REPORT 3 Sonntag, 14. August 2016 Eigentlich arbeitet der Kölner Christian Eckert als Reiseleiter, jetzt schippert er schon seit Monaten auf der „Sea-Eye“ vor der libyschen Küste. „Plötzlich zerreißt ein Baby-Schrei die Nacht“ KölnerChristianEckertberichtetvondramatischen Einsätzen auf dem Flüchtlingshelferschiff „Sea-Eye“ Eigentlich wollte Christian Eckert (37) zwei Wochen seines Urlaubs opfern. Um ein Zeichen zu setzen, um zu helfen. Jetzt hat der Kölner sich schon fast zwei Monate freistellen lassen, schippert auf einem Fischkutter vor der Küste Libyens. „Wenn du erlebt hast, wie diese hilflosen Menschen dir ihre Babys entgegenstrecken, das lässt dich nicht mehr los“, sagt er leise. VON ANDREA KAHLMEIER [email protected] T iefschwarze Nacht. Aber das Meer schläft nicht. Die Wellen schlagen an den Kutter, der Wind pfeift an Deck. Plötzlich zerreißt ein Babyschrei die Nacht. Das Wimmern hallt übers Meer. Die zwei Männer, die Wache schieben, springen elektrisiert auf, greifen zum Nachtsichtgerät. Wo ist das Boot? Wie weit mag es entfernt sein? Der eine sucht das Meer ab, der andere weckt den Rest der Crew. „Alle Mann an Deck.“ Eine Sache von Sekunden. „An Bord schläft keiner fest. Du bist immer im Standby-Modus“, schildert Reiseleiter Eckert während einer zweitägigen Stippvisite in Köln seine Erlebnisse auf der „Sea Eye“ – einem privaten Helferschiff im Mittelmeer. „Wir decken einen Korridor von 80 Seemeilen, umgerechnet knapp 160 Kilometer nördlich von Tripolis ab“, erklärt Eckert. „Auf dieser Seite liegen die Strände, von denen man gut ablegen kann.“ Mehr als 1000 Menschen hat Christian Eckert mittlerweile auf hoher See mit Rettungswesten und Wasser versorgt. An einem Tag waren es allein 600 Flüchtlinge, die auf fünf Booten kauerten. Nie wird er sie vergessen, diese Frau aus Nigeria. Im neunten Monat schwanger, eingezwängt zwischen den anderen. „Sie war am Ende ihrer Kräfte, hatte Wassereinlagerungen in den Beinen. Wie groß muss das Leid sein, um Mit dem Schlauchboot nähert sich die Crew den Booten. in dieser Situation die Flucht zu wagen?“ Die Frau gehörte zu den wenigen, die die „Sea-Eye“ an Bord nahm. Dafür ist der 60 Jahre alte, 26 Meter lange Kahn nicht ausgerichtet. Es ist ja kaum Platz für die achtköpfige Crew – Skipper, Maschinist, Arzt und vier Helfer. „Wir vier schlafen in einem Raum zusammen. Die Kojen sind rund um den Tisch verteilt. Privatsphäre? Kannste vergessen“, grinst Eckert. Nein, wer sich einen kostenlosen Abenteuerurlaub erhofft, sollte lieber zu Hause bleiben. „An Bord ist es bei 35 Grad wirklich stickig. Und wehe, du packst die Stahlwände an. Die sind kochend heiß.“ Gegessen wird meist aus der Dose, geschlafen wird im Schichtwechsel, bis es heißt: „Boot in Sicht.“ Dann geht es Schlag auf Schlag. Schnell ins Beiboot und zu den Flüchtlingen. Immer die Angst im Nacken, dass eine Panik ausbrechen könnte und Menschen dabei über Bord gehen. „Die Schlauchboote sind ja total überfüllt. Oft können die Flüchtlinge nicht mal sitzen, stehen aneinandergepresst Die meisten Flüchtlinge können nicht schwimmen und haben da und schauen uns mit ängstlichen Augen an. »Sind keine Ahnung, dass sie sich in Lebensgefahr begeben. wir Freund oder Feind«, fragt der Blick.“ Aber dann... Die Erleichterung, diese Dankbarkeit, wenn Schwimmwesten gereicht werden. Wenn den Menschen aus Nigeria, dem Senegal und Ghana, aus Eritrea und Äthiopien sowie dem gesamten Nahen Osten übersetzt wird: „Euch wird geholfen, wir leiten SOS weiter an die Seenotleitstelle Mittelmeer.“ Aufatmen, Lachen. „God bless you.“ (Gott schütze euch) rufen sie. Aber ist es nicht genau das, worauf die Schlepper spekulieren? Menschen erst 1000, 1500 Dollar aus der Tasche ziehen, sie dann mit nichts am Leib außer ihrer Kleidung auf ein altes Boot zu pferchen und darauf setzen, dass sie gerettet werden? Ja, auch Eckert ist schon mit dem Vorwurf konfrontiert worden, verlängerter Arm der Schlepper zu sein. „Doch was ist die Alternative – alle sterben zu lassen?“, sagt er wütend. Er rechnet vor: „Bei fünf Booten macht ein Schlepper eine Million – pro Nacht. Da dürfte es eigentlich kein Problem sein, jeden mit einer Schwimmweste zu versorgen. Aber oft genug ist ja sogar kaum Sprit im Tank. Denen geht’s nur um Gewinnmaximierung. Und den Flüchtlingen erzählen sie, dass sie in zwei, drei Stunden in Sicherheit seien, in Italien an Land gehen.“ Eckert nippt an seinem Cappuccino. „Du schaust in die hoffnungsvollen Gesichter und ahnst, wie viele von ihnen keine Chance haben und abgeschoben werden.“ 2700 Menschen starben auf dem Weg nach Italien Seit Sommerbeginn kommen wieder mehr Flüchtlinge aus Afrika über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa. Rund 100 000 Menschen sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr bis jetzt an Italiens Küsten angekommen. Für mehr als 2700 Menschen endete der Weg von Libyen nach Lampedusa allerdings tödlich. Italien will mit einer neuen Kampagne Flüchtlinge von der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer abhalten. In kurzen Filmen werden die Geschichten von Überlebenden nach Bootsunglücken erzählt. Babys und alleinreisende Kinder gehen Christian Eckert besonders nahe. Fotos: www.Sea-eye.org