217 Viele Parodontitispatienten sind sich ihrer z. T. weit fortgeschrittenen Krankheit jahrelang nicht bewusst. Erst bei Schmerzen (Dolor) und akuten Entzündungssymptomen (Rubor, Calor, Ödem) suchen sie den Zahnarzt auf. Solche Notfälle müssen trotz evtl. Zeitnot umgehend behandelt werden. Um aber lebensbedrohende Zwischenfälle auszuschließen, ist als Erstes eine allgemeinmedizinische Kurzanamnese aufzunehmen, die insbesondere nach der Einnahme von Medikamenten (Antikoagulanzien!), der Notwendigkeit einer Infektionsprophylaxe (Endokarditis, HIV u. a.), nach Allergien sowie früheren Zwischenfällen fragt. Eine summarische klinische und lokale röntgenologische Befunderhebung ist als Nächstes auch beim Notfallpatienten – trotz Schmerzen – vor jeglicher Therapie unumgänglich. Parodontale Notfallsituationen bzw. Notfallbehandlungen sind: • erste lokal-medikamentöse und mechanische Therapie bei akuter NUG • Behandlung akuter, eiternder Taschen • Eröffnung von Parodontalabszessen • Sofortextraktion stark gelockerter, nicht erhaltungswürdiger Zähne • akute, kombinierte endodontisch-parodontale Probleme • parodontales Trauma nach Unfall Die akute Gingivoparodontitis ulcerosa (akute NUG) bereitet Schmerzen und schreitet sehr schnell fort. Eine lokal-medikamentöse Therapie und eine erste vorsichtige instrumentelle Reinigung bringen in wenigen Stunden Linderung und eine Reduktion der akuten Situation. Cave: Ulzerationen als Symptom (opportunistische Infektion) beim HIV-seropositiven Patienten. Akute, eiternde Taschen bereiten in der Regel keine Schmerzen, wenn ein Abfluss nach marginal besteht (Ausnahme: Abszess). Sie sind aber Zeichen eines exazerbierenden Prozesses, der zu schnellem Attachmentverlust führen kann. Sie müssen daher sofort medikamentös (Spülungen, Salben, Reinigung) gestoppt und eventuell bereits mechanisch behandelt werden. Parodontalabszesse sind meist schmerzhaft. Sie müssen eröffnet bzw. sofort drainiert werden. Häufig ist dies von marginal her – via Taschensondierung – möglich. An Molaren mit tiefen Taschen oder Furkationsbefall kann sich ein Abszess – den Knochen penetrierend – auch subperiostal bilden. Er ist von marginal nicht immer erreichbar und muss durch Inzision eröffnet werden. Sofortextraktionen werden nur bei nicht mehr erhaltungswürdigen, stark gelockerten, den Patienten störenden Zähnen vorgenommen. Im sichtbaren Bereich muss aus ästhetischen Gründen eine Extraktion wenn möglich umgangen werden oder ein Sofortprovisorium vorhanden sein. Akute, endodontisch-parodontale Prozesse sind prognostisch günstiger, wenn der Hauptgrund endodontischen Ursprungs ist. Immer sollte der Wurzelkanal zuerst, dann die Tasche behandelt werden (S. 445–447). Parodontales Trauma durch Unfall bedarf in der Regel einer sofortigen Schienung (nach allenfalls notwendiger Replantation oder Reposition des Zahns). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Notfalltherapie 218 Notfalltherapie 462 Notfallbefund: akute Gingivitis ulcerosa (NUG) Die starken Schmerzen im akuten Stadium erlauben höchstens eine sehr vorsichtige periphere Zahnreinigung. Zur Behandlung des akuten Zustands wird daher nach Touchierung mit H2O2 (3 %) eine entzündungshemmende, schmerzlindernde und auch desinfizierende Salbe aufgetragen. Der Patient spült zu Hause mit Chlorhexidin (0,1–0,2 %). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Akute „nekrotisierende ulzerative Gingivitis“ (NUG) 463 Nach Notfallbehandlung – subakutes Stadium Einige Tage nach der lokal-medikamentösen Notfallbehandlung sowie der ersten vorsichtigen mechanischen Reinigung sind die Aktivitätssymptome – vor allem die Schmerzen – kupiert. Die Behandlung durch systematisches subgingivales Scaling, evtl. später durch Gingivoplastiken, erfolgt nun gemäß den üblichen Therapieschritten. 464 Notfallbefund: lokalisierte akute Tasche Trotz des 10 mm tiefen Einbruchs distal von Zahn 31 sollte versucht werden, diesen vitalen Zahn zu erhalten. Eiter hat sich noch kaum gebildet, ein Abfluss nach marginal wäre möglich. Vor der mechanischen Therapie wird der klopfempfindliche, vitale Inzisivus medikamentös „beruhigt“, die Tasche desinfiziert (Spülungen, Salbe). Rechts: Tiefer Einbruch distal von Zahn 31 im Röntgenbild. „Akute Tasche“ – akute Taschenentzündung 465 Medikamentöse Notfallbehandlung und Nachbefund Als Soforttherapie wird die Tasche nach CHX-Spülung hier mit Achromycin-Salbe 3 % aufgefüllt. Nach Abklingen der akuten Symptome erfolgt die gründliche subgingivale Wurzelreinigung. Rechts: 8 Wochen nach der Taschenbehandlung ist die Gingiva wieder straff, wenn auch leicht geschrumpft. Die Sondierungstiefe beträgt nur noch rund 3 mm. Notfalltherapie 219 466 Notfallbefund: Taschenabszess – Eröffnung bei Sondierung von marginal Ausgehend von einer tiefen Knochentasche mesial von Zahn 11 hat sich ein Parodontalabszess gebildet. Bei Sondierung der Tasche entleert sich reichlich Pus. Links: Das Röntgenbild zeigt die tief – bis auf den Fundus der Knochentasche – eindringende parodontale Messsonde. 467 Medikamentöse Notfallbehandlung – Röntgennachbefund Der Abszess ist nach marginal eröffnet. Die Tasche wird gründlich gespült. Anschließend wird sie mit einer antibiotischen Salbe gefüllt. Nach Abklingen der akuten Symptome erfolgt die definitive Therapie. Links: Röntgenbild 6 Monate nach definitiver Behandlung: Knochenneubildung. 468 Notfallbefund: Parodontalabszess vor Durchbruch quer durch Gingiva Ausgehend von einer tiefen 1-Wand-Knochentasche mesial des gekippten, vitalen Zahns 47 hat sich ein Abszess gebildet, der vor dem Durchbruch durch die Gingiva steht. Zahn 47 ist ein Klammerzahn einer alten, schlecht sitzenden Modellgussprothese. Diese möchte die betagte Patientin jedoch erhalten. Parodontalabszess 469 Abszesseröffnung Bei Berührung mit der Parodontalsonde hat sich der Abszess ohne Inzision sofort geöffnet. Es entleert sich reichlich Pus. Links: Im Röntgenbild ist die tiefe Tasche mit einem Haken-Scaler in situ erkennbar. Da die Furkation erst wenig befallen ist, wird die Erhaltung des Zahns (Klammerzahn) versucht. Mechanische und medikamentöse Behandlung erfolgen hier gleichzeitig. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Taschenabszess 220 Notfalltherapie 470 Notfallbefund im Seitenzahngebiet: nicht erhaltungswürdiger Molar 37 Aus der tiefen Tasche distal und dem bukkalen Furkationsbereich entleert sich spontan Eiter. Der vitale Zahn ist stark gelockert und schmerzt auf den geringsten Druck hin. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Abszess – distale Tasche/Furkation 471 Röntgenbild vor Sofortextraktion Die ohne Druck eingeführte Sonde erreicht in der tiefen Tasche fast den Apex. Ohne Sonde wäre der Defekt an dieser Stelle kaum erkennbar. Für eine Therapie sehr ungünstige Furkationsform; sich apikal vereinigende Wurzeln! Rechts: Am apikalen Ende des extrahierten Zahns bleibt eine große Masse von hoch infiltriertem Granulationsgewebe hängen. 472 Notfallbefund im Frontzahngebiet: extraktionsreifer, schmerzender Zahn 11 – Fistel Über der tiefen Tasche hat sich eine Fistel gebildet. Der devitale Zahn ist stark gelockert und perkussionsempfindlich. Nach Abklärungen von Alternativen wird dieser Zahn sofort extrahiert. Rechts: Im Röntgenbild wird deutlich, wie die vorsichtig eingeführte Sonde über den Apex hinausreicht (Paro-Endo-Probleme, S. 445). Akutes Paro-Endo-Problem – Fistel 473 Sofortextraktion – Sofortprovisorium Aus ästhetischen Gründen ist ein Sofortersatz notwendig. Nach Extraktion und Abtrennung der Wurzel von der Krone wird diese mit Kompositmaterial und einem Draht provisorisch an den Nachbarzähnen befestigt. Ein solches Provisorium kann bis zur definitiven Rekonstruktion verbleiben. Rechts: Röntgenbild des provisorischen Ersatzes (eigene Zahnkrone).