SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben STARK, SCHWACH, STANDHAFT, STUR DIE KOMPLEXE PERSÖNLICHKEIT MARTIN LUTHERS VON PETRA PFEIFFER SENDUNG 17.04.2017 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de O-Ton 1 Engel Sie können gerne noch mit an der Führung teilnehmen. Wenn Sie das möchten, dann können Sie sich mit anschließen… Schritte… Autorin Draußen scheint die Frühlingssonne, aber drinnen in der Kirche des Augustinerklosters in Erfurt bibbern die Besucher. Fast wie zu Zeiten Martin Luthers, der in diesem Kloster drei Dinge gelernt haben will: das Beten, das Fasten und das Frieren. Mehrmals am Tag führt Heike Engel durch die Gemäuer, in denen Luther seine ersten Jahre als Mönch zubrachte. Das Interesse an seiner Theologie, aber auch an seiner Persönlichkeit ist ungebrochen, beides hängt eng zusammen. Atmo Donner? Es war ein einschneidendes Erlebnis, das Martin Luther vor gut 500 Jahren ins Kloster trieb. Das Gewitter von Stotternheim: O-Ton 2 Engel Man erzählt, der Blitz schlug unmittelbar neben dem jungen Luther ein, ganz in der Nähe, Stotternheim, und voller Todesangst soll er ausgerufen haben: Ja hilf doch, heilige Anna, ich gelobe, ein Mönch zu werden. Und dieses „hilf, heilige Anna“ fasst er als Gelübde auf, und so dauerte es nicht lange, er klopft hier am 17. Juli 1505 an die berühmte Klosterpforte und bat um Einlass. Autorin Angst vor dem Tod, Angst vor der Hölle, Angst vor dem richtenden Gott. Der junge Luther war Kind seiner Zeit, stand mit einem Bein noch im Spätmittelalter. Im Kloster strampelte er sich regelrecht ab, kasteite sich, fastete noch häufiger als vorgeschrieben, suchte jede Gelegenheit zur Beichte – alles, um seine Seele zu retten und vor dem strengen Richtergott zu bestehen. Ein treuer Sohn seiner Kirche. Autoritätsgläubig. War das wirklich derselbe Mann, der sich 15 Jahre später beim Reichstag zu Worms gegen die Mächtigen in Reich und Kirche stemmte und mit der überlieferten Lehre brach? Der gegen alle Widerstände einen barmherzigen und gütigen Gott predigte, den man eben nicht mit frommen Werken, Bußübungen oder gar mit dem Erwerb von Ablässen gnädig stimmen muss? Der sich weigerte zu widerrufen? Luther gibt uns viele Rätsel auf, auch heute noch: hier der Mönch mit seinen übergroßen Ängsten, dort der Reformator mit seinem übergroßen Mut. Ein Mann der Extreme, mal liebevoll, mal unerträglich grob und aufbrausend, anfangs judenfreundlich, später ein Judenhasser und geistiger Brandstifter. Voller Widersprüche – so scheint es zumindest. Was für ein Mensch war er wirklich? 2 O-Ton 3 Hasselhorn Wenn ich’s mit einem Wort sagen würde, würde ich sagen: Luthers Persönlichkeit kann man charakterisieren mit dem Begriff „Un-bedingtheit“. Autorin Benjamin Hasselhorn, evangelischer Theologe und Historiker, Mitarbeiter der Stiftung Luther-Gedenkstätten. O-Ton 4 Hasselhorn Luther war kein Halber, kein Moderater. Hat in dem Moment, in dem er von einer Sache überzeugt war, auch keinerlei Kompromisse akzeptiert, so dass er immer un-bedingt für das von ihm als wahr Erkannte war und in einer großen Ernsthaftigkeit das in die Welt bringen wollte. Autorin Es ist sicher kein Zufall, dass sich Martin Luther für den überaus strengen Orden der Augustinereremiten entschieden hat. Viel hilft viel, dürfte sich der 22jährige gedacht haben, je härter das Leben, desto größer die Aussicht auf die Rettung seiner Seele. Aufstehen um 2, die erste Mahlzeit um 12, also nach 10 Stunden. Dazwischen beten und studieren in der unbeheizten Einzelzelle, unter Beobachtung. Am Ende blieben nachts gerade viereinhalb Stunden Schlaf auf dem Strohsack, dicht an dicht mit den Ordensbrüdern. Man muss dieses eng getaktete Leben kennen, um Martin Luther zu verstehen. Die Vorschriften streng, die Kontrolle lückenlos, keine Freizeit, keine Freiheiten. O-Ton 5 Engel (Schritte) Man sagt, Luther hat diesen Raum verlassen und fühlte sich schuldig. Autorin: Der Kapitelsaal des Klosters. Hier versammelten sich am Freitagnachmittag die Ordensmitglieder. Freitagnachmittag, das bedeutete: offenes Schuldbekenntnis vor der Gemeinschaft. So etwas prägt sich tief in die empfindsame Seele ein. O-Ton 6 Engel Man hat erst gefragt: Hat jemand Schuld auf sich geladen? Und wenn dann so ein Schweigen durch die Reihen ging, wurde anders gefragt: Hat jemand gesehen, dass einer hat. Der Sinn der Übung war, von sich heraus zu bekennen, denn irgendeiner hat immer gesehen, was man getan hat bei so einer großen Gemeinschaft, bei über 50 Personen. Luther fühlte sich eigentlich immer schuldig, Staupitz sagte, er solle aufhören, diese Puppensünden zu beichten, er hatte eigentlich gar nichts getan. 3 Autorin Johann von Staupitz, der Ordensobere und Luthers Beichtvater. Ein gütiger Mann. Immer wieder versuchte er, dem jungen Luther gut zuzureden, ihn von seinem Selbsthass zu befreien und ihm die Gnade Gottes in Aussicht zu stellen. Das Ergebnis: Luther strengte sich nur noch mehr an, das religiöse Soll überzuerfüllen – allerdings ohne den ersehnten inneren Frieden zu finden. Die Angst vor der ewigen Verdammnis wollte einfach nicht weichen. Er fühlte sich, wie er es später ausdrückte, im Erfurter Kloster wie eine „todte leich“, schwach und häufig krank. Wir würden heute wohl sagen: Der junge Luther war neurotisch. O-Ton 7 Gutjahr Könnte man so bezeichnen, allerdings hängt da immer die Interpretation drin, dass eine leichte psychische Erkrankung dahinter stehe, das ist wahrscheinlich zu weit gedacht, denn das ist sicher etwas, was das ganze Spätmittelalter prägt, es sei denn, man wollte das ganze Spätmittelalter als neurotisch einstufen, auch das könnte man vielleicht machen (lacht). Aber tatsächlich bewegt er sich da nicht so weit heraus aus dem, was in der Zeit üblich ist, aus der Retrospektive neigt er vielleicht auch ein bisschen zur Übertreibung, es erklärt sich dann viel besser, wie groß seine Befreiung war, die er dann erlebt hat. Autorin Wer sich, wie der Archäologe und Historiker Mirko Gutjahr, intensiv mit Luthers Leben und seiner Persönlichkeit beschäftigt, steht vor einem Problem. Erst später, als Professor in Wittenberg, hat sich Martin Luther über seine frühen Mönchsjahre ausgelassen. Da hatte er sich bereits vom Orden gelöst. In der Rückschau sieht vieles anders aus. Man kann das tatsächlich Erlebte und Gefühlte dramatisieren, zuspitzen, schönen. Bewusst oder unbewusst. Deshalb wird wohl nie eindeutig zu klären sein, weshalb es bei Luther zur entscheidenden Wende im Leben und im Glauben kam: weg vom religiösen Leistungszwang, von der Angst, von der Fixierung auf fromme Werke hin zur Erkenntnis, dass es allein auf den Glauben ankommt, lateinisch „sola fide“. War das ein plötzlicher Durchbruch, ähnlich einer göttlichen Eingebung, oder ein langer Prozess? O-Ton 8 Hasselhorn Luther selbst schildert es in der Rückschau als ein plötzliches Erlebnis. Er liest eine bestimmte Stelle in der Bibel, im Römerbrief, da kommt ihm die Erleuchtung. Die ältere Forschung ist Luther in dieser Selbstdarstellung gefolgt, man hat jahrzehntelang versucht, das genaue Datum dieses Durchbruchs zu finden, des sog. Turmerlebnisses, also Luthers Erlebnis in seiner Studierstube im Turm, als er diese Stelle im Römerbrief liest und ihm die Erleuchtung kommt. Die neuere Forschung ist eher der Auffassung, dass es sich um einen allmählichen Erkenntnisprozess handelt, eine wirkliche reformatorische 4 Theologie bildet Luther erst bis 1520 aus und das hat Luther im Nachhinein zu EINEM Erkenntnismoment verdichtet. Zitat aus dem Römerbrief Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ (Römerbrief Kapitel 1, Vers 17) Autorin Gerechtigkeit, so versteht Luther die Paulus-Verse und vergleichbare Bibelstellen, ist keine Forderung Gottes an den Menschen, sondern eine Eigenschaft Gottes. Der Mensch muss sich Gottes Gnade nicht verdienen, sie ist ihm durch den Kreuzestod Christi und in der Taufe bereits gegeben. Daraus entsteht für Luther ein ganz neues Gottesbild: Der strenge Richtergott tritt in den Hintergrund zugunsten des liebenden Vatergottes, der den Menschen annimmt – trotz und mit seiner Sündhaftigkeit. Von ganzem Herzen glauben heißt nun für Luther, der Zusage Gottes zu vertrauen, dass er die Menschen erlösen und ihnen ihre Sünden vergeben will. Er ist überzeugt, für sich und alle anderen Christen den sicheren Weg zum Heil gefunden zu haben. Da ist es nur konsequent, dass er von dieser Einsicht genauso wenig Abstriche macht wie zuvor vom Absolvieren seines frommen Übungsprogramms, meint Benjamin Hasselhorn. Einen Bruch erkennt er darin nicht, eher eine Häutung. O-Ton 9 Hasselhorn In dem Moment, in dem der Grund der Verzweiflung für Luther wegfällt, hat sich dieser starke, unbeugsame, immer auf die Erfüllung der Dinge, auf die Ernsthaftigkeit hinter den Dingen beharrende Mensch, der er von Anfang an gewesen zu sein scheint, voll entfaltet. Autorin Wie groß diese Befreiung gewesen sein muss, bringt Luther später sogar in seinem Namen zum Ausdruck: O-Ton 10 Gutjahr Er nennt sich dann, nachdem er eigentlich ja Martin Luder heißt, plötzlich Eleutherios, der Befreite, aus dem Luder mit d wird dann plötzlich ein Luther mit th, da steckt das th von Eleutherios noch weiterhin drin. Autorin Es war eine australische Historikerin, die im vergangenen Jahr die LutherForschung aufmischte: Lyndal Roper. Ihre These: In Luthers späterem 5 Aufbegehren gegen den Papst stecke auch ein Aufbegehren gegen den eigenen Vater. War das endlich eine plausible Erklärung dafür, dass aus dem beflissenen Mönch ein Kirchenrebell wurde? Schauen wir zunächst auf die Fakten: Als Luther mit 22 Jahren ins Kloster eintrat, hätte er sich mit seinem Vater um ein Haar überworfen. Vater Hans hatte für seinen Sohn eine ganz andere Karriere im Sinn: Er sollte Jura studieren und in eine reiche Bergarbeiterfamilie einheiraten. Sohn Martin durchkreuzte also die Pläne seines autoritären Vaters gründlich. Ganz neu war Lyndal Ropers These von Luthers Vaterkonflikt zwar nicht, aber sie schlug ein. O-Ton 11 Roper Wenn man so einen Vaterkonflikt erlebt, dann lernt man auch, wie man gegen Autoritäten kämpft. Bei Luther entwickelte sich seine Theologie im Widerstand und im Gegensatz zu anderen und in Argumentation. Autorin Der Vaterkonflikt also ein wesentlicher Faktor für Luthers Entwicklung zum Rebellen und letztlich auch für die Reformation? Luthers theologischer Kampf als Akt der Selbstbefreiung vom Vater? Das geht vielen Lutherforschern über die Hutschnur. Auch dem Historiker Heinz Schilling, der eine dicke Biographie über Luther geschrieben hat. O-Ton 12 Schilling Das sozusagen als Angelpunkt dessen zu beschreiben, was Luther dann umgetrieben hat, sehe ich nicht als hinreichend an. Ich plädiere ja dafür, Luther nicht so zu interpretieren als wenn er heute gelebt hätte, man kann ihn auch nicht interpretieren als wenn er im 19. Jahrhundert gelebt hätte, all das, diese Vaterkomplexe, die hier beschrieben werden, fußt letztlich auf Freud, und das ist die Welt des 19. Jahrhunderts, man muss Luther in der Welt des 16. Jahrhunderts verstehen: Aus Verantwortung heraus für die Mitmenschen gibt er das weiter, was er selbst erlebt hat in der Wende hin zu einem neuen Gottesbild. Autorin Es ist auch eine Wende hin zu einer neuen Autorität, der er bedingungslos folgen will: der Heiligen Schrift. Martin Luther, immer noch Mönch, lehrt inzwischen Theologie an der Universität Wittenberg. Schon von Berufs wegen beschäftigt er sich Tag und Nacht mit der Bibel und ihrer Auslegung. Er versteht: Vieles, was in der damaligen Kirchenpraxis gang und gäbe war, ist nicht biblisch begründet und auch gar nicht biblisch begründbar. Im Austausch mit Studenten und anderen Professoren schärft Luther seine Argumente, findet Gleichgesinnte unter Theologen und Geistesgrößen des Humanismus‘. Durch sein unglaubliches Charisma und seine volksnahe, bildhafte Sprache zieht er die Menschen in seinen Bann. Ein Schritt folgt auf 6 den nächsten, immer weiter windet sich Luther aus dem religiösen Korsett. Aber ein Reformator ist Luther noch lange nicht. Noch ist ihm nicht bewusst, dass ihn seine Erkenntnisse herausführen werden aus der Kirche. Darauf macht Heike Engel bei ihren Führungen in Erfurt immer wieder aufmerksam: O-Ton 13 Engel Martin Luther wollte doch keine Kirchenspaltung, um Gottes willen, er hatte sein Gelübde abgelegt für die Einheit, er war im Gewissenskonflikt, er wollte Reformen, Veränderungen. Autorin Mit dem 30. Oktober 1517, dem sog. Thesenanschlag, wird Luther sozusagen zum „Fall“ für Rom. 95 Thesen gegen den Missbrauch des Ablasses soll er an den Türen der Wittenberger Schlosskirche angebracht haben, wahrscheinlich sogar an allen Wittenberger Kirchen. Man stellt sich das als Spektakel, als Aufsehen erregende Aktion vor. Aber vermutlich war alles ganz anders. Die Kirchen von Wittenberg dienten als Lehrsäle der Universität. Es war üblich, dass Professoren Thesen, die sie eine Woche später diskutieren wollten, am Eingang anschlagen ließen. Luthers 95 Thesen waren also mit ziemlicher Sicherheit kein anti-römisches Pamphlet, sondern eine Einladung zum akademischen Streitgespräch. O-Ton 14 Gutjahr Die Fragestellungen in den 95 Thesen sind natürlich sehr provokant und hätten durchaus auch Konfliktpotenzial, aber sie waren ursprünglich für die Diskussion innerhalb der Universität gedacht, und somit hätten sie auch wissenschaftlich widerlegt werden können, sie waren sicher nicht dazu gedacht, zunächst jedenfalls, damit einen Affront in der Kirche auszulösen. Luther hat das allerdings dann selbst durchbrochen, indem er die Thesen an seinen direkten Vorgesetzten geschickt hat, dem das Ganze als Ketzerei vorkommen musste und der das Ganze dann auch schnurstracks nach Rom weitergeleitet hat, wo man dann den Häresieprozess gegen Luther begonnen hat. Autorin Was in der kommenden Jahren folgte, nennen manche Luthers „Feldzug gegen Papst und Kirche“. Bereits 1520 bezeichnet Luther den Papst als „Antichrist“. Ohne Rücksicht auf Verluste, in selbstherrlicher Manier, verbrennt er die römische Bannandrohungsbulle und wirft auch gleich noch das Kirchengesetzbuch und Bücher seiner Gegner ins Feuer. O-Ton 15 Schilling Da kümmert es ihn dann nicht mehr, dass eventuell darüber die Welt auseinander bricht, Luther ist die Wahrheit wichtiger als die Einheit, das ist dann die andere Seite seines großen sprachlichen Talents, da wird er wirklich aggressiv, aber erst in dem Moment, in dem er merkt, der Papst wird nicht 7 seiner Verantwortung gerecht, da bezeichnet er ihn als Antichrist, und das ist nun wirklich ein Angriff der rüdesten Art, um es mal noch zurückhaltend zu formulieren. Autorin Es ist also nicht Lust am Krawall, die Luther treibt. Sondern der Kampf für die Wahrheit und für das Seelenheil, so Luther-Biograph Schilling. Das setzt sich fort beim Reichtstag zu Worms im Jahr 1521. Luther setzt alle Hebel in Bewegung, um vor dem Reichstag seine Lehren verteidigen zu können. Schließlich bekommt er die ersehnte Einladung. Er scheint an seine Chance zu glauben, hält auch jetzt nicht aus diplomatischen Gründen mit seinen Einstellungen hinter dem Berg, im Gegenteil. Auf dem Weg nach Worms macht er noch einmal Zwischenstation im Erfurter Augustinerkloster, also an dem Ort, an dem er als junger Mönch die bangsten Jahre seines Lebens zugebracht hat. Und zieht vom Leder: O-Ton 16 Engel Sein Einzug glich einem Triumphzug: Humanisten, Universitätsleute, Studenten, die Kirche hatte damals noch Emporen, die waren so überfüllt, man hatte das Gefühl, dass die Emporen nicht standhalten können. Und diese Predigt, er hat darin den Klerus massiv angegriffen, und diese Predigt war entscheidend für die Ausbreitung der Gedanken der Reformation hier in der Stadt. Autorin Von Erfurt ging es weiter nach Worms, wo Kaiser und Fürsten versammelt waren. Die Mächtigen kommen ihm keinen Schritt entgegen. Und auch Luther gibt keinen Fußbreit nach. Ein Zeichen für seinen Größenwahnsinn und Narzissmus? Nein, sagt Heinz Schilling: O-Ton 17 Schilling Also wissen Sie, was alles gesagt wird, da sollte man überhaupt nicht drauf reagieren, also da ist nichts Narzisstisches, und genossen hat er das überhaupt nicht. Am ersten Tag war er sehr verschüchtert und am nächsten Tag ist er wiederum nicht triumphalistisch wie man ihn manchmal darstellt als diesen hämmernden Luther, der die Neuzeit einhämmert, das ist ein völlig falsches Lutherbild. O-Ton 18 Gutjahr Auf dem Reichstag selber gibt er sich sehr bescheiden, man gibt ihm nur kurze Redezeit und auch nur dafür, dass er seine Schriften widerrufen solle oder nicht, das irritiert ihn zunächst einmal, so dass er sich einen Tag Bedenkzeit erbittet, man muss ihn mehrfach dazu auffordern, lauter zu reden, er weiß, es kann ihm hier der Garaus gemacht werden, also hier steht tatsächlich sein Leben auf dem Spiel. Aber er bleibt bei dem, was er bislang immer gesagt 8 hat: Man solle ihn bitte widerlegen auf der Grundlage der Heiligen Schrift, ansonsten bleibe er bei dem, was ihm die Heilige Schrift sage. Autorin Der berühmte Ausspruch, mit dem Luther seine Rede beendet haben soll, wurde ihm wohl erst später in den Mund gelegt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Auch ohne dieses Bonmot spricht sein Auftritt vor dem Reichstag Bände. Hier steht jemand für seine Überzeugungen ein. Unbeugsam. Kühn. Aber vielleicht eine Spur zu stur und starrköpfig? Die Frage, die Generationen von Theologen und Historikern beschäftigt hat, lautet: Hätte Luther, wenn er auch nur etwas nachgiebiger und eine Spur weniger polemisch gewesen wäre, den Bruch mit Rom verhindern können? Nein, sagen die Mitarbeiter der Stiftung Luther-Gedenkstätten, Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr: O-Ton 19 Hasselhorn Wenn Luther nicht so un-bedingt gewesen wäre wie er war, dann hätte er wahrscheinlich gar nicht begonnen mit seinem Reformationswerk, d.h. die Frage: Wenn Luther nur ein bisschen vorsichtiger, ein bisschen konzilianter gewesen wäre, ist eben insofern eine virtuelle Frage, als man da immer sagen müsste: Wenn Luther nicht Luther gewesen wäre. O-Ton 20 Gutjahr Wäre Luther eingeknickt, hätte das nicht zu Reformen geführt, sondern vermutlich eher dazu, dass man Luther zum Schweigen gebracht hätte. Autorin Für Luther war es auch keine Option, vor dem Reichstag ein Konzil zu fordern, also eine Kirchenversammlung, die über seine Sache entschieden hätte. Denn zum einen hatte Luther bereits 1519 selbstbewusst kundgetan, dass nicht nur der Papst irren könne, sondern auch ein Konzil. Zum anderen war Luthers Kritik an der Kirche so fundamental, dass sie die Axt an die Wurzeln der Amtskirche legte. Es ging um viel mehr als den Ablassstreit, meint Stephan Rhein, Direktor der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt mit Sitz in Wittenberg. O-Ton 21 Rhein Die Amtskirche musste, um ihre Macht zu erhalten, ihn als Ketzer ausspucken, wenn man sich vorstellt, die wahrscheinlich revolutionärste, wichtigste Botschaft Luthers ist die vom Priestertum aller Getauften, es gibt keine hierarchischen Unterschiede zwischen dem einfachen Laien und der kirchlichen Obrigkeit, alle Getauften sind Priester, auch die Bischöfe und der Papst. Wer dies zulässt, schafft sich selber ab, wenn der Papst Papst bleiben will, muss er diesen revolutionären Ansatz ablehnen, also diese Demokratisierung, diese komplette Teilhabe am kirchlichen Leben ohne hierarchische Unterschiede, das musste zur Reformation führen. 9 Autorin Bald nach dem Reichstag verhängt der Papst den Bannfluch über Luther. Damit ist der Bruch vollzogen. Endgültig und unwiderruflich. Nach seinem Intermezzo auf der Wartburg entwickelt sich Luther allmählich zu einer Art „Papst von Wittenberg“. Er setzt die von ihm erkannte Wahrheit absolut, er ist DIE theologische Autorität. Aus diesem Grund kommt es auch zu Spannungen und Friktionen innerhalb des Protestantismus‘. Luther bezeichnet seine Gegner als „kläffer“, „geschwüre“ oder „verirrte“. Er ist äußerst ruppig, cholerisch, grob. Überwirft sich auch mit dem Schweizer Reformator Zwingli: O-Ton 22 Hasselhorn Sicherlich hat Luthers Charakter damit zu tun, dass es zu so vielen Brüchen gekommen ist. Auch der unversöhnliche Ton, den Luther sehr schnell anschlagen konnte, auch Luthers Führungsanspruch, der keinen Widerspruch duldete, was bestimmte Dinge betraf. Gleichzeitig war Luther auch nicht so verstockt, dass er nicht bereit war, auf bessere Argumente zu hören, im Falle Zwinglis und der Schweizer reformatorischen Bewegung ist es tatsächlich so gelaufen, dass in einer für beide Seiten entscheidenden Frage, nämlich der Abendmahlsfrage, keine Einigung erzielt werden konnte. Autorin Ein handfester theologischer Konflikt. Nämlich die Frage, ob im Abendmahl Christus real präsent ist oder ob Jesu Worte „das ist mein Leib – das ist mein Blut“ lediglich symbolisch zu verstehen sind. Es kam zum Zerwürfnis zwischen Luther und Zwingli. Die Folge: Jahrhundertelang gingen Lutheraner und Reformierte getrennte Wege. Weder für Luther noch für Zwingli kam es in Frage, die Meinung des anderen zu tolerieren, es gab nur richtig oder falsch, heiß oder kalt, ganz oder gar nicht. Ein Mann von völlig anderem Schlag war Philipp Melanchthon, langjähriger Weggefährte Martin Luthers. Der Vergleich mit Melanchthon zeigt deutlich, wie man zur damaligen Zeit eben auch denken und handeln konnte. Melanchthon suchte stets den Ausgleich, war der Diplomat, der Mittler, der Brückenbauer. „Vater der Ökumene“ wird er genannt. Obwohl selbst cholerisch veranlagt, hielt Melanchthon das Arbeitsverhältnis mit Luther dauerhaft aus. Und doch beschwert er sich einmal über die „fast entehrende Knechtschaft“, die er unter dem 14 Jahre älteren Luther zu erdulden hatte. Stefan Rhein hat sich intensiv mit dem Verhältnis der beiden beschäftigt. O-Ton 23 Rhein Melanchthon, der ihm ebenbürtig war, nennt ihn „Herr Doktor“, das ist keine Duz-Beziehung. Luther verstand oft nicht die Vorsicht, die diplomatische Zurückhaltung, nennt Melanchthon einmal den „Sorgenblutegel“, also man darf sich das nicht als friedliches Miteinander vorstellen. Gleichwohl: Luther 10 schreibt einmal: „Ich schätze seine Werke höher denn die meinen.“ Und als Luther stirbt, schreibt Melanchthon: „Wir haben unseren Vater verloren.“ Autorin Luther war also durchaus in der Lage, anderen Menschen tiefen Respekt entgegen zu bringen. Zumal das ein kongeniales Duo war: Luther, der sprachgewaltige Bibelübersetzer. Melanchthon, der Systematiker, der die reformatorische Theologie schlüssig zusammenfassen und Texte fein ziselieren konnte. Zwei Männer, die wussten, was sie aneinander hatten, die einander brauchten.) Von seinem abstoßenden Judenhass konnte Melanchthon Luther nicht abbringen. Luthers Hang zur Polemik und zum Absolutsetzen der christlichen Wahrheit gipfelt in seinem hemmungslosen Antijudaismus. Bis heute streiten Historiker darüber, ob sich Luthers Judenhass im Rahmen der damaligen Zeit bewegte oder diesen Rahmen sprengte. Die australische Historikerin Lyndal Roper ist überzeugt: Luther hat so viel Gift verspritzt, war so unbeherrscht, dass er nicht als Kind seiner Zeit entschuldigt werden kann: O-Ton 24 Roper Natürlich wusste ich, dass er Antisemit ist, aber dass es so bildhaft und so ekelig und physisch beschrieben wurde, das hatte ich nicht erwartet, dass er beschreiben kann, wie Judas erhängt wird und was aus seinen körperlichen Flüssigkeiten wird, das fand ich einfach entsetzlich, ich fand es sehr schwer, damit umzugehen. Autorin Judas, der Jude, der Jesus verraten hat - Luther kann seine Verachtung nicht zügeln. Dabei war er nicht von Anfang an judenfeindlich eingestellt. In der Schrift „dass Christum ein geborener Jude sei“ aus dem Jahr 1523 warnt er die Christen davor, alle Schuld auf die Juden zu schieben. Erst später wird er zum rabiaten Judenfeind. Bis hin zum Aufruf, Synagogen zu verbrennen und die Juden aus dem Land zu treiben. Üble Tiraden, meint auch der Historiker Heinz Schilling. Und doch nimmt er Luther in gewisser Weise in Schutz. O-Ton 25 Schilling 42‘‘ Ich wüsste nicht zu sagen, wo man Luther im 16. Jahrhundert als extremen Judenfeind beschreiben könnte, schauen Sie nach Spanien, schauen Sie nach England, schauen Sie auch in Deutschland. Er wollte die Juden nicht ausrotten, sie sollten letztlich ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, das ist schlimm genug, sie galten als diejenigen, die die Heilswahrheit beschmutzen, verdunkeln, und da sollten sie eben aus den protestantischen Gemeinden vertrieben werden, die Reinheit der evangelischen Gemeinde sollte sichergestellt werden, diese Reinheitsvorstellungen sind in der Zeit sehr wichtig und nichts Spezifisches für Luther. Autorin 11 Der Vergleich zwischen Martin Luther und Philipp Melanchthon zeigt: Es war auch im 16. Jahrhundert durchaus möglich, den Juden freundlich und respektvoll zu begegnen und gleichzeitig das Christentum als die einzig wahre Religion zu begreifen: Stefan Rhein: O-Ton 26 Rhein 39‘‘ Luther, der Antijudaist, hat sich im Laufe der Jahre aus Verbitterung, aus Enttäuschung, dass die Juden sich nicht der Reformation angeschlossen haben, wirklich aggressiv, polemisch, verletzend, ja fast unerträglich gegenüber den Juden verhalten. Melanchthon hingegen blieb immer ein Freund jüdischer Kultur und Literatur, also man konnte ganz unterschiedlich damit umgehen. Luther zu entschuldigen als Kind seiner Zeit, das ist berechtigt, aber eben auch unberechtigt, man konnte auch eine ganz andere Haltung zu den Juden und ihrer Kultur einnehmen. Autorin Luther scheint ein schwieriger Charakter gewesen zu sein: rechthaberisch, autoritär, polemisch, in der Schärfe seiner Aussagen zuweilen menschenverachtend. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite war er, soweit wir das wissen, zumindest seinen Töchtern ein liebevoller Vater und seiner Frau Katharina - aus der damaligen Zeit betrachtet - ein liebevoller Ehemann. In Wittenberg war er ein hoch geachteter Mann, hatte auch enge Freunde: unter Theologen, aber auch in der Bürgerschaft. Wenn er wollte und es ihm nützte, konnte der große Polemiker sogar mit Engelszungen reden. Eine schillernde Persönlichkeit: viel Licht, aber auch Schatten. Wo genau die Grenze verläuft, ist manchmal schwer zu sagen. Manches an ihm wird immer ein Rätsel bleiben: O-Ton 28 Engel 15‘‘ Wenn ich Martin Luther fragen könnte, dann würde ich ihn fragen, ob er wirklich innerlich so standhaft war in Worms oder ob er auch Ängste und Zweifel hatte – das wäre meine Frage. O-Ton 29 Rhein 43‘‘ Ich würde ihn etwas ganz Persönliches fragen: Luther muss jahrelang sehr krank gewesen sein, Tinnitus in schlimmster Form, ich würde ihn gerne fragen, wie er dieses gewaltige reformatorische Werk einem so kranken Körper abgetrotzt hat, was ihn getrieben hat zu arbeiten, zu leben, auch zu überleben in all den Sorgen, auch Angriffen, die er hatte, die Vorstellung, ich habe die Welt aus den Angeln gehoben, es werden meinetwegen auch Menschen verbrannt, werden hingerichtet, was hat ihn immer wieder dazu motiviert weiterzuleben und weiter zu arbeiten. 12