Standesangelegenheiten.

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DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHEN SCHRIFT
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Standesangelegenheiten.
Ueb er ärztliche Outachtertätlgkeit 1).
Von Prof. Paul Horn in Bonn.
3. Aerztliche Gutachtertätigkeit vor Gericht.
Wie ich früher bereits erwähnte, besteht gegenüber Gerichten
jeglicher Art (ordentliche. Gerichte, Verwaltungsgerichte, Spruchbehörden der sozialen Versicherung sowie des Versorgungswesens)
für jeden zum Gutachter bestellten Arzt eine g e s e t z li ch e
Pflicht zur Gutachten erstattung,
gleichgültig, ob
ein
mündlich vor Gericht zu erstattendes oder ein schriftliches, zu
Hause anzufertigendes Gutachten verlangt wird. Genau wie ein
Zeuge, der seine Aussage ohne hinreichenden gesetzlichen Grund
verweigert, mit Geldstrafe und im Wiederholungsfalle mit Haft be.
straft werden kann, so setzt sich auch der ärztliche Sachverständige
unbegründeter Gutachtenverweigerung einer Bestrafung aus,
bei
wenn auch für letztere Fälle keine Haft, sondern nur Geldstrafe
in Frage kommt ( 77 StrGB. bzw. § 1577 RVO.). Nur die gesetz-
lich ausdrücklich vorgesehenen Gründe: Verwandtschaft, Verlöbnis
sowie Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht werden als hinreichender Grund zur Verweigerung des Erscheinens oder der Aussage bzw. der Gutachtenerstattung betrachtet, wobei als praktisch
wichtig zu beachten ist, daß in Versicherungs-, Versorgungs- und
Haftpflichtprozeßfällen der zu begutachtende Patient ja in der Regel
selbst ein großes Interesse an der Begutachtung hat und wohl nur
ausnahmsweise der ärztlichen Aussage ernstliche Hindernisse entgegensetzt, sodaß der Gutachter, der Zeugnis und Gutachten vor
Gericht verweigern will, sich nur vereinzelt einmal mit Erfolg auf
seine ärztliche Schweigepflicht berufen kann.
An und für sich kann vor Gericht jeder Arzt bekanntlich ver-
nommen werden, 1. als Zeuge, sofern nichtberufliche Dinge
oder solche Wahrnehmungen in Frage kommen, zu denen eine Beurteilung auf Grund von Fachkenntnissen nicht verlangt wird; 2. als
sachverständiger Zeuge, sofern zur Bekundung vergangener oder
gegenwärtiger Tatsachen oder Zustände eine besondere S a c h kenntnis erforderlich ist; 3. als Sachverständiger, sobald er über
Fragen vernommen wird, die sich nicht nur auf vergangene oder
gegenwärtige Tatsachen oder Zustände beziehen, sondern eine
Meinungsäußerung über streitige Behauptungen,
künftige Gestaltungen oder Wahrscheinlichkeiten erfordern, d. h.
eine B e urteil u n g d e s F a Il e s auf Grund seiner ärztlichen
Kenntnisse.
1)
Schluß der Aufsatzreihe.
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20. AUGUST 1926
DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHEN SCHRIFT
Was die hier ja hauptsächlich zu besprechende S a c h y e r s t à n d j g e n t à t i g k e j t betrifft, so können als auftraggebende Behörden
in
Frage kommen:
1.
die Spruchbehörden der sozialen Ver-
s j C h e r u n g (Versicherungsämter, Oberversicherungsämter, Reichsversicherungsamt); 2. die Spruchbehörden des Versorgungs w e s e n s (Versorgungsgerichte, Reichsversorgungsgericht) ; 3. die
ordentlichen Qerichte (Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte, Reichsgericht).
Allerdings ist der Umstand zu beachten, daß für die Allgemeinheit der Aerzte die Tätigkeit für die Gerichte des Versicherungsund Versorgungswesens weniger in Frage kommt als die Gutachtertätigkeit für die ordentlichen Gerichte, und zwar aus dem Grunde,
weil die Versicherungs- und Versorgungsspruchbehörden meist nur
ihre eignen Vertrauens- bzw. Gerichtsärzte mit
der
Begutachtung betrauen und nur in besonders schwierigen Fällen hin
und wieder einmal auch erfahrene Fachgutachter mit heranziehen,
während vor. den ordentlichen Gerichten meist jeder Arzt, der
den zu begutachtenden Patienten behandelt hat, auch zu einer mündlichen oder schriftlichen Outachtenerstattung herangezogen wird ein unterschiedliches Verfahren, das natürlich mit der verschiedenen
Art der Prozeßführung, insbesondere mit der
terminsweisen
Erledigung einer größeren Reihe von Spruchsachen bei
den Versicherungs- und Versorgungsbehörden in engem Zusammen-
hang steht. Zum Teil kommt aber auch hinzu, daß bei den Begutachtungsfällen der ordentlichen Gerichte nach juristischer, wirtschaftlicher und medizinischer Richtung hin die Fälle meist viel verwickelter liegen und auch die medizinischen Fragestellungen vielfach weit
umfangreicher und dementsprechend komplizierter sich gestalten
als bei Versicherungs- und Versorgungsfällen, auf deren juristische
und medizinische Besonderheiten, soweit die V e r s j c h e r u n g s -
fälle in Frage kommen, ich ja schon früher kurz eingegangen bin.
Was die V e r s o r g u n g s f à I I e betrifft, so handelt es sich bei
denjenigen Kriegsbeschädigten, . die gegenwärtig noch zur ärztlichen
Begutachtung gelangen, nur ausnahmsweise noch um die Klärung
der Dienstbeschädigungsfrage - die
ja in den ersten
Nachkriegsjahren im Vordergrunde stand , sondern fast nur noch
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Fragestellung der gerichtlichen Beweisbeschlüsse meist schon ohnehin bedingt ist, Ausführlichkeit und sorgfältigste Begründung. Was
die A r t d e r F r a g e s t e I 1 u n g im einzelnen betrifft, die an den
ärztlichen Gutachter herantritt, so richtet sich diese selbstredend
nach denjenigen Gesichtspunkten, die aus den gesetzlichen Bestimmungen und der jeweiligen Rechtslage sich ergeben.
An und für sich können sich Haftpflichtansprüche vor
ordentlichen Gerichten gründen auf:
J. das Reichshaftp flichtgesetz vom 7. VI. 1871 mit den
durch das Einführungsgesetz zum BOB. (Art. 42) bedingten Ergän-
zungen - gültig für die Betriebsunternehmer einer Eisenbahn,
mag es sich dabei um Voll-, Neben-, Klein- oder Straßenbahnen
handeln;
das Kraftfahrzeuggesetz vom 3.V.19O9
die Besitzer von Kraftfahrzeugen;
gültig für
das Luftverkehrsgesetz vom 1.VIII.1922 - gültig für
die Halter von Luftfahrzeugen;
das B ü r g e r I i c h e G e s e t z b u c h , soweit es Bestimmungen
über Haftpflicht und Schadensersatz enthält - gültig für natürliche
und juristische Personen jeder Art.
Der ärztliche Gutachter kann also in allen solchen Haftpflichtprozessen als Sachverständiger zu Rate gezogen werden, wo auf
Grund eines dieser Gesetze wegen einer Schädigung der körper-
lichen oder geistigen Gesundheit Schadensers atzansprüche
geltend gemacht werden können. Natürlich vermag ich an dieser
Stelle auf die Besonderheiten der Einzelgesetze nicht näher einzugehen, möchte aber dennoch die wichtigsten Gesichtspunkte des-.
jenigen Haftpflichtgesetzes kurz herausstellen, das für die ärztliche
Gutachtertätgkeit aus mancherlei Gründen besondere Bedeutung gewonnen hat, das Reichshaftpflichtgesetz vom 7.VI.1871,
sogenannte ,,Eisenbahn-Haftpflichtgesetz". Gerade
die großen Eisenbahn-Haftpflichtprozesse, deren Objekte mit Rücksicht auf die Tragweite schwerer Eisenbahnkatastrophen ja vielfach
ganz ungeheure sind, haben von jeher die ärztlichen Gutachter vor
verantwortungsvollste Aufgaben gestellt; sie haben aber auch in
das
um die Begutachtung von Rentenerhöhungs- bzw. bei früher
erster
Abgefundenen von -wiedergewährungsanträgen. Gewiß pflegen den
Rentenanträgen regelmäßig Bescheinigungen der behandelnden
Aerzte zum Beweise einer eingetretenen Verschlimmerung des
Dienstbeschädigungsleidens beigefügt zu werden; aber die ausschlag-
neurosen) zu bezeichnen pflegen; endlich haben gerade die Erfahrungen bei Eisenbahn-Unfallneurosen in ganz besonders eklatanter
Weise gelehrt, daß für den Verlauf derartiger Fälle zu allermeist
gebende Begutachtung findet doch in der Regel bei den Versor-
gungsämtern statt oder, falls gegen den Entscheid des Versorgungsamtes Berufung beim Versorgungsgericht eingelegt wird, durch die
ständigen Vertrauens- bzw. Gerichtsärzte der Versorgungsgerichte.
Aber auch erfahrene Fachgutachter werden gerade zu diesen Begutachtungen für gerichtliche Zwecke oft herangezogen, sei es auf
Veranlassung des Versorgungsgerichtes selbst, sei es durch die Antragsteller. Daß bei all diesen Fällen, wo Verschlimmerung behauptet wird, zur richtigen Beurteilung des Falles ein genauer Vergleich mit früher festgestellten Befunden notwendig ist, liegt auf der
Hand, weshalb, wenn eben möglich, auch Einsichtnahme in die Versorgungsakten vom ärztlichen Gutachter zu beantragen ist.
Hat das Versorgungsgericht die Begutachtung angeord-
net, so pflegen ja die Akten in der Regel ohne weiteres mit übersandt zu werden; erfolgt dagegen die Begutachtung auf Wunsch
des R e n t e n hewer b e rs, so Ist die Einsichtnahme in die Akten
oft erschwert, sodaß das Gutachten nur mit V or be h a lt erstattet
werden kann; das Versorgungsgericht kann aber natürlich in Zweifels-
fällen die Akten nachträglich noch übersenden und somit dem Gutachter Gelegenheit geben, etwaige Zweifel oder Ungenauigkeiten
klarzustellen. Gerade die Frage der Verschlimmerung ei n es
Dienstbeschiidigungsleidens
ist
ja
oft außerordentlich
Linie
denjenigen Krankheitstyp
geschaffen, den
wir
als
Rentenkampf- und Prozeßneurose (als Abart der Unfall-
die Art des Entschädigungsverfahrens (Abfindung oder
Rente) ausschlaggebend ist. Wie ich selbst im Anschluß an die günstigen Ergebnisse des Abfindungsverfahrens im Auslande (Dänemark,
Schweiz, Schweden) auf Grund deutschen statistischen Materials in
der Lage war festzustellen 1), werden die endgültig a b g e f u n d e n e n
Eisenbahn-Unfallneurotiker, sofern die Abfindung verhältnismäßig
rasch erfolgt, in kurzer Zeit fast s ä mtl ich w j e der y o Il
e r w e r b sf ä hi g, während beim Rentenverfahren derartige Neurotiker meist keine oder nur sehr geringe Besserungstendenz erkennen
lassen - eine Erfahrung, die sich, wie die weitere Beobachtung
gezeigt hat, immer wieder bestätigt.
An sich steht bekanntlich nach dem Reichshafipflichtgesetze dem
Verletzten zu: 1. Ersatz der H e il un g s k os t e n, 2. Schadensersatz für aufgehobene oder verminderte Erwerbs f ä hi g k e it,
3. Schadensersatz für vermehrte Bed ürfnis se (Mehraufwendungen).
In allen gerichtlich wie außergerichtlich zu erledigenden Fällen
muß also über Berechtigung und Höhe von Entschädigungsansprüchen dieser Art entschieden werden, und so finden wir denn auch in
fast allen Beweisbeschlüssen der Gerichte, wenn auch in
mehr oder weniger großer Modifikation, die Frage nach li ei! un g s -
kosten, Erwerbsbeschränkung und vermehrten Be-
eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber trotzdem nicht immer
hinreichend beachtet wird.
d ü r f n is s e n der ärztlichen Begutachtung unterbreitet. Außerdem
können noch die verschiedensten Sonderfragen, wie sie der jeweilige
Fall bedingt, ergänzend hinzutreten, wobei besonders die Frage der
mutmaßlichen Dauer der Unfallfolgen und der Erwerbsbeschränkung eine wichtige Rolle vielfach spielt. Im ganzen ist die ärztliche
Beurteilung derartiger Haftpflichtfälle dadurch natürlich sehr erschwert, daß sich ihre Ansprüche nicht in so engbegrenzten Schran.ken bewegen wie diejenigen unfallverletzter Sozialversicherter, wo
die an sich schon meist bescheidene Unfallrente in ganz bestimmtem
Verhältnis zu dem genau feststellbaren Jahresarbeitsverdienste steht.
Vor allem bieten solche Fälle oft besondere Schwierigkeit, wo
es sich nicht um Arbeiter oder Angestellte mit f e s t e m Lohneinkommen, sondern beispielsweise um selbständige Kaufleute oder sonstige Gewerbetreibende mit schwankenden Einkommensverhältnissen
erfordern i.n der Regel, wie es im übrigen durch die oft komplizierte
i) Horn, Nervöse Erkrankungen nach Eisenbahnunfällen (2. Aufl.). Bonn 1918.
Marcus und Weber.
schwer zu beurteilen und erfordert m. E. in den meisten Fällen nicht
nur überaus gründliche Untersuchung des Patienten und Klärung der
Vorgeschichte, auch bezüglich etwaiger sonstiger, n ich t auf Dienstbeschädigung beruhender Leiden (!), sondern auch im Gutachten
selbst eine ausführliche und sorgfältige Begründung, sowohl
bei Anerkennung wie Ablehnung der Erhöhungsañträge hinsichtlich
ihrer Berechtigung vom medizinischen Standpunkte aus. Nur die überzeugende Darlegung aller in Frage kommenden Gründe hat für die
Entscheidung des Gerichtes wirklich positiven Wert, denn eine zur
Rentenerhöhung oder -wiedergewährung berechtigende Verschlimme-
rung muß sich auf Beweis e stützen, darf nicht lediglich auf Behauptungen beruhen, die der Begründung entbehren. Es ist dies ja
Auch die Gutachten für die ordentlichen Gerichte
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handelt; gerade hier nehmen die Schadensersatzansprüche oft fast
groteske Formen und Ausmaße an. Gewiß muß für den ärztlichen
Gutachter in erster Linie das Ergebnis der rein m e d i z j n i s c h e n
Prüfung des Falles hinsichtlich Art, Schwere und praktischer Tragweite der Unfalifolgen maßgebend sein; aber er ist wohl oder übel
gezwungen, bei der Gesamtbeurteilung des Falles auch die ganzen
wirtschaftlichen Verhältnisse des Verletzten sowohl vor
wie n a c h dem Unfallereignisse in den Kreis seiner Erwägungen zu
ziehen, wobei selbstredend nie vergessen werden darf, daß eine u n g u n s t i g e Gestaltung der Wirtschaftsverhältnisse eines Unfaliverletzten nicht unbedingt auf den U n fa I I f o 1g e n beruhen muß,
sondern vielfach auch mit Schwankungen der Konjunktur oder sonstigen äußeren Umständen zusammenhängt. Gerade nach dieser
Richtung hin werden vielfach Fehler gemacht, die nur dadurch zu
erklären sind, daß der Gutachter sich einfach auf die Abgaben des
Patienten blindlings verläßt uid ein gründliches Aktenstudium, das
ihm vielleicht ein wesentlich anderes Bild des Falles ergeben würde,
verabsäumt. Ueberhaupt muß gerade bei Haftpflichtfällen, wo oft
beträchtliche Summen auf dem Spiele stehen und dementsprechend
die Neigung zu Simulationsversuchen und unrichtigen Angaben oft
hoch ist, der ärztliche Gutachter größte Vorsicht walten lassen.
Schon bei Beurteilung der Angemessenheit und Notwendigkeit
y o n 1-1 e i I u n g s k o s t e n ist mitunter eine gewisse Zurückhaltung
durchaus geboten. Daß äußere Verletzungen, Knochenbrüche, Verrenkungen, Läsionen der inneren Organe oder sonstige direkte Verletzungsfolgen eine regelrechte Heilbehandlung erfordern, braucht
nicht besonders betont zu werden. Wenn aber nach Verheilung
der p r i m ä r e n Verletzungsfolgen alle
möglichen N a c h k u r e n
verlangt werden, für die rein ärztlich eine direkte Notwendigkeit
tatsächlich nicht
besteht, so soll
man
derartige unberechtigte
Wünsche, die erfahrungsgemäß mitunter gerdezu ins Maßlose auszuarten pflegen, nicht unterstützen. Gerade die schlimmsten Formen von Begehrungsneurosen habe ich bei solchen Patienten ge-
sehen, the Monate oder selbst Jahre hindurch untätig in teuren
Kurorten oder Sanatorien herumlungerten und sich auf ihre hochgeschraubten
Entschädigungsansprüche
verließen.
Sind wirklich
Kuren in Badeorten, Sanatorien usw. notwendig, so ist auch hier
die ,,A n gem e ss e n h e it", die wenigstens einigermaßen nach der
bisherigen Lebensführung sich zu richten hat, vom ärztlichen Gutachter nicht außerachtzulassen; vielfach bringt ein einfacher Landaufenthalt dens e lb e n gesundheitlichen Nutzen wie eine teure
Badekur oder ein Aufenthalt in einem Luxussanatorium, dessen ganzes Milieu für Leute aus einfachen Kreisen schon psychologisch
nicht das Richtige ist. Im übrigen müssen für die Beurteilung von
Heilungskosten bzw. ihrer Notwendigkeit und Angemessenheit
maßgebend sein: Art und Schwere der Krankheitssymptonie,
Fehlen oder Bestehen komplizierender Leiden, bisheriger Krankheitsverlauf
Kuren.
sowie ganz besonders auch der Erfolg bis h e ri g e t
Auch die Bewertung der Erwerbs b e sc h r ä n k u n g ist bei
Haftpflichtfällen nicht immer leicht, zumal wenn es sich um Personen handelt, deren Erwerbsverhältnisse unübersichtlich sind. Im
übrigen entspricht die Beurteilung im Wesentlichen denjenigen
Gesichtspunkten, wie ich sie bei der sozialen Unfallversicherung
kurz gekennzeichnet habe. Hier wie dort ist nicht a u s schi je ß lic h die Beschränkung oder Unfähigkeit im bis h e ri g e n B e r u f
der Bewertung zugrundezulegen, sondern die noch vorhandene
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Zukunft. Während die Erwerbsbehinderung für Gegenwart und
Vergangenheit im allgemeinen unschwer zu beurteilen ist, kann die
Beurteilung des mutmaßlichen Weiterverlaufs vor allem in solchen
Fällen zu größten Schwierigkeiten führen, wo es sich nicht um
unkomplizierte glatte" Schäden handelt, sondern beispielsweise um
Unfallschädigungen innerer Organe oder organische Läsionen des
Nervensystems. Selbstverständlich kann hier ein einigermaßen sicheres
Urteil über die zukünftige Erwerbsbeschränkung entweder über-
haupt nicht abgegeben werden oder doch nur mit größter Vorsicht und Zurückhaltung, und danfl auch meistens nur für einen
sehr begrenzten Zeitraum, nach dessen Ablauf am zweckmäßigsten
Nachuntersuchung zu erfolgen hat. Etwas einfacher liegt die
Beurteilung der zukünftigen Erwerbsbeschränkung bei Un-
deren günstige Heilungsaussichten im Falle baldiger Abfindung der Entschädigungsansprüche ja bekannt sind.
Meist ist hier die Annahme einer fallenden, zeitlich begrenzten
Erwerbsbeschränkung für die Dauer von 1-2--3 Jahren, sofern
keine organischen Komplikationen bestehen, am Platze. Gewiß
faIIneurosen,
kann man n j e m j t S j c h e r h e i t s a g e n , wie der weitere Verlauf
einer Unfallschädigung sich gestalten wird. Das Reichsgericht vertritt
aber den auch für
die ärztliche Gutachtertätigkeit außer'-
ordentlich wichtigen Standpunkt, daß zwar der künftige Verlauf
einer Krankheit sich niemals mit völliger Sicherheit im voraus fest-
stellen lasse, ,,wohl aber das, was nach der allgemeinen
Erfahrung ein zutreten pflegt. Die daraus gewonnene
Ueberzeugung, daß der Kläger nur einen zeitlich begrenzten Schaden erleidet, ist das Gericht zu berücksichtigen gehalten" (ROE.
vom 27. IX. 1909).
Was die Beurteilung verm ehrter Be dü rfn isse anbetrifft,
so kommen hierbei in Frage z. B. Aufwendungen für sogenannte
Stärkungsmittel oder für besondere Wartung und Pflege. Daß hier
dem persönlichen Ermessen weiter Spielraum gegeben ist, liegt auf
der Hand, wenngleich es nicht immer leicht ist, den oft übertrieben
hohen Ansprüchen gegenüber das richtige Maß zu treffen. Besondere
Vorsicht erfordert hier wiederum die Gruppe der U n f a I I n e u r o t j k e r, deren Wünsche hinsichtlich Mehraufwendungen: ,,Stärkungsmittel", besondere Wartung und Hilfeleistung, oft jede vernünftige
Grenze überschreiten.
Auch die Ansprüche auf ein sogenanntes S c h m e r z e n s g e I d,
dic vielfach erhoben werden, sind in den meisten Fällen u n b e g r ii n d e t , allerdings in der Regel aus dem rein juristischen Grunde,
weil Schmerzensgeld überhaupt nur in Frage kommt, wenn seitens
des
Haftpflïchtigen
ein besonderes Vers chu I den (Vorsatz
oder Fahrlässigkeit im Sinne des BOB.) vorliegt. Das Reichshaftpflichtgesetz als solches kennt ü b e r haupt k ei n e n Anspruch auf
Schmerzensgeld, was vielfach auch von Aerzten, die ihren unfallverletzten Patienten ratend zur Seite stehen, übersehen wird.
Endlich ist noch von besonderer Bedeutung der Umstand, daß
beim Vorliegen eines ,,w ich ti g e n Grund e s" der Unfaliverletzte
statt einer Geldrente - die das nor in al e gesetzliche Entschädigungsverfahren darstellt - eine einmalige K ap ita lab fi n d u n g
verlangen kann, eine Möglichkeit, die besonders neuerdings vielfach
in Anwendung kommt, sowohl bei gerichtlicher wie außergerichtlicher Erledigung des Entschädigungsverfahrens. Dein begutachtenden
Arzte erwächst dabei die Aufgabe, zu beurteilen: 1. ob der betreffende Fall von medizinischen Gesichtspunkten aus überhaupt zur
A b f indu n g g e e i g n e t i st (was für alle glatten Schäden, für
erscheint, seiner ganzen Ausbildung, bisherigen Tätigkeit und seinem
nicht organisch komplizierte Unfailneurosen sowie für alle solchen
Fälle zutrifft, bei denen mit einiger Sicherheit spätere Verschlimmerung nicht zu erwarten ist); 2. welches Maß von Erwerbs-
sich zugemutet werden kann. Gerade nach dieser Richtung hin
dung zugrundezulegen ist.
Leistungsfähigkeit auf dem allg e m ein e n A r b e its markte,
sofern der fragliche Beruf, für den der Verletzte noch g e ei g n e t
Stande wenigstens einigermaßen entspricht und ihm an
können allerdings im Einzelfalle die größten Schwierigkeiten sich ergeben, da die allermeisten Unfallverletzten sich darauf versteifen,
daß sie zu ihrem bisherigen Berufe mehr oder weniger untauglich und nicht imstande seien, den Rest ihrer noch verbliebenen
Arbeitsfähigkeit ohne Stellenwechsel praktisch auszunutzen. Gewiß
sind Gedankengänge, die in dieser Richtung Hemmnisse bereiten
können, psychologisch verständlich, und dennoch darf weder der
Verletzte noch der Gutachter vergessen, daß nach Auffassung der
Rechtsprechung jeder Unfaliverletzte in seinem Rechtsverhältnisse
zum Haftpflichtigen verpflichtet ist, den ihm noch verbliebenen
Rest von Arbeitsfähigkeit aus zunutze n , sofern sich ihm eine
passende Gelegenheit dazu bietet').
Im übrigen pflegen die Gerichte vom Gutachter eine Abschätzung der Erwerbsbeschränkung zu verlangen nicht nur bezüglich
der Gegenwart, sondern auch bezüglich Vergange.nheit und
') Horn, Neuere Rechtsprechung bei Unfailneurosen. Berlin 1915. Rich. Schoetz.
beschränkung hinsichtlich Höhe und Dauer einer Abfin-
Bestehen, wie es ja mitunter der Fall, erhebliche Zweifel oder
Bedenken bezüglich eines dieser Punkte, so empfiehlt sich in außergerichtlichen Fällen Begutachtung durch eine me h r g li cd ri g e
A e r z t e komm i ss ion , während in Gerichtsfällen die Entscheidung dem Gerichte anheimzugeben ist, das ja ohnehin in der Würdigung der Beweiskraft eines ärztlichen Gutachtens nach eignern freien
Ermessen walten kann und auch darüber zu entscheiden hat, ob die
Begutachtung als ausreichend anzusehen ist, oder ob noch andere
und gegebenenfalls welche sonstigen Sachverständigen noch zu befragen sind.
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