Exposé zum Symposion im EKŌ-Haus der Japanischen Kultur, Düsseldorf, von Fr–So, 23.–25. September 2016 Thema: „Was ist Seele?“ Die „Seele“ ist, wenn man die gegenwärtigen akademischen Lehrbücher der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie überblickt, nicht mehr Thema dieser Fächer, mag auch der Name „psyché“ immer noch in ihren Titeln stehen. Einerseits hat die Philosophie selbst sie im 18. Jh. immer entschiedener aus dem Gebiet der Metaphysik und der Metaphysik-Kritik abgesondert, andererseits haben zumal die genannten, sich neu begründenden therapeutischen Fächer die früheren metaphysischen und theologischen Bedeutungen der „Seele“ zu Gunsten biologischer, chemischer und physikalischer Beschreibungen aus sich entfernt. Descartes‘ Spätschrift Von den Leidenschaften der Seele kannte die anima zwar noch, aber die Erklärung ihrer „Passionen“ unternahm sie schon auf ganz biologische bzw. physiologische Weise. Der heute klinisch verwendete Name „Psychose“ ist der klinischen Psychologie nicht mehr verständlich, weil er zur Nennung von Sachverhalten herhalten muss, die sich ihr nicht mehr als Krankheiten einer „Seele“ zeigen. Ebenso gibt die Psychologie im Gedanken an einen gesunden Menschen nicht positiv eine Beschreibung seiner „Seele“ ab, und sie tut dies erst recht nicht in unindividueller Allgemeinheit. Es gehört zum Bild der Epochenwandlung, dass die Reduktion der Naturwissenschaften der Psychologie nur Pathologien übrig gelassen hat, die sie aber nun anders, nämlich ohne jeden Gedanken an eine „Seele“, vielmehr immer ähnlicher den organischmedizinischen Pathologien beschreibt. Seit Beginn des 19. Jhs. hat die Psychologie so ein neues und autonomes Kapitel ihrer Geschichte aufgeschlagen. Was noch bis vor der Mitte des 19. Jhs. in Philosophie und Theologie von der Seele gelehrt wurde, wird man heute im Fach Psychologie nur noch sekundär als etwas Vergangenes studieren können, das nicht mehr als anekdotisches Interesse hat. Für Platon und Aristoteles hingegen stand die komplex mehrteilige psyché im Zentrum ihres philosophischen und theologischen Denkens, die Seelenlehre war das Herzstück von Ontologie und Metaphysik. Einerseits bezeichnete sie weit mehr als das individuelle Wesen einer Person oder deren Bewusstseins- und Empfindungsspielraum. Andererseits bewegen sich in der Seele nicht nur die Affekte, Empfindungen und Emotionen, der oberste Seelenteil ist auch der Sitz der Vernunft. Aristoteles‘ Abhandlung Von der Seele einschließlich seiner arabischen Kommentare ist der vielleicht wichtigste und grundlegendste, einflussreichste und meiststudierte Text des mittelalterlichen scholastischen Aristotelismus geworden. Die Wissenschaft von der Seele steht hier im Mittelpunkt des Denkens der Religion, und die Bemühung um sie ist nicht nur gleichbedeutend mit der Frage danach, was das Denkende sei, sie ist auch verbunden mit der Frage nach dem „Ewigen“, der Überwindung der Zeit und danach, welchen Teil das Leben jedes individuellen Menschen, der „Person“, an der Unberührtheit durch den Tod hat. Die Frage nach der Seele ist also zugleich eine nach der Bedeutung der Todlosigkeit. Für Judentum, Christentum und Islam gelten ursprünglich nicht dieselben Bestimmungen von „Seele“ wie für die von Griechenland ausgehende Philosophie. Noch Paulus etwa kennt drei „Leiber“, den fleischlichen, den psychischen und den pneumatischen. Nur der letztere ist vom Tode frei. Das Zusammentreffen von Platonismus und Christentum und die neuplatonische Theologie stellen gerade in der Sache der Bedeutung der Seele eine der spannungsreichsten und reibungsvollsten, aber auch immer noch am ungründlichsten untersuchten Denkkonstellationen und – widersprüchlichkeiten des Abendlandes dar. Der Buddhismus Indiens ist aus einem mythologischen Boden hervorgegangen, dem das Wirken des Ātman selbstverständlich war. Die indoeuropäische Wurzel, die auf das Wort „Atmen“ weist, zeigt den Grundsachverhalt. Er ist dasjenige Göttliche, das jedem geborenen Wesen je einzeln eigentümlich ist und dennoch zugleich ein Ich meint, das unermesslich über alle Einzelheit hinausgeht. Buddhismus ist in seiner Entstehung nicht denkbar ohne die grundlegende Kritik an den brahmanischen und upanishadischen Ātman-Lehren, denen gemäß im Tode zwar der Atemhauch des einzelnen Wesens, des Ich, verloren geht, zugleich aber der einzelne, ichhafte Ātman dennoch todfrei in den „Großen Ātman“ aufgenommen wird. Wie diese Konstellation, die der vedischen Behauptung und die der buddhistischen Kritik des Ātman, im Gespräch mit den abendländischen Mythologien, Metaphysiken und Theologien zu stehen kommen, ist bisher nur wenig zureichend bedacht worden.1 Wie denkt eine komplexe „Seelen“-Tradition wie die des Abendlandes das nirvāṇa des Buddhismus? Was ist es für buddhistische Traditionsbildungen selbst, das „hingeboren“, „hergeboren“ und „wiedergeboren“ wird? Die buddhistisch geprägten Bedeutungen von „Herz“ im Sinne von citta und manas und ihre Unterscheidungen von „Leib“ (etwa kaya) kongruieren offenkundig durchaus nicht mit einerseits den jüdisch-paulinischen und andererseits den platonisch-augustinischen Unterscheidungen des Abendlandes. Das Übersetzungsproblem der sanskritischen, mittelindischen und ebenso der chinesischen und tibetischen Worte sowohl ineinander als auch in andere Sprachen ist bis heute fern davon, ausgestanden oder klar zu sein, und dies dürfte einen seiner Gründe darin haben, dass die Hermeneutiken der verschiedenen Überlieferungen heute noch in keinem virtuo1 So etwa in dem Konferenzband hg. von Hans-Dieter Klein, Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005). seren Dialog miteinander stehen. Chinesische Mythologie und Erzählkunst ist tief durchdrungen von dem Gedanken der hun 魂- und der po 魄-„Seelen“, der leicht auffliegenden „Atem“- und der der schwer niedersinkenden „Erd“-Seelen. Beide verweisen auf eine Dämonologie und eine Mythologie, die sich insbesondere im Totenkult austrägt, aber auch sonst in der Mythologik der Alltagswelt, in den darstellenden Künsten und in der Dichtung eine prägende Rolle spielt. Ohne sie gäbe es die Erzählungen von den „Unsterblichen“ (xian 仙) ebenso wenig wie den Verkehr und die Durchmischung der Welten der Menschen und der Götter (sowohl in Gestalt von shen 神 als auch von gui 鬼). Ohne sie gäbe es auch die heitersten und komödiantischsten Dämonengeschichten nicht. Die Shintō-Traditionen des alten Japan stehen mit diesem Thema ebenso im Blick. Der mythologischen Frage, was ein kami sei und was die vielfältigen dämonischen Wesen seien, steht die korrespondierende an der Seite, was in den Menschen es sei, das zu ihnen in Beziehung steht. Worauf weist die Nichtdargestelltheit und Nichtvorzeigbarkeit eines kami in seinem shintai, die nur vor Menschen Nichtdargestelltheit und Nichtvorzeigbarkeit bedeuten kann? Worauf gerade in diesem Bezug weist der Spiegel, worauf das Schwert? Was ist, wenn die Formulierung erlaubt sein sollte, die „Seelen“-Dimension eines kami? Der erst moderne westliche Gedanke, dass die Dimension der Götter, Geister und der Seelen sich am Vorrang des Physischen bzw. der physisch gemeinten „Realität“ messen müsse, steht in auffälliger Kollision mit den eigenen Überlieferungen des Vorderen Orients und Europas, deren mythologisches Denken in der Moderne kaum noch vollzogen zu werden vermag. Der physis-Gedanke in der Weise, wie sie die moderne Naturwissenschaft hervorgebracht hat, stellt sich vielmehr selbst als ein Problem und ein Hindernis für das Verständnis der Bedeutung des Dämonischen und des Seelischen heraus. Die moderne Schwierigkeit des Verständnisses von Seele ist unmittelbar verbunden mit der Schwierigkeit, die mythische Gegenwart des Göttlichen, des Heiligen und der durch sie geschehenden Überwindung des Unterschieds von Leben und Tod zu verstehen. Dennoch ist „Seelenlosigkeit“ vielfach der Name für ein merkwürdiges Phänomen und ein Signum der Säkularität gerade heute geworden. Aus diesem Grunde sind interdisziplinär philosophische und literarische, aber auch ritualwissenschaftliche und mythologische Studien, die wesentlich hermeneutisch verfahren, unserer Konferenz besonders willkommen. Genaue Untersuchungen etwa des neutestamentlichen Gebrauchs der Worte psyché und pneuma, die, obwohl in Griechisch gesprochen, doch Hebräisch gedacht sind, und ihre Differenz zu neuplatonischen Hermeneutiken sind erwünscht. Der jüdische Untergrund dieses Problems kann Thema werden. Literarische Studien, die die Gründe für die Überset- zungsschwierigkeiten zwischen den vedischen und buddhistischen sowie den westlichen Worten im Bezug auf diesen Bereich ans Tageslicht treten lassen, sind ausdrücklich erbeten. Wenn – dies nur als Einzelbeispiel – bodhicitta mit „Geist des Erwachens“ übertragen wird, was ist damit verdorben und was damit gesehen? Was hat die Denkschwierigkeit an diesem Punkt mit bestimmten Verständnissen von „Seele“ zu tun? Die Thematik bezieht ihre Wichtigkeit und Brisanz ausdrücklich daraus, dass die ganz unterschiedlichen Überlieferungen, Traditionen und Kulturepochen gegenseitig und kontrastierend miteinander ins Gespräch kommen, weniger daraus, dass Studien nur innerhalb ihrer eigenen kulturellen Großräume, in denen es innere Kontinuitäten und rekonstruierbare „Wirkungsgeschichten“ geben kann, verbleiben. Vielleicht gehört die komplexe Frage, was „Seele“ bedeute, zu den schwierigsten, die die beteiligten Fächer überhaupt im Austausch miteinander zu stellen imstande sind. Aus derlei Untersuchungen könnte auch verständlich werden, inwiefern die naturwissenschaftliche Reduktion der modernen Psychologie und Psychiatrie einen Mangel bedeutet, den sie aus eigener Kraft nicht mehr beheben können, und das Verstehen der vielfältigen großen Überlieferungen von der „Seele“ uns im Gegenzug notwendiger denn je bleibt.