als die in ihr steckende menschliche Arbeit ist, dass sich also beim Austausch der Waren gleiche Mengen verschiedener Arbeit gegeneinander austauschen."[7] Adam Smith war darüber hinaus der erste, der den kapitalistischen Reproduktionsprozess in seiner gesellschaftlichen Totalität begriff. Bei ihm werden Kapital, Lohn, Preis, Profit, Zins und Rente, Geld und Geldumlauf etc. nicht mehr als isolierte, von einander unabhängige Erscheinungen untersucht, sondern als echte ökonomische Kategorien aus dem Gesamtkontext Produktion-Distribution-Zirkulation-Konsumtion abgeleitet. Er gelangt erstmals in der Geschichte der politischen Ökonomie zu einer umfassenden Einschätzung der Rolle, die die menschliche Arbeit und die Steigerung ihrer produktiven Kräfte in der kapitalistischen Wirtschaft spielen. Smith bildet also einerseits den Endpunkt der Entwicklung der Beschäftigung mit der politischen Ökonomie im Rahmen eines Totalitätsanspruches zu einem wissenschaftlichen Gesamtsystem, andererseits bietet er auch gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entfaltung der politischen Ökonomie auf einer höheren Stufe. Welche Bedeutung der Arbeit Smiths zukommt, unterstreicht auch J. D. Bernals Einschätzung von "Wealth of Nations": "Dieses Buch, das von seinem ersten Erscheinen an zur Bibel des neuen Industriekapitals werden sollte, ist eine der großen zusammenfassenden gesellschaftswissenschaftlichen Schriften, der ‚Summa theologiae’ des Thomas von Aquino vergleichbar und nur vom Marx’schen ‚Kapital’ übertroffen."[8] Viel stärker als die verschiedenen Theorien von Smith begründet diese Charakteristik seines Gesamtwerkes die wissenschaftlichen Beziehungen der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie auf ihrem Höhepunkt zum Marxismus. Da sich dieser den Anspruch gibt, eine Vereinigung der verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen zu einem geschlossenen Ganzen zu bieten, ist die komplexe systematische Gesamtschau innerhalb jeder Einzelwissenschaft ein historisch notwendiges Entwicklungsstadium. Adam Smith tat dies als erster für die politische Ökonomie. Das sind die Vorraussetzungen, die eine Einschätzung der Bedeutung Smiths für die politische Ökonomie Marx’ leiten müssen. Smiths Theorie stellt aus bürgerlicher Sicht zu seiner Zeit, der Manufakturperiode, ein abgeschlossenes, in gewisser Weise nicht zu erweiterndes Gedankengebäude dar. Einerseits weil in den Gesetzmäßigkeiten, die Smith und auch seine französischen Vorläufer als Basis der kapitalistischen Gesellschaft präsentiert haben, als naturgemäße Ordnung und unverfälschte Verhältnisse angesehen wurden, die unabänderlich seien, da sie eben der menschlichen Existenz gleichsam als Naturgesetz zugrunde lägen. Der springende Punkt ist hier freilich - was Marx und Engels auch aufgelöst haben - "als ‚historische Kategorien’ des Kapitalismus zu erkennen, was Physiokraten und Klassiker für ‚natürliche Kategorien’ aller menschlichen Wirtschaft angesehen hatten."[9] Andererseits hatte die vorläufige Stagnation, die nach Smith für kurze Zeit in der politischen Ökonomie vorzufinden war, ihre Begründung in der mangelnden gesellschaftlichen Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung und wurde erst durch die einsetzende industrielle Revolution und die Französische Revolution durchbrochen. Unter diesen Vorzeichen begann die Arbeit des letzten großen Ökonomen der bürgerlichen Klassik, David Ricardo. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war geprägt von sich zuspitzenden Gegensätzen zwischen dem industriellen Bürgertum und der Landaristokratie. David Ricardo stand in diesem Konflikt für die Interessen der Industriebourgeoisie und zeichnete wesentlich für ihre ideologischtheoretische Überlegenheit verantwortlich. Auch unter den Theoretikern der politischen Ökonomie kam es zur Herausbildung unterschiedlicher ideologischer Programme und einer weitreichenden Differenzierung, wichtigster Widersacher - was wissenschaftliche Belange betrifft - von Ricardo war damals Thomas Robert Malthus. Wesentlich für unsere Auseinandersetzung mit der Bedeutung der historischen politischen Ökonomie für Karl Marx bleibt freilich die Linie von Smith zu Ricardo. Letzterem gelingt es, die Widersprüche seines Vorgängers zu überwinden. Ricardo stimmt mit Smith überein, dass der Profit, der Mehrwert, aus der Arbeit schlechthin stammt - der industriellen wie der landwirtschaftlichen. Beide erkennen, dass der Wert einer Ware durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung verwendet wird, bestimmt wird. In manchen Bereichen kann Ricardo nun - auch aufgrund der fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Produktion - tiefgründigere und umfassendere Analysen und Erkenntnisse anbieten. So gesteht auch Marx zu: "Im Gegensatz zu Adam Smith arbeitete David Ricardo die Bestimmung des Wertes der Ware durch die Arbeitszeit rein heraus und zeigt, dass dies Gesetz auch die ihm scheinbar widersprechendsten bürgerlichen Produktionsverhältnisse beherrscht."[10] Der Schritt, den auch Ricardo nicht zu tun vermag, ist jener, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass, wenn der Wert der Waren durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, es die Arbeiter und Arbeiterinnen sind, die den Profit schaffen. Während die bürgerlichen Ökonomen nur von Waren sprachen, übersahen sie die Menschen, die den Mehrwert eigentlich produzierten. Natürlich ist das nicht verwunderlich, den Smith und Ricardo waren Vertreter des kapitalistischen Systems, ihre Theorien dienten der Bourgeoisie in der Auseinandersetzung mit der Landaristokratie, mit den adeligen und kirchlichen Großgrundbesitzern, wohingegen man sich gemeinsam mit dem Proletariat selbst als "arbeitende" Klasse diesbezüglich in einer Interessensgemeinschaft sah. Die Fähigkeit, für die Kapitalisten Profit zu erzeugen, wird als natürliche, sogar gottgewollte Eigenschaft der Arbeit dargestellt, während über die Ausbeutung der Lohnarbeiter und -arbeiterinnen kein Gedanke verschwendet wurde. Zu sicher und unumstößlich schienen den bürgerlichen Ökonomen die "Naturgesetze" des Kapitalismus und der Gedanke an den Status quo als einzig mögliche Gesellschaftsform. Um mit Rosa Luxemburg zu sprechen: "Die Schranke, an der beide - Smith wie Ricardo - scheitern mussten, war ihr bürgerlich begrenzter Horizont. Um die Grundkategorien der kapitalistischen Produktion: Wert und Mehrwert, in ihrer lebendigen Bewegung, als gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zu erfassen, musste man diese Bewegung historisch, die Kategorien selbst als geschichtlich bedingte Formen allgemeiner Arbeitsverhältnisse auffassen."[11] Die bürgerliche politische Ökonomie war endgültig an ihre Grenze gestoßen, unweigerlich begann ihr Verfall. Aber in gewisser Weise war es eben erst das Annähern an und das Aufzeigen von diesen Grenzen, was es in weiterer Folge Marx und Engels ermöglichte, die Gedanken von Smith und Ricardo konsequent zu Ende zu führen, die wesentlichen Seiten der kapitalistischen Produktionsweise und ihr Bewegungsgesetz herauszuarbeiten und den von den Arbeitern und Arbeiterinnen erwirtschafteten Mehrwert, den sich die Kapitalisten ja sogar laut ihrer eigenen Theorien - allerdings "guten Gewissens" und "zurecht" aneignen, einzufordern. Marx meint in diesem Sinne zu den weitreichenden Erkenntnissen und Vorarbeiten Ricardos: "Mit diesem wissenschaftlichen Verdienst hängt eng zusammen, dass Ricardo den ökonomischen Gegensatz der Klassen - wie ihn der innere Zusammenhang zeigt - aufdeckt, ausspricht und daher in der Ökonomie der geschichtliche Kampf und Entwicklungsprozess in seiner Wurzel aufgefasst wird, entdeckt wird."[12] In dieser Defensivsituation löste sich die Schule der klassischen bürgerlichen Nationalökonomie auf, an ihre Stelle trat die "Vulgärökonomie", deren Vertreter, Apologeten des Kapitalismus wie etwa John Stuart Mill, auf dem Standpunkt insistierten, der Wert einer Ware würde durch die Produktionskosten bestimmt, und folglich den Ertrag der Arbeit in Grundrente, Profit und Arbeitslohn aufspalteten, in eben dieser Reihenfolge den drei Produktionsfaktoren (Boden, Kapital, Arbeit) zuteilten und damit wieder die "natürliche Ordnung" herstellten. Wir haben also gesehen, dass Marx und Engels an die Klassiker der bürgerlichen politischen Ökonomie anknüpfen, die Lehren von Smith und Ricardo aber einer kritischen Überprüfung vom Standpunkt des Proletariats aus unterziehen und dadurch die politische Ökonomie entscheidend weiterentwickeln können. Im Wesentlichen trennt Marx und Engels von den Klassikern folgendes: Marx und Engels erkennen, dass jene Gesetze, die zuvor die Physiokraten, Smith und Ricardo als unabänderliche Naturgesetze auffassten, in Wirklichkeit nur historische Gesetze des Kapitalismus sind. Es gilt zu unterscheiden zwischen natürlichen und historischen Kategorien, wobei die ersten unabhängig von der Wirtschaftsform Bestand haben, wohingegen die zweiten nur für die Darstellung einer bestimmten historischen Phase Gültigkeit besitzen. "Diese Unterscheidung zwischen dem naturgesetzlichen Charakter der menschlichen Wirtschaft und den Gesetzen einer bestimmten Wirtschaftsform - das ist die erste große Leistung von Karl Marx."[13] Marx unterscheidet sich von all' seinen Vorgängern weiters dadurch, dass er den Begriff des Mehrwertes in den Vordergrund rückt. Darunter fasst er Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn zusammen, die alle drei aus der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen entstehen. "Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise."[14] Der Mehrwert bildet die allgemeine Quelle der nicht durch Arbeit erworbenen Einkommen der gesamten Klasse der Bourgeoisie. Karl Marx hat den Produktionspreis deutlich vom Wert einer Ware unterschieden. "Erst er stellte fest, dass in der handwerksmäßigen Produktion der Wert dem Preis gleichzusetzen ist, um den die Marktpreise schwanken; in der kapitalistischen Gesellschaft aber werden die Preise bestimmt durch die Produktionskosten und den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit. Nimmt man die Gesellschaft als Ganzes, so heben sich Tauschgewinn und Tauschverlust gegenseitig auf: dann ist die Summe der Preise gleich der Summe der Werte."[15] Während sich seine Vorgänger auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft beschränkten, warf Marx schließlich aber auch die Frage nach deren Entwicklungsgesetzen auf. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit birgt dynamische Kräfte in sich, die das Potenzial zur Sprengung des Systems haben. "Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee (...) Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums (...) Dies ist das absolute allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation."[16] Diese Entwicklung, der sich ständig vertiefende Klassenantagonismus weist die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus. Die eine ständige Prekarisierung erfahrende Position der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Ausdruck des zwingenden Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter des Produktionsprozesses und der privatkapitalistischen Form der Aneignung ist, befähigt das Proletariat jedoch auch, ihre Lage aus eigener Kraft zu verändern. "Nur das Proletariat ist - kraft seiner ökonomischen Rolle in der Großproduktion - fähig, der Führer aller werktätigen und ausgebeuteten Massen zu sein."[17] Trotz der bereits eingangs erwähnten ideengeschichtlichen Diskontinuität, die der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie ob ihres wissenschaftlichen, umfassenden und bezüglich des bürgerlichen Dogmatismus’ transzendenten Charakters, der durch die oben angeführten Punkte belegt ist, innewohnt, dürfen Einfluss und wissenschaftlicher Beitrag Smiths und Ricardos nicht unterschätzt werden, ihre Erkenntnisse leben in der marxistischen Theorie fort, auf deren Basis es Marx und Engels möglich war, die wahren Bewegungs- und Entwicklungsgesetze des Kapitalismus aufzudecken. Abschließend wollen wir nochmals Lenin zu Wort kommen lassen: "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat."[18] Fußnoten: [1] Lenin, Wladimir Iljitsch: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 1, S. 63 [2] Engels, Friedrich: Rezension des Ersten Bandes "Das Kapital" für das "Demokratische Wochenblatt". In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Berlin 1962, Bd. 16, S. 235 [3] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 275 [4] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 383 [5] Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Moskau 1946, S. 179 [6] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 274 [7] Luxemburg, Rosa: Einführung in die Nationalökonomie. In: Gesammelte Werke, Berlin 1975, Bd. 5, S. 727 [8] Bernal, John Desmond: Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1961, S. 704 [9] Bauer, Otto: Das Weltbild des Kapitalismus. Frankfurt/Main 1971, S. 61 [10] Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Berlin 1961, Bd. 13, S. 45 [11] Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke, Berlin 1975, Bd. 5, S. 79 [12] Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Berlin 1962, Bd. 26.2., S. 163 [13] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 279 [14] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 650 [15] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 279 [16] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 679 [17] Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 2, S. 176 [18] Lenin, Wladimir Iljitsch: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 1, S. 63