Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Theorien Smiths, Ricardos

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Theorien Smiths,
Ricardos und Marx’
von Joachim Böhm, Martin Müller und Tibor Zenker
Wie schon W. I. Lenin in seiner Schrift "Drei Quellen und drei Bestandteile
des Marxismus" darlegt, ist die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als
"direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der
Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus"[1] entstanden.
In diesem Sinne wollen wir im folgenden zeigen, welch große Bedeutung die
Theorien von Adam Smith und David Ricardo für die Evolution der Marxschen
Erkenntnisse besitzen, die dann schließlich im "Kapital" in ausgereifter Form
ihren Niederschlag gefunden haben. Um sowohl Marx als auch seinen
bürgerlichen Vorläufern gerecht zu werden, gilt es jedoch zu beachten, sich
weder darauf zu reduzieren, der klassischen bürgerlichen Ökonomie
ausschließlich ihre Fehler vorzurechnen, noch Marx als bloßen Epigonen
Ricardos zu bezeichnen. Wesentlich erscheint viel mehr, das Augenmerk auf
die Betonung der ideengeschichtlichen Kontinuität in der Entwicklung der
bürgerlichen Klassik zu Karl Marx zu legen.
Die ökonomische Theorie von Marx bedeutet zweifellos einen qualitativen
Sprung in der Geschichte der politischen Ökonomie, und zwar sowohl
aufgrund ihrer wissenschaftlichen Methode, ihrer inneren Geschlossenheit,
ihrer sich in Übereinstimmung mit der Realität befindlichen Aussagkraft und
ihres den bürgerlichen Denkhorizont deutlich überschreitenden Charakters.
Oder wie Friedrich Engels über "Das Kapital" schreibt: "Solange es
Kapitalisten und Arbeiter in der Welt gibt, ist kein Buch erschienen, welches
für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre wie das vorliegende. Das
Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes
heutiges Gesellschaftssystem dreht, ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich
entwickelt."[2] Unter diesen Gesichtspunkten ist Marx sehr wohl von der
klassischen bürgerlichen Ökonomie getrennt, an dieser Stelle zeigt sich eine
gewisse ideengeschichtliche Diskontinuität. Doch die Dialektik der
Entwicklung ist gleichermaßen durch eine kontinuierliche Komponente
bestimmt. Das gilt für den historischen Erkenntnisprozess der einzelnen
politisch-ökonomischen Kategorien wie für die politische Ökonomie als
Ganzes. Daher hat es auch keinen Sinn, die Analyse der klassischen
Einzeltheorien (z.B. Geldtheorie) darauf zu beschränken, deren
Unzulänglichkeiten aufzudecken. Diese Theorien sind dahingehend zu
analysieren, welche Fortschritte sie der menschlichen Erkenntnis bringen. Wir
wollen nun versuchen, anhand von Adam Smith und David Ricardo sowie
ihren prinzipiellen Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte der politischen
Ökonomie die grundsätzlichen Beziehungen zwischen der marxistischen
Theorie und der klassischen Ökonomie mit ihren Kontinuitäten und
Diskontinuitäten zu zeigen.
Karl Marx hat Smith als Grundleger der politischen Ökonomie bezeichnet, um
hervorzuheben, dass hier eine neue Stufe der Entwicklung eingeleitet worden
ist. Smith gilt zurecht als Begründer der bürgerlichen Klassiker. "Die große
Leistung der Klassiker besteht in der Entdeckung, dass der Profit, der
Mehrwert, aus der Arbeit schlechthin stammt."[3] Erst bei Smith nimmt die
politische Ökonomie die Gestalt einer Wissenschaft an. Marx macht auf die
dialektische Beziehung zwischen Smith und seiner ökonomischen Basis
einerseits und seinen Vorgängern andererseits aufmerksam und zeigt, dass
Smith gerade deshalb Grundleger der politischen Ökonomie werden konnte,
weil er die realen ökonomischen Gegebenheiten analysierte und unter
Zuhilfenahme und Weiterentwicklung der bisherigen Erkenntnisse der
politischen Ökonomie theoretisch im Interesse des Bürgertums
verallgemeinerte. Smiths Stellung erklärt sich auch daraus, dass erst in der
Mitte des 18. Jahrhunderts der Reifegrad sowohl der kapitalistischen
ökonomischen Basis als auch der politischen Ökonomie weit genug
fortgeschritten war, um die Entwicklung einer Theorie zu gestatten, die alles
andere auf diesem Gebiet erreichte in den Schatten zu stellen vermochte.
Obwohl die politische Ökonomie "als eigene Wissenschaft erst in der
Manufakturperiode aufkommt"[4], gab es auch vor Adam Smith eine Reihe
von Theoretikern, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Zum Teil in
engster Verbindung zur Philosophie haben schon im 17. Jahrhundert
insbesondere William Petty, John Locke und Dudley North Ideen zur Analyse
des Kapitalismus und der ihm innewohnenden ökonomischen Gesetze
geäußert. Charakteristisch für diese Zeit sind jedoch merkantilistische
Gedanken bezüglich der Quantität der Schriften, in deren Mittelpunkt die
Grundvorstellung steht, Profit sei nichts anderes als ein Tauschgewinn,
während die Frage nach der Bedeutung der Warenproduktion und damit der
schaffenden Arbeit ausgeklammert bleibt. Erst im 18. Jahrhundert reifen auch
die theoretischen Bedingungen heran, den Merkantilismus und die damit
verbundene Einstellung zur politischen Ökonomie langsam zu überwinden.
Als Vertreter können u.a. David Hume, Abraham Tucker, Richard Cantillon,
Joseph Massie und James Steuart angeführt werden. Die politische
Ökonomie wurde nicht mehr als Rezeptlieferantin für irgendwelche
praktischen Belange oder als Interessensvertreterin von Kaufleuten
aufgefasst, sondern sie wurde zum Erkenntnisinstrument der inneren
Zusammenhänge der Produktionsweise im Interesse des Bürgertums
ausgebaut. Aus dem Sammeln von Gedanken und dem Versuch, diese
weiterzuführen und allgemeine Definitionen aufzustellen, entwickelte sich die
politische Ökonomie als Wissenschaft der kapitalistischen Wirtschaft und
deren Gesetze. Es bestand der Versuch, das zu tun, was freilich erst Adam
Smith gelingen würde - nämlich die politische Ökonomie auf das Niveau zu
heben, das Friedrich Engels wie folgt als politische Ökonomie
wissenschaftlichen Anspruchs beschreibt: "Sie untersucht zunächst die
besondern Gesetze jeder einzelnen Entwicklungsstufe der Produktion und
des Austausches und wird erst am Schluss dieser Untersuchung die wenigen,
für Produktion und Austausch überhaupt geltenden, ganz allgemeinen
Gesetze aufstellen können."[5] Am weitesten vorgedrungen in diese Richtung
sind in England David Hume und in Frankreich die Physiokraten. Sowohl
Hume als auch die Physiokraten haben sich bemüht, den Kapitalismus als
Ganzes wissenschaftlich zu erfassen.
Humes Hauptwerk besteht aus neun ökonomischen Essays ("Political
Discourses"), die nur in loser Verbindung zueinander stehen und noch immer
den Stempel merkantilistischen Denkens tragen. Wenngleich Hume gegen
primitive wirtschaftliche Maßregeln despotischer Fürsten auftritt, die Lehre
von der positiven Handelsbilanz kritisiert und alle relevanten ökonomischen
Fragen unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Freiheit behandelt, so bleibt
sein zentrales Anliegen dennoch der aus dem Handel abgeleitete Profit. Das
innere Wesen der kapitalistischen Produktionsweise erfasst Hume nicht, er
bleibt über weite Strecken an der Oberfläche, wenn er die ökonomische und
damit vor allem militärische Macht eines Staates für den Kriegsfall als Ziel der
wirtschaftlichen Tätigkeit eines Volkes hinstellt. Da ihm die kapitalistische
Produktion vom Mehrwert als Leitidee fremd ist, wird auch die
Arbeitswerttheorie, der Hume durchaus positiv gegenübersteht, zu keiner
tragenden Säule seiner Ansichten.
Die Physiokraten, als deren Hauptvertreter Anne Robert Jacques Turgot und
Francois Quesnay gelten, gelangen hingegen zu einer tiefgründigeren
Untersuchung und Darstellung der bürgerlichen Produktions- und
Klassenverhältnisse
einschließlich
wichtiger
ökonomischer
Gesetzmäßigkeiten,
wobei
die
Produktion
gewissermaßen
den
Kristallisationspunkt ihrer Lehre bildet. "Die Physiokraten haben das
Verdienst, den Profit aus der Produktion abgeleitet zu haben. Sie haben ihn
aber nicht abgeleitet aus der Produktion schlechthin, sondern nur aus der
landwirtschaftlichen Produktion."[6] Der Profit wird als natürliche Eigenschaft
des Bodens betrachtet, der mehr trägt, als zur Ernährung der Arbeiter und
des Viehs notwendig ist. Das Systems der Physiokraten zeichnet sich durch
eine strenge innere Logik aus, es stellen sich jedoch als Konsequenz
bestimmte irreale Elemente ein, so z.B. die Unproduktivität der Manufakturen.
Trotz ihrer unvollkommenen ökonomischen und theoretischen Basis haben
die Physiokraten wissenschaftliche Verdienste von unvergänglichem Wert
geschaffen.
Adam Smith hat den Physiokraten zweifellos viel zu verdanken, so z.B. in
bezug auf das fundamentale Denken in kapitalistischen Kategorien oder die
Systematik seiner Gedankenführung. Trotz einer gewissen Beeinflussung
Smiths durch die Physiokraten darf nicht übersehen werden, dass er schon
während seiner Edinburgher Vorlesungen und seiner Tätigkeit als Professor
in Glasgow - also vor der intensiven Beschäftigung mit den Schriften der
Physiokraten - wesentliche Gedanken seines Hauptwerks "Wealth of Nations"
(1776) fast wörtlich entwickelt hat. Seine französischen Zeitgenossen haben
also manches zur Vervollkommnung einzelner Seiten Smiths Systems
beigesteuert, dessen prinzipielle Grundlage hat er aber unabhängig von ihnen
geschaffen. Vor allem ist natürlich die Überwindung des eigenwilligen
Ansatzes der Physiokraten, ihre Vorstellungen auf die agrarische Produktion
zu beschränken, von entscheidender Bedeutung. Rosa Luxemburg schreibt:
"In der zweiten Hälfte des 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts wurde nun
die große Entdeckung von den Engländern Adam Smith und David Ricardo
gemacht, dass der Wert jeder Ware nichts anderes als die in ihr steckende
menschliche Arbeit ist, dass sich also beim Austausch der Waren gleiche
Mengen verschiedener Arbeit gegeneinander austauschen."[7]
Adam Smith war darüber hinaus der erste, der den kapitalistischen
Reproduktionsprozess in seiner gesellschaftlichen Totalität begriff. Bei ihm
werden Kapital, Lohn, Preis, Profit, Zins und Rente, Geld und Geldumlauf etc.
nicht mehr als isolierte, von einander unabhängige Erscheinungen untersucht,
sondern als echte ökonomische Kategorien aus dem Gesamtkontext
Produktion-Distribution-Zirkulation-Konsumtion abgeleitet. Er gelangt erstmals
in der Geschichte der politischen Ökonomie zu einer umfassenden
Einschätzung der Rolle, die die menschliche Arbeit und die Steigerung ihrer
produktiven Kräfte in der kapitalistischen Wirtschaft spielen. Smith bildet also
einerseits den Endpunkt der Entwicklung der Beschäftigung mit der
politischen Ökonomie im Rahmen eines Totalitätsanspruches zu einem
wissenschaftlichen Gesamtsystem, andererseits bietet er auch gleichzeitig
den Ausgangspunkt für die Entfaltung der politischen Ökonomie auf einer
höheren Stufe. Welche Bedeutung der Arbeit Smiths zukommt, unterstreicht
auch J. D. Bernals Einschätzung von "Wealth of Nations": "Dieses Buch, das
von seinem ersten Erscheinen an zur Bibel des neuen Industriekapitals
werden
sollte,
ist
eine
der
großen
zusammenfassenden
gesellschaftswissenschaftlichen Schriften, der ‚Summa theologiae’ des
Thomas von Aquino vergleichbar und nur vom Marx’schen ‚Kapital’
übertroffen."[8] Viel stärker als die verschiedenen Theorien von Smith
begründet diese Charakteristik seines Gesamtwerkes die wissenschaftlichen
Beziehungen der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie auf ihrem
Höhepunkt zum Marxismus. Da sich dieser den Anspruch gibt, eine
Vereinigung
der
verschiedenen
gesellschaftswissenschaftlichen
Einzeldisziplinen zu einem geschlossenen Ganzen zu bieten, ist die komplexe
systematische Gesamtschau innerhalb jeder Einzelwissenschaft ein historisch
notwendiges Entwicklungsstadium. Adam Smith tat dies als erster für die
politische Ökonomie. Das sind die Vorraussetzungen, die eine Einschätzung
der Bedeutung Smiths für die politische Ökonomie Marx’ leiten müssen.
Smiths Theorie stellt aus bürgerlicher Sicht zu seiner Zeit, der
Manufakturperiode, ein abgeschlossenes, in gewisser Weise nicht zu
erweiterndes
Gedankengebäude
dar.
Einerseits
weil
in
den
Gesetzmäßigkeiten, die Smith und auch seine französischen Vorläufer als
Basis der kapitalistischen Gesellschaft präsentiert haben, als naturgemäße
Ordnung und unverfälschte Verhältnisse angesehen wurden, die
unabänderlich seien, da sie eben der menschlichen Existenz gleichsam als
Naturgesetz zugrunde lägen. Der springende Punkt ist hier freilich - was Marx
und Engels auch aufgelöst haben - "als ‚historische Kategorien’ des
Kapitalismus zu erkennen, was Physiokraten und Klassiker für ‚natürliche
Kategorien’ aller menschlichen Wirtschaft angesehen hatten."[9] Andererseits
hatte die vorläufige Stagnation, die nach Smith für kurze Zeit in der politischen
Ökonomie vorzufinden war, ihre Begründung in der mangelnden
gesellschaftlichen Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung und wurde erst
durch die einsetzende industrielle Revolution und die Französische
Revolution durchbrochen. Unter diesen Vorzeichen begann die Arbeit des
letzten großen Ökonomen der bürgerlichen Klassik, David Ricardo.
Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war geprägt von sich
zuspitzenden Gegensätzen zwischen dem industriellen Bürgertum und der
Landaristokratie. David Ricardo stand in diesem Konflikt für die Interessen der
Industriebourgeoisie und zeichnete wesentlich für ihre ideologischtheoretische Überlegenheit verantwortlich. Auch unter den Theoretikern der
politischen Ökonomie kam es zur Herausbildung unterschiedlicher
ideologischer Programme und einer weitreichenden Differenzierung,
wichtigster Widersacher - was wissenschaftliche Belange betrifft - von Ricardo
war damals Thomas Robert Malthus. Wesentlich für unsere
Auseinandersetzung mit der Bedeutung der historischen politischen
Ökonomie für Karl Marx bleibt freilich die Linie von Smith zu Ricardo.
Letzterem gelingt es, die Widersprüche seines Vorgängers zu überwinden.
Ricardo stimmt mit Smith überein, dass der Profit, der Mehrwert, aus der
Arbeit schlechthin stammt - der industriellen wie der landwirtschaftlichen.
Beide erkennen, dass der Wert einer Ware durch die gesellschaftlich
notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung verwendet wird, bestimmt
wird. In manchen Bereichen kann Ricardo nun - auch aufgrund der
fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Produktion - tiefgründigere
und umfassendere Analysen und Erkenntnisse anbieten. So gesteht auch
Marx zu: "Im Gegensatz zu Adam Smith arbeitete David Ricardo die
Bestimmung des Wertes der Ware durch die Arbeitszeit rein heraus und zeigt,
dass dies Gesetz auch die ihm scheinbar widersprechendsten bürgerlichen
Produktionsverhältnisse beherrscht."[10] Der Schritt, den auch Ricardo nicht
zu tun vermag, ist jener, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass, wenn der Wert
der Waren durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, es
die Arbeiter und Arbeiterinnen sind, die den Profit schaffen. Während die
bürgerlichen Ökonomen nur von Waren sprachen, übersahen sie die
Menschen, die den Mehrwert eigentlich produzierten. Natürlich ist das nicht
verwunderlich, den Smith und Ricardo waren Vertreter des kapitalistischen
Systems, ihre Theorien dienten der Bourgeoisie in der Auseinandersetzung
mit
der
Landaristokratie,
mit
den
adeligen
und
kirchlichen
Großgrundbesitzern, wohingegen man sich gemeinsam mit dem Proletariat
selbst als "arbeitende" Klasse diesbezüglich in einer Interessensgemeinschaft
sah. Die Fähigkeit, für die Kapitalisten Profit zu erzeugen, wird als natürliche,
sogar gottgewollte Eigenschaft der Arbeit dargestellt, während über die
Ausbeutung der Lohnarbeiter und -arbeiterinnen kein Gedanke verschwendet
wurde. Zu sicher und unumstößlich schienen den bürgerlichen Ökonomen die
"Naturgesetze" des Kapitalismus und der Gedanke an den Status quo als
einzig mögliche Gesellschaftsform. Um mit Rosa Luxemburg zu sprechen:
"Die Schranke, an der beide - Smith wie Ricardo - scheitern mussten, war ihr
bürgerlich begrenzter Horizont. Um die Grundkategorien der kapitalistischen
Produktion: Wert und Mehrwert, in ihrer lebendigen Bewegung, als
gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zu erfassen, musste man diese
Bewegung historisch, die Kategorien selbst als geschichtlich bedingte Formen
allgemeiner Arbeitsverhältnisse auffassen."[11] Die bürgerliche politische
Ökonomie war endgültig an ihre Grenze gestoßen, unweigerlich begann ihr
Verfall. Aber in gewisser Weise war es eben erst das Annähern an und das
Aufzeigen von diesen Grenzen, was es in weiterer Folge Marx und Engels
ermöglichte, die Gedanken von Smith und Ricardo konsequent zu Ende zu
führen, die wesentlichen Seiten der kapitalistischen Produktionsweise und ihr
Bewegungsgesetz herauszuarbeiten und den von den Arbeitern und
Arbeiterinnen erwirtschafteten Mehrwert, den sich die Kapitalisten ja sogar
laut ihrer eigenen Theorien - allerdings "guten Gewissens" und "zurecht" aneignen, einzufordern. Marx meint in diesem Sinne zu den weitreichenden
Erkenntnissen und Vorarbeiten Ricardos: "Mit diesem wissenschaftlichen
Verdienst hängt eng zusammen, dass Ricardo den ökonomischen Gegensatz
der Klassen - wie ihn der innere Zusammenhang zeigt - aufdeckt, ausspricht
und daher in der Ökonomie der geschichtliche Kampf und
Entwicklungsprozess in seiner Wurzel aufgefasst wird, entdeckt wird."[12] In
dieser Defensivsituation löste sich die Schule der klassischen bürgerlichen
Nationalökonomie auf, an ihre Stelle trat die "Vulgärökonomie", deren
Vertreter, Apologeten des Kapitalismus wie etwa John Stuart Mill, auf dem
Standpunkt insistierten, der Wert einer Ware würde durch die
Produktionskosten bestimmt, und folglich den Ertrag der Arbeit in Grundrente,
Profit und Arbeitslohn aufspalteten, in eben dieser Reihenfolge den drei
Produktionsfaktoren (Boden, Kapital, Arbeit) zuteilten und damit wieder die
"natürliche Ordnung" herstellten.
Wir haben also gesehen, dass Marx und Engels an die Klassiker der
bürgerlichen politischen Ökonomie anknüpfen, die Lehren von Smith und
Ricardo aber einer kritischen Überprüfung vom Standpunkt des Proletariats
aus unterziehen und dadurch die politische Ökonomie entscheidend
weiterentwickeln können. Im Wesentlichen trennt Marx und Engels von den
Klassikern folgendes:
Marx und Engels erkennen, dass jene Gesetze, die zuvor die Physiokraten,
Smith und Ricardo als unabänderliche Naturgesetze auffassten, in
Wirklichkeit nur historische Gesetze des Kapitalismus sind. Es gilt zu
unterscheiden zwischen natürlichen und historischen Kategorien, wobei die
ersten unabhängig von der Wirtschaftsform Bestand haben, wohingegen die
zweiten nur für die Darstellung einer bestimmten historischen Phase
Gültigkeit besitzen. "Diese Unterscheidung zwischen dem naturgesetzlichen
Charakter der menschlichen Wirtschaft und den Gesetzen einer bestimmten
Wirtschaftsform - das ist die erste große Leistung von Karl Marx."[13]
Marx unterscheidet sich von all' seinen Vorgängern weiters dadurch, dass er
den Begriff des Mehrwertes in den Vordergrund rückt. Darunter fasst er
Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn zusammen, die alle drei aus
der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen entstehen. "Produktion von
Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser
Produktionsweise."[14] Der Mehrwert bildet die allgemeine Quelle der nicht
durch Arbeit erworbenen Einkommen der gesamten Klasse der Bourgeoisie.
Karl Marx hat den Produktionspreis deutlich vom Wert einer Ware
unterschieden. "Erst er stellte fest, dass in der handwerksmäßigen Produktion
der Wert dem Preis gleichzusetzen ist, um den die Marktpreise schwanken; in
der kapitalistischen Gesellschaft aber werden die Preise bestimmt durch die
Produktionskosten und den gesellschaftlichen Durchschnittsprofit. Nimmt man
die Gesellschaft als Ganzes, so heben sich Tauschgewinn und Tauschverlust
gegenseitig auf: dann ist die Summe der Preise gleich der Summe der
Werte."[15]
Während sich seine Vorgänger auf die Analyse der kapitalistischen
Gesellschaft beschränkten, warf Marx schließlich aber auch die Frage nach
deren Entwicklungsgesetzen auf. Der Widerspruch zwischen Kapital und
Arbeit birgt dynamische Kräfte in sich, die das Potenzial zur Sprengung des
Systems haben. "Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das
funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch
die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto
größer die industrielle Reservearmee (...) Die verhältnismäßige Größe der
industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums (...)
Dies ist das absolute allgemeine Gesetz der kapitalistischen
Akkumulation."[16] Diese Entwicklung, der sich ständig vertiefende
Klassenantagonismus weist die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der
Überwindung des Kapitalismus. Die eine ständige Prekarisierung erfahrende
Position der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Ausdruck des zwingenden
Widerspruchs
zwischen
dem
gesellschaftlichen
Charakter
des
Produktionsprozesses und der privatkapitalistischen Form der Aneignung ist,
befähigt das Proletariat jedoch auch, ihre Lage aus eigener Kraft zu
verändern. "Nur das Proletariat ist - kraft seiner ökonomischen Rolle in der
Großproduktion - fähig, der Führer aller werktätigen und ausgebeuteten
Massen zu sein."[17]
Trotz der bereits eingangs erwähnten ideengeschichtlichen Diskontinuität, die
der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie ob ihres wissenschaftlichen,
umfassenden und bezüglich des bürgerlichen Dogmatismus’ transzendenten
Charakters, der durch die oben angeführten Punkte belegt ist, innewohnt,
dürfen Einfluss und wissenschaftlicher Beitrag Smiths und Ricardos nicht
unterschätzt werden, ihre Erkenntnisse leben in der marxistischen Theorie
fort, auf deren Basis es Marx und Engels möglich war, die wahren
Bewegungs- und Entwicklungsgesetze des Kapitalismus aufzudecken.
Abschließend wollen wir nochmals Lenin zu Wort kommen lassen: "Die Lehre
von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und
harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die
sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung
bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des
Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen
Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus
hervorgebracht hat."[18]
Fußnoten:
[1] Lenin, Wladimir Iljitsch: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus.
In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 1, S. 63
[2] Engels, Friedrich: Rezension des Ersten Bandes "Das Kapital" für das
"Demokratische Wochenblatt". In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Berlin
1962, Bd. 16, S. 235
[3] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 275
[4] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 383
[5] Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft.
Moskau 1946, S. 179
[6] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 274
[7] Luxemburg, Rosa: Einführung in die Nationalökonomie. In: Gesammelte
Werke, Berlin 1975, Bd. 5, S. 727
[8] Bernal, John Desmond: Die Wissenschaft in der Geschichte. Berlin 1961,
S. 704
[9] Bauer, Otto: Das Weltbild des Kapitalismus. Frankfurt/Main 1971, S. 61
[10] Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich
Engels - Werke, Berlin 1961, Bd. 13, S. 45
[11] Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte
Werke, Berlin 1975, Bd. 5, S. 79
[12] Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Berlin 1962, Bd. 26.2., S. 163
[13] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 279
[14] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 650
[15] Bauer, Otto: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien 1956, S. 279
[16] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1. Berlin 1953, S. 679
[17] Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in
zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 2, S. 176
[18] Lenin, Wladimir Iljitsch: Drei Quellen und drei Bestandteile des
Marxismus. In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, Bd. 1, S.
63
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