DieKrisealsChance

Werbung
8
International
Tages-Anzeiger – Freitag, 30. Oktober 2015
Europas verlorene Generation (5)
Früh in Führung,
bald vergessen
Die Krise als Chance
Im Römer Hauptbahnhof Termini widerlegen junge Start-upper den Fatalismus
des Stillstands – mit Ideen, die gut zu Italien passen. Eine Reportage von Oliver Meiler
Triumph der Nichtpolitiker
Findige Leute ohne Kapital
300 Jobs aus dem Nichts
Bei jeder neuen Ausschreibung von
Luiss Enlabs bewerben sich jeweils mehrere Hundert Kandidaten um Aufnahme
ins Programm. Der Platz ist knapp, die
Selektion hart. Da lernt man das schnelle
Reden. Pro Wettbewerb schafft es ein
halbes Dutzend in den Brutkasten, 15 im
Jahr. Capello stellt ihnen Berater zur
Seite, gibt ihnen je 30 000 Euro in cash
und 30 000 Euro in Dienstleistungen –
«60 K», noch so ein Amerikanismus.
Nicolas Richter
Washington
Vor langer Zeit hat Jeb Bush einmal gesagt, er werde sich den Wahlkampf um
das Weisse Haus nur unter einer Bedingung antun: dass er sich von einer positiven, optimistischen Botschaft Erfolg
verspreche. Das war in jener Zeit, als er
noch in den Umfragen führte und sich
vor Spendern kaum retten konnte. Diese
Woche nun stand Bush bei der dritten
TV-Debatte der Republikaner am Pult
des Fünftplatzierten und blaffte seinen
jungen Nebenmann Marco Rubio an; der
führe bloss Wahlkampf, statt sich um
seine eigentliche Aufgabe als US-Senator
zu kümmern. «Du solltest zurücktreten
und den Job einem anderen überlassen», sagte Bush. Dabei ist er der politische Ziehvater Rubios, beide stammen
aus Florida und galten einst als Freunde.
Fast hätte man als Zuschauer vergessen können, dass diese Vater-SohnKonfrontation bloss in einer Nische
stattfand. Im Durchschnitt aller landesweiten Umfragen liegt Bush bei 7, Rubio
bei 9 Prozent. Fänden die Vorwahlen
heute statt, hätte keiner von beiden eine
Chance. Die Anführer in diesem Wettbewerb sind – noch immer – Donald
Trump, der Promi-Unternehmer aus
New York (27 Prozent), sowie Ben Carson, ein ehemaliger Gehirnchirurg
(22 Prozent). Beide wirkten bei der
TV-Debatte voller Siegesgewissheit.
Manchmal riecht die Zukunft nach Kaffee aus einem Automaten, selbst in Italien. Schnell gebrüht, gar nicht schlecht.
Unten, man hört sie nicht, fahren die
Züge in die Stazione Termini, Roms bewegten Hauptbahnhof. Der Ort ist eine
Metapher für sich, ein Sackbahnhof.
Doch oben, im zweiten Stock des massiven Flügelbaus, in einer Bürohalle mit
viel Licht und Glas hoch über Gleis 24,
entwerfen junge Menschen mit Computern auf den Knien und den Füssen
auf den Tischen Wege in die Welt. Sie
erzählen von ihren Reisen: London,
Madrid, Berlin, San Francisco.
Sie reden so, wie man überall dort
redet, wo schnell gedacht wird, wo jede
Idee einen Slogan haben muss. Es ist ein
Italienisch voller Entlehnungen aus dem
Englischen: «Founder» für Gründer,
«Field» für Geschäftsfeld. «Worldwide»,
wird Alessandro Rossi in seinem Redeschwall gleich sagen, einer der Gründer
von CoContest, einem sozialen Netzwerk für Innendesigner. Sein «o» ist kein
«ö», sein «r» gerollt. Rossi ist 28, er
kommt gerade zurück aus dem Silicon
Valley, drei Monate war er da. «Sehr
dynamisch», sagt er, «wenn dus dort
schaffst, schaffst dus überall. Aber leben
möchte ich viel lieber hier, im langsamen Rom.» Von wegen Braindrain.
Er lacht, nur kurz, keine Zeit. «Ciao!»
Willkommen bei Luiss Enlabs, einem
Inkubator für Start-ups, einem Brutkasten für Jungunternehmer der digitalen Welt, für findige Köpfe ohne Kapital, für Kämpfer wider den Fatalismus.
So also, mit einer Anlehnung an die
klassische Geburtshilfe, nennen sie das
in der Branche. Inkubatoren gibt es mittlerweile an vielen Orten. Doch dass es
einen so grossen, pulsierenden, blühenden Brutkasten ausgerechnet in Rom
gibt, einer musealen Stadt mit schwierigem Verhältnis zur Moderne, ist eine
kulturelle Sensation. Auch für die Römer selbst. Das Beispiel bricht mit dem
Bild, das man sich im Ausland gemeinhin vom krisengeschüttelten Italien
macht, gerade im südlicheren Teil des
Landes mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit, seinen trüben Statistiken, den
vielen Geschichten aus der verlorenen
Generation.
«Es klingt paradox», sagt Luigi
Capello, Gründer und Seele der «Innovationsfabrik», wie er sie nennt, «doch
die Krise hilft uns.» Keine andere Stadt
Europas zähle mehr Studenten als Rom
mit seinen 300 000, ein formidables Kapital kluger Köpfe – mit schlechten Aussichten auf feste Stellen. Da muss man
agil sein, Alternativen suchen, Ideen generieren, sich seinen Job selber schaffen. «Nach acht Jahren tiefer Krise haben alle Lust auf Aufbruch und Abenteuer», sagt er, «auch die Investoren.»
Vor drei Jahren konnte er Luiss, die
private Universität des italienischen Arbeitgeberverbands, für sein Projekt gewinnen. Die hat einen guten Ruf. Sie gab
dem Unternehmen das nötige Renommee. Staatliche Gelder erhält der
Inkubator nicht. «Ist auch besser so»,
sagt Capello, «der Staat würde sich nur
einmischen.» Immerhin sorgte die linke
Regierung von Premier Matteo Renzi dafür, dass Start-ups und Geldgeber beträchtliche Steuererleichterungen erhalten. Die Bürokratie wurde entschlackt.
Es ist ein Beitrag zum guten Klima.
Noch sind im US-Wahlkampf
Aussenseiter wie Trump und
Carson das Mass aller Dinge.
Doch der Wettbewerb
ist noch lange nicht gelaufen.
Ein grosser pulsierender Brutkasten, mitten in Rom: Jungunternehmer besprechen bei Luiss Enlabs ihre Ideen. Foto: Luigi Narici (AGF)
Kluge Köpfe
haben schlechte
Aussichten
auf feste Stellen.
Nach der Brutzeit kommt die Brautschau, der Investor-Day. Da buhlen
die neuen Firmen um das grosse Geld
für die Umsetzung ihrer Ideen. Mal
sind es 300 000, mal 400 000, mal
500 000 Euro. «Für die Versorgung aller
Start-ups der ersten Staffel brauchten
wir sechs Monate», sagt Capello. Das
war vor drei Jahren, als das Misstrauen
noch gross war. «Bei der jüngsten Staffel
im letzten Juni reichte eine Stunde, und
es floss erst noch viel mehr Geld.»
Das Konzept setzt sich also auch in
Italien durch, der Kulturwandel scheint
geschafft, zumindest über Gleis 24, in
den süssen Schwaden überzuckerten
Automatenkaffees. 300 Jobs konnten
schon geschaffen werden, aus dem
Nichts gewissermassen. Und wenn die
Bürofläche bald von 2000 auf
10 000 Quadratmeter wächst, dann ist
das Potenzial noch viel grösser.
In der Schlange – viel zu lange
Roberto Macina sitzt mit sechs Mitarbeitern eng auf eng in einem Glaskasten. Er
war schon im Fernsehen mit seiner Idee,
einer App fürs Smartphone. Qurami, so
heisst sie, erspart dem Nutzer das lange
Schlangestehen auf den Ämtern, eine
alte italienische Plage. Dank Qurami
kann man die Wartenummer auf Distanz
ziehen, per Fernbedienung sozusagen,
und erst dann hingehen, wenn man
auch wirklich dran ist. «Banal, nicht?»,
sagt der Informatiker. Er kam darauf,
nachdem er im Sekretariat seiner Uni
eine Stunde auf ein Dokument hatte
warten müssen. Die Idee liess ihn nicht
mehr los.
Macina kündigte seine Anstellung
bei Telecom Italia. Nach dem Studium
hatte er dort einen befristeten, schlecht
bezahlten Vertrag erhalten – «einen italienischen Vertrag», sagt er und verzieht
das Gesicht zur Grimasse. Er wagte den
Sprung in den Brutkasten. Zu Beginn
waren sie zu dritt, nun sind sie 14. Die
Stadtverwaltungen von Rom, Mailand
und Florenz hängten sich bei Qurami
an. Kürzlich schloss Macina Verträge in
Spanien und England. «In Italien wächst
der Markt der Start-ups gerade exponentiell», sagt er, «es entsteht ein Ökosystem. Aber natürlich: Im Vergleich zu
Amerika und Grossbritannien begannen
wir ja bei minus 10.» Bald soll Qurami
auch die Wartezeiten beim Friseur und
beim Zahnarzt melden können. Auch
Macina lockt es nicht ins Ausland: «Ich
würde immer in Rom leben wollen,
wenn es irgendwie geht, mit dem Koffer
für kleine Reisen in der Hand.»
Zwei Glasboxen weiter sitzen die Erfinder von WineOwine, einer Plattform
für kleine Weinkellereien im verzweifelten Wettlauf mit den Grossen. Eros
Durante und sein Team aus Önologen,
Designern und Marketingspezialisten
testen Weine, gestalten die Etiketten
der Flaschen, nähren das Storytelling
mit schön geschriebenen Geschichten
aus den Herkunftsregionen, mit Biografien der Winzer – und schlagen ihrer
schnell wachsenden Community jede
Woche einen Tropfen vor. Sogenannte
Flash Sales, Blitzverkäufe.
WineOwine nimmt die Bestellungen
auf, kauft dem Hersteller die Flaschen
ab, verkauft sie weiter. Ohne Lager. Die
erfolgreichsten Flaschen kommen in
den permanenten Katalog. Die Grossen
der Kleinen, nennt sie Durante. Die Idee
entstand bei einem Essen mit viel Wein,
in einem Dorf bei Chieti in den Abruzzen, wo Durante und sein Geschäftspartner, ein Jugendfreund, herkommen. «In
Italien gibt es 380 000 Kellereien», sagt
Durante, «der Markt ist satt, der Wettbewerb scheinbar geschlossen.» Seine
App öffnet ihn ein bisschen.
Schnell mal nach New York
Bei CoContest gelang das auf spektakuläre Weise. Kaum eine Berufsgattung litt
mehr unter der Krise als jene der Architekten und Innendekorateure. Gebaut
wurde wenig. Schönheit war Luxus, und
Luxus konnte sich kaum jemand leisten.
CoContest revolutionierte und demokratisierte den Kontakt zwischen Kunden, die ihr Daheim umgestalten wollen,
und den Gestaltern. 25 000 Zeichner
aus 90 Ländern registrierten sich auf
der Plattform. Worldwide eben. Sie
nehmen online an Ausschreibungen teil,
reichen ihre Projekte ein. «Es kann
vorkommen», sagt Alessandro Rossi,
«dass ein junger italienischer Designer
ohne grosses Studio im Rücken einen
Auftrag für den Umbau eines Lofts in
New York gewinnt und hinfährt.»
Junge Talente ausgebremst
Der Erfolg von CoContest gefällt nicht
allen. Unlängst wurde die Firma für eine
Befragung ins italienische Parlament
zitiert. Der Kommission, erzählt Rossi
belustigt, habe ein Abgeordneter vorgesessen, der privat Architekt sei: «Der
fürchtet wohl, dass er künftig kein
Personal mehr findet, das für einen
Hungerlohn für ihn arbeitet, die Eimer
leert, den Kaffee bringt.» So werden Jugend und Talent gebremst, auch das ist
eine italienische Plage. Oft schaffen es
nur Leute mit Verbindungen und prominenten Empfehlungen. Leistung allein
reicht selten. Die Aufstiegschancen von
Architekten und Innendesignern sind
besonders prekär. Ein italienischer
Architekt, erzählt Rossi, verdiene im
Durchschnitt jährlich 17 000 Euro. «Bei
uns verdienen sie viel mehr, und sie können sich endlich einen Namen machen,
ein Portfolio zusammenstellen, an ihrer
Zukunft bauen.» Worldwide.
Die Welt der Architektur war ihm
fremd, als Rossi mit seinen Partnern in
den Inkubator von Luiss Enlabs stieg.
Er hatte gerade sein Wirtschaftsstudium
beendet, scheute die Ohnmacht der
Leere, hatte Lust auf Bewegung. Nun
träumt er, wie die meisten hier, von
einem schönen «Exit», einem Millionenverkauf seiner Idee. Für neue Abenteuer, auf neuen «Fields». In Rom,
ausgerechnet.
Serie Jugendarbeitslosigkeit
Soziale Tragödie in Europa
Dies ist die letzte Folge der Serie, in der sich
der «Tages-Anzeiger» dem Thema
Jugendarbeitslosigkeit in Europa gewidmet
hat. Dabei wurde dieses verheerende
gesellschaftliche Problem, dessen Folgen uns
noch jahrzehntelang beschäftigen dürften,
aus der Perspektive verschiedener Länder
geschildert und analysiert. Erschienen sind:
- «Das Leben fängt nicht an», 27. August.
- «Generation 500 Euro», 9. September.
- «Die deutsche Welle», 26. September.
- «Sie verdämmern ihre ganze Jugend»,
21. Oktober. (ben)
So läuft das in diesem Wettbewerb, der
alle Prognosen widerlegt und Experten
blamiert: Aussenseiter wie Trump und
Carson, unbelastet von jeder politischen
Erfahrung, sind das Mass der Dinge, sie
können sich sogar an den grossen Debattenabenden Gelassenheit leisten. Weiter
unten in den Umfragen balgen sich jene,
die man «politisch Etablierte» nennt
und die einst als Favoriten galten: Jeb
Bush, Ex-Gouverneur von Florida, John
Kasich, Gouverneur von Ohio, Marco
Rubio, US-Senator. Es fällt ihnen schwer,
eine fiebrige Partei zu erreichen, die seit
Juli pausenlos Nichtpolitiker bevorzugt.
Aber der Wettbewerb ist noch lange
nicht gelaufen. Die erste Vorwahl in
Iowa findet in drei Monaten statt, im
politischen Geschäft der USA ist das eine
Ewigkeit. Sieben von zehn Republikanern erklären, dass sie noch unentschlossen sind. Und die Geschichte republikanischer Vorwahlen ist reich an
skurrilen Aussenseitern, die früh in Führung gingen und doch bald wieder vergessen waren. Am Ende hat die Partei
immer den seriösen, bewährten, altgedienten Wettbewerber zum Kandidaten für das Weisse Haus bestimmt.
Das Erstaunliche ist, dass viele Republikaner glauben, dass dies Trump ist.
43 Prozent geben in einer neuen Umfrage an, dass er am ehesten die Hauptwahl für sich entscheiden könnte. Seine
konstante Führung seit dem Sommer
und die Begeisterung seiner Anhänger
verraten, dass grosse Teile der Basis genug haben von ihren Karrierepolitikern
und es mit einem Neuen probieren
möchten, der «authentisch» und «ehrlich» ist. Je grotesker die Aussagen
Trumps, desto mehr schliessen ihn die
Republikaner ins Herz. Und offenbar
fürchten die Moderaten, dass sie die Basis verstimmen, wenn sie deren Lieblinge kritisieren. Sie hoffen, dass sich
Trump und Carson selbst diskreditieren.
Bush fehlt es an Schlagfertigkeit
Sollte dieser Augenblick kommen, wäre
Jeb Bush noch immer bestens gerüstet,
er verfügt über viel Geld und über einen
langfristigen Plan, das Weisse Haus zu
erobern. Aber die bisherige Dynamik
spricht gegen ihn. Es ist ein klarer Nachteil, im Jahr der Aussenseiter den Establishment-Namen schlechthin zu tragen
– Bush. Wie schon drei Debatten gezeigt
haben, fehlen Bush schlicht Schlagfertigkeit und Präsenz. Manchmal klingt
er sogar defätistisch. Neulich sagte er,
halb beleidigt: «Wählt Trump, wenn ihr
wollt.» Wie er seine Partei so je begeistern will, bleibt sein Geheimnis.
Herunterladen