DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHEN SCHRIFT SEITE 1437 Standesangelegenheiten. Ueb er ärztliche Outachtertätlgkeit 1). Von Prof. Paul Horn in Bonn. 3. Aerztliche Gutachtertätigkeit vor Gericht. Wie ich früher bereits erwähnte, besteht gegenüber Gerichten jeglicher Art (ordentliche. Gerichte, Verwaltungsgerichte, Spruchbehörden der sozialen Versicherung sowie des Versorgungswesens) für jeden zum Gutachter bestellten Arzt eine g e s e t z li ch e Pflicht zur Gutachten erstattung, gleichgültig, ob ein mündlich vor Gericht zu erstattendes oder ein schriftliches, zu Hause anzufertigendes Gutachten verlangt wird. Genau wie ein Zeuge, der seine Aussage ohne hinreichenden gesetzlichen Grund verweigert, mit Geldstrafe und im Wiederholungsfalle mit Haft be. straft werden kann, so setzt sich auch der ärztliche Sachverständige unbegründeter Gutachtenverweigerung einer Bestrafung aus, bei wenn auch für letztere Fälle keine Haft, sondern nur Geldstrafe in Frage kommt ( 77 StrGB. bzw. § 1577 RVO.). Nur die gesetz- lich ausdrücklich vorgesehenen Gründe: Verwandtschaft, Verlöbnis sowie Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht werden als hinreichender Grund zur Verweigerung des Erscheinens oder der Aussage bzw. der Gutachtenerstattung betrachtet, wobei als praktisch wichtig zu beachten ist, daß in Versicherungs-, Versorgungs- und Haftpflichtprozeßfällen der zu begutachtende Patient ja in der Regel selbst ein großes Interesse an der Begutachtung hat und wohl nur ausnahmsweise der ärztlichen Aussage ernstliche Hindernisse entgegensetzt, sodaß der Gutachter, der Zeugnis und Gutachten vor Gericht verweigern will, sich nur vereinzelt einmal mit Erfolg auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen kann. An und für sich kann vor Gericht jeder Arzt bekanntlich ver- nommen werden, 1. als Zeuge, sofern nichtberufliche Dinge oder solche Wahrnehmungen in Frage kommen, zu denen eine Beurteilung auf Grund von Fachkenntnissen nicht verlangt wird; 2. als sachverständiger Zeuge, sofern zur Bekundung vergangener oder gegenwärtiger Tatsachen oder Zustände eine besondere S a c h kenntnis erforderlich ist; 3. als Sachverständiger, sobald er über Fragen vernommen wird, die sich nicht nur auf vergangene oder gegenwärtige Tatsachen oder Zustände beziehen, sondern eine Meinungsäußerung über streitige Behauptungen, künftige Gestaltungen oder Wahrscheinlichkeiten erfordern, d. h. eine B e urteil u n g d e s F a Il e s auf Grund seiner ärztlichen Kenntnisse. 1) Schluß der Aufsatzreihe. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 20. AUGUST 1926 DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHEN SCHRIFT Was die hier ja hauptsächlich zu besprechende S a c h y e r s t à n d j g e n t à t i g k e j t betrifft, so können als auftraggebende Behörden in Frage kommen: 1. die Spruchbehörden der sozialen Ver- s j C h e r u n g (Versicherungsämter, Oberversicherungsämter, Reichsversicherungsamt); 2. die Spruchbehörden des Versorgungs w e s e n s (Versorgungsgerichte, Reichsversorgungsgericht) ; 3. die ordentlichen Qerichte (Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte, Reichsgericht). Allerdings ist der Umstand zu beachten, daß für die Allgemeinheit der Aerzte die Tätigkeit für die Gerichte des Versicherungsund Versorgungswesens weniger in Frage kommt als die Gutachtertätigkeit für die ordentlichen Gerichte, und zwar aus dem Grunde, weil die Versicherungs- und Versorgungsspruchbehörden meist nur ihre eignen Vertrauens- bzw. Gerichtsärzte mit der Begutachtung betrauen und nur in besonders schwierigen Fällen hin und wieder einmal auch erfahrene Fachgutachter mit heranziehen, während vor. den ordentlichen Gerichten meist jeder Arzt, der den zu begutachtenden Patienten behandelt hat, auch zu einer mündlichen oder schriftlichen Outachtenerstattung herangezogen wird ein unterschiedliches Verfahren, das natürlich mit der verschiedenen Art der Prozeßführung, insbesondere mit der terminsweisen Erledigung einer größeren Reihe von Spruchsachen bei den Versicherungs- und Versorgungsbehörden in engem Zusammen- hang steht. Zum Teil kommt aber auch hinzu, daß bei den Begutachtungsfällen der ordentlichen Gerichte nach juristischer, wirtschaftlicher und medizinischer Richtung hin die Fälle meist viel verwickelter liegen und auch die medizinischen Fragestellungen vielfach weit umfangreicher und dementsprechend komplizierter sich gestalten als bei Versicherungs- und Versorgungsfällen, auf deren juristische und medizinische Besonderheiten, soweit die V e r s j c h e r u n g s - fälle in Frage kommen, ich ja schon früher kurz eingegangen bin. Was die V e r s o r g u n g s f à I I e betrifft, so handelt es sich bei denjenigen Kriegsbeschädigten, . die gegenwärtig noch zur ärztlichen Begutachtung gelangen, nur ausnahmsweise noch um die Klärung der Dienstbeschädigungsfrage - die ja in den ersten Nachkriegsjahren im Vordergrunde stand , sondern fast nur noch NUMMER 34 Fragestellung der gerichtlichen Beweisbeschlüsse meist schon ohnehin bedingt ist, Ausführlichkeit und sorgfältigste Begründung. Was die A r t d e r F r a g e s t e I 1 u n g im einzelnen betrifft, die an den ärztlichen Gutachter herantritt, so richtet sich diese selbstredend nach denjenigen Gesichtspunkten, die aus den gesetzlichen Bestimmungen und der jeweiligen Rechtslage sich ergeben. An und für sich können sich Haftpflichtansprüche vor ordentlichen Gerichten gründen auf: J. das Reichshaftp flichtgesetz vom 7. VI. 1871 mit den durch das Einführungsgesetz zum BOB. (Art. 42) bedingten Ergän- zungen - gültig für die Betriebsunternehmer einer Eisenbahn, mag es sich dabei um Voll-, Neben-, Klein- oder Straßenbahnen handeln; das Kraftfahrzeuggesetz vom 3.V.19O9 die Besitzer von Kraftfahrzeugen; gültig für das Luftverkehrsgesetz vom 1.VIII.1922 - gültig für die Halter von Luftfahrzeugen; das B ü r g e r I i c h e G e s e t z b u c h , soweit es Bestimmungen über Haftpflicht und Schadensersatz enthält - gültig für natürliche und juristische Personen jeder Art. Der ärztliche Gutachter kann also in allen solchen Haftpflichtprozessen als Sachverständiger zu Rate gezogen werden, wo auf Grund eines dieser Gesetze wegen einer Schädigung der körper- lichen oder geistigen Gesundheit Schadensers atzansprüche geltend gemacht werden können. Natürlich vermag ich an dieser Stelle auf die Besonderheiten der Einzelgesetze nicht näher einzugehen, möchte aber dennoch die wichtigsten Gesichtspunkte des-. jenigen Haftpflichtgesetzes kurz herausstellen, das für die ärztliche Gutachtertätgkeit aus mancherlei Gründen besondere Bedeutung gewonnen hat, das Reichshaftpflichtgesetz vom 7.VI.1871, sogenannte ,,Eisenbahn-Haftpflichtgesetz". Gerade die großen Eisenbahn-Haftpflichtprozesse, deren Objekte mit Rücksicht auf die Tragweite schwerer Eisenbahnkatastrophen ja vielfach ganz ungeheure sind, haben von jeher die ärztlichen Gutachter vor verantwortungsvollste Aufgaben gestellt; sie haben aber auch in das um die Begutachtung von Rentenerhöhungs- bzw. bei früher erster Abgefundenen von -wiedergewährungsanträgen. Gewiß pflegen den Rentenanträgen regelmäßig Bescheinigungen der behandelnden Aerzte zum Beweise einer eingetretenen Verschlimmerung des Dienstbeschädigungsleidens beigefügt zu werden; aber die ausschlag- neurosen) zu bezeichnen pflegen; endlich haben gerade die Erfahrungen bei Eisenbahn-Unfallneurosen in ganz besonders eklatanter Weise gelehrt, daß für den Verlauf derartiger Fälle zu allermeist gebende Begutachtung findet doch in der Regel bei den Versor- gungsämtern statt oder, falls gegen den Entscheid des Versorgungsamtes Berufung beim Versorgungsgericht eingelegt wird, durch die ständigen Vertrauens- bzw. Gerichtsärzte der Versorgungsgerichte. Aber auch erfahrene Fachgutachter werden gerade zu diesen Begutachtungen für gerichtliche Zwecke oft herangezogen, sei es auf Veranlassung des Versorgungsgerichtes selbst, sei es durch die Antragsteller. Daß bei all diesen Fällen, wo Verschlimmerung behauptet wird, zur richtigen Beurteilung des Falles ein genauer Vergleich mit früher festgestellten Befunden notwendig ist, liegt auf der Hand, weshalb, wenn eben möglich, auch Einsichtnahme in die Versorgungsakten vom ärztlichen Gutachter zu beantragen ist. Hat das Versorgungsgericht die Begutachtung angeord- net, so pflegen ja die Akten in der Regel ohne weiteres mit übersandt zu werden; erfolgt dagegen die Begutachtung auf Wunsch des R e n t e n hewer b e rs, so Ist die Einsichtnahme in die Akten oft erschwert, sodaß das Gutachten nur mit V or be h a lt erstattet werden kann; das Versorgungsgericht kann aber natürlich in Zweifels- fällen die Akten nachträglich noch übersenden und somit dem Gutachter Gelegenheit geben, etwaige Zweifel oder Ungenauigkeiten klarzustellen. Gerade die Frage der Verschlimmerung ei n es Dienstbeschiidigungsleidens ist ja oft außerordentlich Linie denjenigen Krankheitstyp geschaffen, den wir als Rentenkampf- und Prozeßneurose (als Abart der Unfall- die Art des Entschädigungsverfahrens (Abfindung oder Rente) ausschlaggebend ist. Wie ich selbst im Anschluß an die günstigen Ergebnisse des Abfindungsverfahrens im Auslande (Dänemark, Schweiz, Schweden) auf Grund deutschen statistischen Materials in der Lage war festzustellen 1), werden die endgültig a b g e f u n d e n e n Eisenbahn-Unfallneurotiker, sofern die Abfindung verhältnismäßig rasch erfolgt, in kurzer Zeit fast s ä mtl ich w j e der y o Il e r w e r b sf ä hi g, während beim Rentenverfahren derartige Neurotiker meist keine oder nur sehr geringe Besserungstendenz erkennen lassen - eine Erfahrung, die sich, wie die weitere Beobachtung gezeigt hat, immer wieder bestätigt. An sich steht bekanntlich nach dem Reichshafipflichtgesetze dem Verletzten zu: 1. Ersatz der H e il un g s k os t e n, 2. Schadensersatz für aufgehobene oder verminderte Erwerbs f ä hi g k e it, 3. Schadensersatz für vermehrte Bed ürfnis se (Mehraufwendungen). In allen gerichtlich wie außergerichtlich zu erledigenden Fällen muß also über Berechtigung und Höhe von Entschädigungsansprüchen dieser Art entschieden werden, und so finden wir denn auch in fast allen Beweisbeschlüssen der Gerichte, wenn auch in mehr oder weniger großer Modifikation, die Frage nach li ei! un g s - kosten, Erwerbsbeschränkung und vermehrten Be- eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber trotzdem nicht immer hinreichend beachtet wird. d ü r f n is s e n der ärztlichen Begutachtung unterbreitet. Außerdem können noch die verschiedensten Sonderfragen, wie sie der jeweilige Fall bedingt, ergänzend hinzutreten, wobei besonders die Frage der mutmaßlichen Dauer der Unfallfolgen und der Erwerbsbeschränkung eine wichtige Rolle vielfach spielt. Im ganzen ist die ärztliche Beurteilung derartiger Haftpflichtfälle dadurch natürlich sehr erschwert, daß sich ihre Ansprüche nicht in so engbegrenzten Schran.ken bewegen wie diejenigen unfallverletzter Sozialversicherter, wo die an sich schon meist bescheidene Unfallrente in ganz bestimmtem Verhältnis zu dem genau feststellbaren Jahresarbeitsverdienste steht. Vor allem bieten solche Fälle oft besondere Schwierigkeit, wo es sich nicht um Arbeiter oder Angestellte mit f e s t e m Lohneinkommen, sondern beispielsweise um selbständige Kaufleute oder sonstige Gewerbetreibende mit schwankenden Einkommensverhältnissen erfordern i.n der Regel, wie es im übrigen durch die oft komplizierte i) Horn, Nervöse Erkrankungen nach Eisenbahnunfällen (2. Aufl.). Bonn 1918. Marcus und Weber. schwer zu beurteilen und erfordert m. E. in den meisten Fällen nicht nur überaus gründliche Untersuchung des Patienten und Klärung der Vorgeschichte, auch bezüglich etwaiger sonstiger, n ich t auf Dienstbeschädigung beruhender Leiden (!), sondern auch im Gutachten selbst eine ausführliche und sorgfältige Begründung, sowohl bei Anerkennung wie Ablehnung der Erhöhungsañträge hinsichtlich ihrer Berechtigung vom medizinischen Standpunkte aus. Nur die überzeugende Darlegung aller in Frage kommenden Gründe hat für die Entscheidung des Gerichtes wirklich positiven Wert, denn eine zur Rentenerhöhung oder -wiedergewährung berechtigende Verschlimme- rung muß sich auf Beweis e stützen, darf nicht lediglich auf Behauptungen beruhen, die der Begründung entbehren. Es ist dies ja Auch die Gutachten für die ordentlichen Gerichte Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. SEITE 1438 DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHEN SCHRIFT handelt; gerade hier nehmen die Schadensersatzansprüche oft fast groteske Formen und Ausmaße an. Gewiß muß für den ärztlichen Gutachter in erster Linie das Ergebnis der rein m e d i z j n i s c h e n Prüfung des Falles hinsichtlich Art, Schwere und praktischer Tragweite der Unfalifolgen maßgebend sein; aber er ist wohl oder übel gezwungen, bei der Gesamtbeurteilung des Falles auch die ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse des Verletzten sowohl vor wie n a c h dem Unfallereignisse in den Kreis seiner Erwägungen zu ziehen, wobei selbstredend nie vergessen werden darf, daß eine u n g u n s t i g e Gestaltung der Wirtschaftsverhältnisse eines Unfaliverletzten nicht unbedingt auf den U n fa I I f o 1g e n beruhen muß, sondern vielfach auch mit Schwankungen der Konjunktur oder sonstigen äußeren Umständen zusammenhängt. Gerade nach dieser Richtung hin werden vielfach Fehler gemacht, die nur dadurch zu erklären sind, daß der Gutachter sich einfach auf die Abgaben des Patienten blindlings verläßt uid ein gründliches Aktenstudium, das ihm vielleicht ein wesentlich anderes Bild des Falles ergeben würde, verabsäumt. Ueberhaupt muß gerade bei Haftpflichtfällen, wo oft beträchtliche Summen auf dem Spiele stehen und dementsprechend die Neigung zu Simulationsversuchen und unrichtigen Angaben oft hoch ist, der ärztliche Gutachter größte Vorsicht walten lassen. Schon bei Beurteilung der Angemessenheit und Notwendigkeit y o n 1-1 e i I u n g s k o s t e n ist mitunter eine gewisse Zurückhaltung durchaus geboten. Daß äußere Verletzungen, Knochenbrüche, Verrenkungen, Läsionen der inneren Organe oder sonstige direkte Verletzungsfolgen eine regelrechte Heilbehandlung erfordern, braucht nicht besonders betont zu werden. Wenn aber nach Verheilung der p r i m ä r e n Verletzungsfolgen alle möglichen N a c h k u r e n verlangt werden, für die rein ärztlich eine direkte Notwendigkeit tatsächlich nicht besteht, so soll man derartige unberechtigte Wünsche, die erfahrungsgemäß mitunter gerdezu ins Maßlose auszuarten pflegen, nicht unterstützen. Gerade die schlimmsten Formen von Begehrungsneurosen habe ich bei solchen Patienten ge- sehen, the Monate oder selbst Jahre hindurch untätig in teuren Kurorten oder Sanatorien herumlungerten und sich auf ihre hochgeschraubten Entschädigungsansprüche verließen. Sind wirklich Kuren in Badeorten, Sanatorien usw. notwendig, so ist auch hier die ,,A n gem e ss e n h e it", die wenigstens einigermaßen nach der bisherigen Lebensführung sich zu richten hat, vom ärztlichen Gutachter nicht außerachtzulassen; vielfach bringt ein einfacher Landaufenthalt dens e lb e n gesundheitlichen Nutzen wie eine teure Badekur oder ein Aufenthalt in einem Luxussanatorium, dessen ganzes Milieu für Leute aus einfachen Kreisen schon psychologisch nicht das Richtige ist. Im übrigen müssen für die Beurteilung von Heilungskosten bzw. ihrer Notwendigkeit und Angemessenheit maßgebend sein: Art und Schwere der Krankheitssymptonie, Fehlen oder Bestehen komplizierender Leiden, bisheriger Krankheitsverlauf Kuren. sowie ganz besonders auch der Erfolg bis h e ri g e t Auch die Bewertung der Erwerbs b e sc h r ä n k u n g ist bei Haftpflichtfällen nicht immer leicht, zumal wenn es sich um Personen handelt, deren Erwerbsverhältnisse unübersichtlich sind. Im übrigen entspricht die Beurteilung im Wesentlichen denjenigen Gesichtspunkten, wie ich sie bei der sozialen Unfallversicherung kurz gekennzeichnet habe. Hier wie dort ist nicht a u s schi je ß lic h die Beschränkung oder Unfähigkeit im bis h e ri g e n B e r u f der Bewertung zugrundezulegen, sondern die noch vorhandene SEITE 1439 Zukunft. Während die Erwerbsbehinderung für Gegenwart und Vergangenheit im allgemeinen unschwer zu beurteilen ist, kann die Beurteilung des mutmaßlichen Weiterverlaufs vor allem in solchen Fällen zu größten Schwierigkeiten führen, wo es sich nicht um unkomplizierte glatte" Schäden handelt, sondern beispielsweise um Unfallschädigungen innerer Organe oder organische Läsionen des Nervensystems. Selbstverständlich kann hier ein einigermaßen sicheres Urteil über die zukünftige Erwerbsbeschränkung entweder über- haupt nicht abgegeben werden oder doch nur mit größter Vorsicht und Zurückhaltung, und danfl auch meistens nur für einen sehr begrenzten Zeitraum, nach dessen Ablauf am zweckmäßigsten Nachuntersuchung zu erfolgen hat. Etwas einfacher liegt die Beurteilung der zukünftigen Erwerbsbeschränkung bei Un- deren günstige Heilungsaussichten im Falle baldiger Abfindung der Entschädigungsansprüche ja bekannt sind. Meist ist hier die Annahme einer fallenden, zeitlich begrenzten Erwerbsbeschränkung für die Dauer von 1-2--3 Jahren, sofern keine organischen Komplikationen bestehen, am Platze. Gewiß faIIneurosen, kann man n j e m j t S j c h e r h e i t s a g e n , wie der weitere Verlauf einer Unfallschädigung sich gestalten wird. Das Reichsgericht vertritt aber den auch für die ärztliche Gutachtertätigkeit außer'- ordentlich wichtigen Standpunkt, daß zwar der künftige Verlauf einer Krankheit sich niemals mit völliger Sicherheit im voraus fest- stellen lasse, ,,wohl aber das, was nach der allgemeinen Erfahrung ein zutreten pflegt. Die daraus gewonnene Ueberzeugung, daß der Kläger nur einen zeitlich begrenzten Schaden erleidet, ist das Gericht zu berücksichtigen gehalten" (ROE. vom 27. IX. 1909). Was die Beurteilung verm ehrter Be dü rfn isse anbetrifft, so kommen hierbei in Frage z. B. Aufwendungen für sogenannte Stärkungsmittel oder für besondere Wartung und Pflege. Daß hier dem persönlichen Ermessen weiter Spielraum gegeben ist, liegt auf der Hand, wenngleich es nicht immer leicht ist, den oft übertrieben hohen Ansprüchen gegenüber das richtige Maß zu treffen. Besondere Vorsicht erfordert hier wiederum die Gruppe der U n f a I I n e u r o t j k e r, deren Wünsche hinsichtlich Mehraufwendungen: ,,Stärkungsmittel", besondere Wartung und Hilfeleistung, oft jede vernünftige Grenze überschreiten. Auch die Ansprüche auf ein sogenanntes S c h m e r z e n s g e I d, dic vielfach erhoben werden, sind in den meisten Fällen u n b e g r ii n d e t , allerdings in der Regel aus dem rein juristischen Grunde, weil Schmerzensgeld überhaupt nur in Frage kommt, wenn seitens des Haftpflïchtigen ein besonderes Vers chu I den (Vorsatz oder Fahrlässigkeit im Sinne des BOB.) vorliegt. Das Reichshaftpflichtgesetz als solches kennt ü b e r haupt k ei n e n Anspruch auf Schmerzensgeld, was vielfach auch von Aerzten, die ihren unfallverletzten Patienten ratend zur Seite stehen, übersehen wird. Endlich ist noch von besonderer Bedeutung der Umstand, daß beim Vorliegen eines ,,w ich ti g e n Grund e s" der Unfaliverletzte statt einer Geldrente - die das nor in al e gesetzliche Entschädigungsverfahren darstellt - eine einmalige K ap ita lab fi n d u n g verlangen kann, eine Möglichkeit, die besonders neuerdings vielfach in Anwendung kommt, sowohl bei gerichtlicher wie außergerichtlicher Erledigung des Entschädigungsverfahrens. Dein begutachtenden Arzte erwächst dabei die Aufgabe, zu beurteilen: 1. ob der betreffende Fall von medizinischen Gesichtspunkten aus überhaupt zur A b f indu n g g e e i g n e t i st (was für alle glatten Schäden, für erscheint, seiner ganzen Ausbildung, bisherigen Tätigkeit und seinem nicht organisch komplizierte Unfailneurosen sowie für alle solchen Fälle zutrifft, bei denen mit einiger Sicherheit spätere Verschlimmerung nicht zu erwarten ist); 2. welches Maß von Erwerbs- sich zugemutet werden kann. Gerade nach dieser Richtung hin dung zugrundezulegen ist. Leistungsfähigkeit auf dem allg e m ein e n A r b e its markte, sofern der fragliche Beruf, für den der Verletzte noch g e ei g n e t Stande wenigstens einigermaßen entspricht und ihm an können allerdings im Einzelfalle die größten Schwierigkeiten sich ergeben, da die allermeisten Unfallverletzten sich darauf versteifen, daß sie zu ihrem bisherigen Berufe mehr oder weniger untauglich und nicht imstande seien, den Rest ihrer noch verbliebenen Arbeitsfähigkeit ohne Stellenwechsel praktisch auszunutzen. Gewiß sind Gedankengänge, die in dieser Richtung Hemmnisse bereiten können, psychologisch verständlich, und dennoch darf weder der Verletzte noch der Gutachter vergessen, daß nach Auffassung der Rechtsprechung jeder Unfaliverletzte in seinem Rechtsverhältnisse zum Haftpflichtigen verpflichtet ist, den ihm noch verbliebenen Rest von Arbeitsfähigkeit aus zunutze n , sofern sich ihm eine passende Gelegenheit dazu bietet'). Im übrigen pflegen die Gerichte vom Gutachter eine Abschätzung der Erwerbsbeschränkung zu verlangen nicht nur bezüglich der Gegenwart, sondern auch bezüglich Vergange.nheit und ') Horn, Neuere Rechtsprechung bei Unfailneurosen. Berlin 1915. Rich. Schoetz. beschränkung hinsichtlich Höhe und Dauer einer Abfin- Bestehen, wie es ja mitunter der Fall, erhebliche Zweifel oder Bedenken bezüglich eines dieser Punkte, so empfiehlt sich in außergerichtlichen Fällen Begutachtung durch eine me h r g li cd ri g e A e r z t e komm i ss ion , während in Gerichtsfällen die Entscheidung dem Gerichte anheimzugeben ist, das ja ohnehin in der Würdigung der Beweiskraft eines ärztlichen Gutachtens nach eignern freien Ermessen walten kann und auch darüber zu entscheiden hat, ob die Begutachtung als ausreichend anzusehen ist, oder ob noch andere und gegebenenfalls welche sonstigen Sachverständigen noch zu befragen sind. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 20. AUGUST 1926