UvA-DARE (Digital Academic Repository) De onttovering van de

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UvA-DARE (Digital Academic Repository)
De onttovering van de wereld. Max Weber en het probleem van de moderniteit in
Duitsland, 1890-1920
Dassen, P.G.C.
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Citation for published version (APA):
Dassen, P. G. C. (1999). De onttovering van de wereld. Max Weber en het probleem van de moderniteit in
Duitsland, 1890-1920 Amsterdam: in eigen beheer
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Download date: 20 Aug 2017
Zusammenfassung
In dieser Studie wird das Werk Max Webers (1864-1920) in seinem historischen Kontext betrachtet, das
heißt in Zusammenhang mit seinem Leben, der Geschichte des zweiten Deutschen Kaiserreichs und den
Werken von Zeitgenossen. Dies bedeutet, daß Webers häufig abstrakte Schriften so viel wie möglich mit dem
konkreten historischen Hintergrund in Beziehung gesetzt werden. Im Mittelpunkt steht dabei der Modemisierungsprozeß, der sich im Kaiserreich mit großer Heftigkeit vollzog. Es ist der revolutionäre Übergang von
einer in vieler Hinsicht noch prämodernen Gesellschaft zu einer modern-kapitalistischen und bürokratischen
Gesellschaft, mit dem sich der größte Teil Webers Werk beschäftigt.
In Deutschland wurde vor allem nach 1890 der Protest gegen die moderne Gesellschaft aus den
Reihen des Bildungsbürgertums immer lauter. Diese Kulturkritik richtete sich vor allem gegen den platten
Materialismus der technisch-industriellen Welt, aber auch gegen die ungebremste Entwicklung des
Kapitalismus und die entstehende Massenkultur.
Im Mittelpunkt dieser Studie stehen Webers Kerngedanken zu diesem 'Problem der Modernität' und
vor allem die Frage, wie seine Analyse des Problems aus seinem historischen und kulturellen Hintergrund
erklärt werden kann. Der Ausgangspunkt für die Spurensuche nach Webers Motiven, sich so intensiv mit
'Modernität' zu beschäftigen, ist auch das Motto dieser Studie, das dem Werk Webers selbst entnommen ist:
"[...] was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der
Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen"
(WL, 184). In Webers Diagnose der Modernität stehen zwei "Wertideen, die ihn und seine Zeit beherrschten"
zentral: erstens das Problem der Werte und der Sinngebung in einer entzauberten Welt und zweitens die
Bedrohung der individuellen Freiheit durch den modernen Kapitalismus und die Bürokratie, die eine
Eigendynamik entwickelt hatten, über die das menschliche Handeln die Kontrolle verloren hatte. Diese zwei
Probleme, die in den Kapiteln IV und V behandelt werden, formen den Kern dieser Studie. Diesen Kapiteln
gehen drei 'vorbereitende' Kapitel voraus, in denen respektive auf Webers Leben, seine Zeit und sein Werk
eingegangen wird. Die Spannung zwischen Webers nüchterner Diagnose der entzauberten Welt und den
zahllosen Versuchen seiner Zeitgenossen, die Welt wieder zu verzaubern, bildet den roten Faden, der alle
Kapitel miteinander verbindet.
I. Im ersten Kapitel wird in großem Maße das geistige Klima behandelt, in dem Webers Leben sich abspielte,
um deutlich zu machen, mit welchen sehr unterschiedlichen politischen, geistigen und kulturellen Strömungen
er konfrontiert wurde. Weber stammte aus einer Familie, deren Werte als bürgerlich, liberal und christlichsozial charakterisiert werden können. Er wurde von sehr unterschiedlich veranlagten Eltern erzogen: seine
Mutter war eine sehr religiöse, moralistische und auf das innerliche Leben orientierte Frau, während sein
Vater nüchtern war und der praktischen und politischen Welt offen gegenüber stand. Die vielen Ambivalenzen und Spannungen in Webers Arbeit, wie die Gegensätze Religion - 'Welt' oder alltäglich außeralltäglich, sind zum Teil darauf zurückzuführen. Bemerkenswert ist, daß es keineswegs
selbstverständlich war, daß Weber sich für eine wissenschaftliche Karriere entscheiden würde. Weber, der
Jura studierte und danach eine juristische Ausbildung zum höheren Beamten erhielt, war sehr praktisch
veranlagt und hat lange Zeit erwogen, eine Laufbahn als Jurist oder Politiker einzuschlagen. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß er sich, wenn sich in den Jahren vor seiner geistigen Krise (1897-1902) eine sinnvolle
politische Tätigkeit ergeben hätte, für eine politische Karriere entschieden hätte. Nach seiner Krise fehlte ihm
das dafür seiner Meinung nach erforderliche "absolut kühle Blut". Seine Flucht in die Wissenschaft, ebenso
wie das heftige Plädoyer für Wertfreiheit, das er seitdem hielt, kommt immer wieder als eine notwendige
Form des Selbstschutzes gegen die Politik, seine "alte, geheime Liebe" zurück, - Selbstschutz gegen heftige
Emotionen, die er wegen seiner Krankheit oft nicht (mehr) ertragen konnte.
Webers Nervenkrankheit wird nicht nur mit dem ödipalen Konflikt mit seinem Vater und den
Identifikationsproblemen, die sich aus der Verschiedenartigkeit seiner Eltern ergaben in Beziehung gebracht,
sondern auch mit seinem extremen Arbeitseifer und seiner asketischen Lebenseinstellung in seinen 'jungen'
Jahren. Die erste große Arbeit nach seiner Krise, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
(1904/05) enthält deutliche Elemente einer Selbstdiagnose, zum Beispiel wenn Weber über die "Pflicht"
schreibt, die sich "mit ihrer erkältenden Schwere auf das Leben" legt (RS I, 189). Im allgemeinen tauchen
Kulturkritik und Sinngebungsfragen in Webers Werk erst nach seiner Krankheit auf.
In Heidelberg, von 1897 bis 1919 Webers Wohnsitz, herrschte ein politisch-liberales und freies
intellektuelles Klima. In verschiedenen Kreisen fand unter Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern ein
besonders intensiver und fruchtbarer Gedankenaustausch statt. In diesen Kontext gehört auch der interdis469
ziplinäre Charakter der Forschungsarbeit vieler großer Gelehrter in Heidelberg - das somit einen fruchtbaren
Boden für die Entwicklung der deutschen Soziologie formte. In Heidelberg wurde Weber mit dem Kreis um
den Dichter Stefan George, den er als "Sekte" bezeichnete, und mit der 'erotischen Bewegung' konfrontiert.
Otto Groß, ein ehemaliger Freudschüler, vertrat die Ansicht, Monogamie sei schlecht für die geistige
Gesundheit und befürwortete deshalb eine freie Sexualmoral. Er bekam u.a. von Else Jaffé ein Kind, mit der
später Weber eine außereheliche Beziehung hatte. Auch in Ascona, ein Bergdorf, das Weber 1913 und 1914
besucht hat, konnte er Versuche seiner Zeitgenossen - Vegetarier, 'unkonventionelle' Frauen, Pazifisten,
Künstler - beobachten, ein alternatives Leben zu fuhren, frei von den gefestigten bürgerlichen Normen. Und
im München der Nachkriegszeit hatte er Kontakt mit den jugendlichen Revolutionären und Anarchisten wie
Ernst Toller, dem er viel menschliche Sympathie entgegenbrachte, den er jedoch als politisch sehr unreif und
"ungewöhnlich weltfremd" charakterisierte. Weber, der utopischem Idealismus abgeneigt war, betonte immer
wieder, wie wichtig es sei, der politischen und wirtschaftlichen Realität ohne Illusionen ins Auge zu sehen.
Auch die unvermeidlichen 'Dissonanten' der modernen, entzauberten Welt mußten seiner Meinung nach
soviel wie möglich "ausgehalten" werden.
II. Im ersten Teil vom zweiten Kapitel wird der Modernisierungsprozeß in Deutschland so konkret wie
möglich analysiert. Das Kaiserreich erlebte in vielen Bereichen, wie Wirtschaft, Demographie, Technik,
soziale und politische Verhältnisse und Kultur (Wissenschaft, Unterricht, Kunst) eine stürmische Entwicklung, während nicht-moderne Elemente, wie eine konservative Staatsordnung, weitgehend unverändert
blieben. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Spannungen, die dadurch hervorgerufen wurden und die auch
in Webers Werk eine große Rolle spielen. Damit wird bereits auf das Thema des vierten Kapitels vorgegriffen, nämlich das Problem der Werte und der Sinngebung. Der von Weber und anderen meistens abstrakt
formulierte "Wertkonflikt" kann nicht isoliert von der gesellschaftlichen und politischen Realität des sehr
stark polarisierten Kaiserreichs betrachtet werden. Zudem bietet dieses Kapitel einen guten Hintergrund für
das fünfte Kapitel, in dem es geht um die Asynchronität von Entwicklungen, ein wichtiges Thema der
deutschen Soziologie um 1900.
Die großen Probleme des Kaiserreichs, die in diesem Kapitel behandelt werden, haben alle einen
großen Stellenwert in Webers Werk: die schnelle Entwicklung und die besondere Form des Kapitalismus, die
soziale Frage, der Sozialstaat, die Emanzipation der Frau, der Juden und der Arbeiter, das Verhindern einer
demokratischen Entwicklung durch Bismarck, der einflußreiche Adel, die Armee und die Bürokratie, und das
Thema des 'unpolitischen' Deutschen.
Im zweiten Teil dieses Kapitels steht die Frage zentral, wie vom Bildungsbürgertum, der sozialen
Schicht, zu der Weber gehörte, auf das Entstehen der modernen Gesellschaft reagiert wurde. Zuerst wird kurz
auf Webers Kulturkritik eingegangen, die vor dem Hintergrund der im neunzehnten Jahrhundert
vorherrschenden Rationalismuskritik betrachtet wird. Anschließend wird ausführlich mehr im allgemeinen das
'Unbehagen an der Modernität' nach 1890 betrachtet, als Kulturkritik nicht mehr nur von einigen
Intellektuellen, wie Friedrich Nietzsche, sondern auch von breiteren Schichten des Bildungsbürgertums
geäußert wurde, der Gruppe, die die öffentliche Meinung beherrschte. Dabei werden die vielen Gesichter
dieser Kulturkritik deutlich, die von den vulgär-idealistischen Betrachtungen Julius Langbehns über die
subtilen und intelligenten Betrachtungen Georg Simmeis und den reaktionären Oswald Spengler bis hin zu
dem gegen das politische und bürokratische Establishment kämpfende Max Weber reichen. Ausführlich wird
auf das Werk Werner Sombarts nach der Jahrhundertwende eingegangen, das ein deutliches Beispiel für
antimoderne, konservative Kulturkritik ist. Sombart (1863-1941), ein guter Bekannter Webers, war viel
repräsentativer für seine Generation als Max Weber selbst. Im allgemeinen erfuhr das Bildungsbürgertum den
modernen industriellen Kapitalismus, die Emanzipation der Arbeiterklasse, den Erfolg der
Naturwissenschaften und die abnehmende Autorität der Geisteswissenschaften als eine Bedrohung für seine
gesellschaftliche Stellung. Ein Teil der Angehörigen dieser Gesellschaftsschicht waren mit ihren vom
praktischen Leben entfernten Bildungs- und Kulturidealen schlecht auf die Anforderungen der modernen
Gesellschaft vorbereitet, äußerten in zunehmendem Maße kulturpessimistische Töne und suchten Zuflucht
beim "General Dr. von Staat" (Thomas Mann).
Zugleich gab es in der deutschen Kulturkritik um 1900 häufig einen Drang, aus der Asche der alten,
erstarrten Kultur eine gänzlich neue Kultur entstehen zu lassen. Neben dem Pessimismus gab es auch häufig
einen stark entwickelten Optimismus und einen großen Hang zu Erneuerung, der manchmal selbst auf utopische Denkbilder hinauslief. Im Rest dieser Studie, vor allem im vierten Kapitel, werden die verschiedenen
'Lösungen' analysiert, die für die Probleme der modernen Kultur entwickelt wurden. In diesem
Zusammenhang wird im zweiten Kapitel noch ausführlich auf den Dichter Stefan George (1868-1933) und
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seinen Kreis eingegangen, in dem Kulturpessimismus und Utopismus eng miteinander verbunden waren. So
stellte sich der George Kreis als 'Lösung' des vor allem im Jahrbuch für die geistige Bewegung (1910-1912)
mit düsteren Worten beschriebenen Kulturverfalls das "Neue Reich" vor, eine religiöse Gemeinschaft, weitab
der alltäglichen Welt. Weber, der George gut kannte, widersetzte sich dessen Antimodernismus und vor allem
dessen religiösem Prophetentum.
Im letzten Abschnitt wird die Frage angesprochen, inwieweit von einem deutschen Sonderweg die
Rede sein kann. Dies sowohl im Hinblick auf die in der Sekundärliteratur so häufig erwähnte 'abweichende'
Entwicklung von Deutschland im sozial-ökonomischen und politischen Bereich, als auch auf die Frage der
Mentalität des deutschen Bürgertums und dessen 'unpolitische' und unliberale Haltung. In Anlehnung an vor
allem Thomas Nipperdey wird der ambivalente Charakter des Kaiserreichs betont. Zahlreiche Entwicklungen
weisen darauf hin, daß Deutschland auch auf dem Weg zu einer 'normalen' modernen Gesellschaft war. Es
ist allerdings bemerkenswert, daß im Werk Max Webers das Bild vom deutschen Sonderweg - in seinen verschiedenen Erscheinungsformen - tatsächlich bestätigt wird. Beweise dafür sind seine nicht nachlassende,
beißende Kritik am geringen politischen Interesse und der Unreife des deutschen Bürgertums und dessen
Staatstreue und Untertanenmentalität. Außerdem hielten seiner Meinung nach die Bürokratie und andere
konservative Kräfte, wie die Agrarier und die "großkapitalistischen Mächte", die konservative politische
Struktur in Stand, um ihren Einfluß zu wahren.
III. Im dritten Kapitel wird gezeigt, daß es Weber bei seinem lebenslangen Interesse für den Ursprung und
die Kulturbedeutung des modernen Kapitalismus, letztendlich ging um die Frage nach dem spezifischen
Charakter und Erklärung der Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft und Kultur. In seiner Suche
nach der 'Einzigartigkeit' des Westens untersuchte er auch ausführlich die religiöse Ethik und die soziale,
wirtschaftliche und politische Struktur der nichtwestlichen, vor allem asiatischen Kulturen, um zu verstehen,
warum dort völlig andersartige Entwicklungen stattgefunden hatten.
In diesem Kapitel wird angesprochen, daß Weber anfangs vor allem auf dem Gebiet der - stark
historisch orientierten - Rechtswissenschaften gearbeitet hat, anschließend immer mehr den Bereich der
Nationalökonomie betrat, sich von diesem Bereich aus zum Kulturhistoriker (und Methodiker der Kulturwissenschaften) entwickelte und schließlich ein zunehmendes Interesse für die Entwicklung der gesamten
westlichen Kultur und für die Soziologie zeigte, in der die enorme Vielseitigkeit der Weltgeschichte in
idealtypischen Konstruktionen untergebracht wurde. Seiner Meinung nach lag das Besondere der modernwestlichen 'Rationalität' vor allem in der großen Bedeutung der Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und
Beherrschung. In Webers Sichtweise des 'einzigartigen' Charakters der modernen westlichen Kultur werden
sechs Bereiche unterschieden: den Kapitalismus, den Staat und die Bürokratie, das Recht, die Wissenschaft
und Technik, die Kunst und Musik und das Individuum. All diese Bereiche werden von einer stark
entwickelten 'Rationalität' beherrscht. Anschließend wird auf die komplexe Frage eingegangen, wie Webers
Meinung nach die einzigartige westliche Kulturentwicklung erklärt werden kann. Obwohl er die Bedeutung
von Werten und Ideen in der Geschichte betonte, kann Weber methodologisch sicher kein 'Idealist' genannt
werden, er war aber auch kein 'Materialist'. In seinem Werk geht es im Prinzip um die gegenseitige
Abhängigkeit aller Faktoren der sozial-historischen Wirklichkeit. Es fällt auf, daß Weber an verschiedenen
Stellen in seinem Werk immer wieder andere Momente und Faktoren nennt, die von "entscheidender
Bedeutung" fur die einzigartige Entwicklung der westlichen Kultur gewesen seien. Bemerkenswert ist dabei,
daß er sich wenig mit den unverkennbar wichtigen historischen Epochen, wie der Renaissance, der
Aufklärung oder der Französischen Revolution beschäftigt hat. Für Weber lagen die Wurzeln der modernen
westlichen Kultur in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit, wobei er dem im Westen entwickelten
jüdisch-christlichen Weltbild eine große Bedeutung zuschrieb. Weber hat untersucht, welches Wehbild der
typisch westlichen Wehbeherrschung zugrunde liegt. Es ist eines der vielen Paradoxe in seinem Werk, daß
die rationale Beherrschung der Welt, die so kennzeichnend ist für die diesseitig orientierte modern-westliche
Kultur, einen religiösen Ursprung hat. Weber interessierte sich allerdings auch für nicht-ideelle, institutionelle
Faktoren, die zum Entstehen der modernen kapitalistischen Gesellschaft beigetragen haben, wie für den
modernen Staat oder die rationale Betriebsorganisation. Zum Schluß wird gezeigt, daß die Auffassung,
Webers Werk werde gekennzeichnet von der Vorstellung eines großen, unilinearen Rationalisierungsprozesses
- im Sinne einer konstanten Zunahme von 'Rationalität' in der Geschichte -, unrichtig ist. Zugleich ist es
auffallend, daß Weber, der selbst ständig die Bedeutung der Verwendung so scharf wie möglich definierter
Begriffe betonte, den zentralen Begriffen seines Werkes - Rationalität und Rationalisierung - jede Schärfe
und Deutlichkeit genommen hat.
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IV. Im vierten Kapitel steht das Problem der Werte und der Sinngebung in einer entzauberten Welt zentral.
Zu Beginn wird die Bedeutung des Begriffs der Entzauberung analysiert. 'Entzauberung' beinhaltet, daß die
Vorstellung der Welt als ein mysteriöser "Zaubergarten" voller geheimnisvoller und unberechenbarer Kräfte kennzeichnend für das magische Weltbild - durchbrochen wird. Zwei Faktoren haben die Entzauberung der
Welt, die nur im Westen vollständig durchgeführt wurde, hervorgerufen: die Religion und die moderne
Wissenschaft. Die Essenz des religiösen Entzauberungsprozesses ist, daß die Magie durch die Religion als
Heilsweg zurückgedrängt wird. Im asketischen Puritanismus war dies Webers Meinung nach in letzter
Konsequenz durchgeführt. Die puritanische Verwerfung aller Magie als Aberglaube und Sünde fand ihren
Ursprung in der rationalen und anti-magischen Ethik des antiken Judentums, die von den levitischen Priestern
und den Propheten verbreitet wurde. Die modern-empirische Wissenschaft, die im Prinzip alles durch
Berechnung beherrscht, hat den von der Religion als 'sinnvoll' interpretierten Kosmos entzaubert und zu
einem kausalen Mechanismus reduziert, dem jeder 'objektive' Sinn genommen ist. Für die Wissenschaft gibt
es im Prinzip keine geheimnisvollen Mächte mehr. Des weiteren wird Entzauberung in diesem Kapitel auch
in einem weniger buchstäblichen Sinn aufgefaßt, nämlich als das nüchtern Werden der Welt. Entzauberung
bedeutet auch, daß die Welt ohne Illusionen, in all ihrer Nacktheit, Härte und Unerwünschtheit betrachtet
wird. Weber forderte von einem Wissenschaftler einen entzauberten Blick, der die 'unangenehmen'
Tatsachen nicht scheut. So betrachtet steht Webers Bemühen um Wertfreiheit in der Wissenschaft in engem
Zusammenhang mit der Entzauberung der Welt. Die moderne Wissenschaft war seiner Meinung nach nicht in
der Lage zu beurteilen, ob bestimmte Werte wünschenswert waren oder nicht, weil Werte keine Produkte
sind von Erkenntnis, sondern von einem grundsätzlich nicht rational zu fundieren Glauben und von
"Weltanschauungen". Auch die Tatsache, daß es keine allgemein anerkannten "letzten Werte" mehr gab, war
ein Produkt des Entzauberungsprozesses (WL, 612). Dies ist die Essenz des Werteproblems.
In diesem Kapitel wird Webers Denken über Werte beginnend bei seinen Jugendbriefen
nachvollzogen, in denen er bereits sittliches Urteilsvermögen und Verstand unterscheidete, eine Trennung, die
er Zeit seines Lebens verteidigen sollte. Auch in seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1895 taucht diese Trennung wieder auf, wenn auch mit der Einschränkung, daß er es zu diesem Zeitpunkt noch für eine Illusion
hielt, daß man sich eines Werturteils enthalten könnte. Nach der Jahrhundertwende kommt dieser Gedankengang nicht mehr zurück. Webers Plädoyer für Wertfreiheit wird vor dem Hintergrund des Einflusses von
Kant und des Neukantianismus betrachtet. Des weiteren wird Webers radikale und illusionslose Auffassung
der Unversöhnlichkeit der Werte ("Polytheismus") unter anderem im Zusammenhang mit dem großen
Stellenwert, den der Begriff "Kampf in seinem Werk einnimmt, betrachtet. Die "alten vielen Götter" haben,
nach der Ablösung der christlichen Ethik, ihren ewigen Streit wieder begonnen. Die Bereiche des Heiligen
(Religion), Wahren (Wissenschaft), Schönen (Kunst) und Guten (Ethik) sind nicht mehr miteinander
verbunden, sondern sind autonom geworden und haben jeweils ihre eigenen 'Werte' und ihre eigene
Entwicklungsdynamik.
Das Problem der Sinngebung entsteht, wenn man in einer modernen, pluralistischen und
entzauberten Welt mit einer großen Vielzahl von Werten und Zielen konfrontiert wird, die nicht hierarchisch
geordnet sind und man somit selbst dem eigenen Handeln einen Sinn geben muß. Das Problem der
Sinngebung in Webers Werk wird in diesem Kapitel in einen Zusammenhang mit u.a. seinem Leben (geistige
Krise) gesetzt, mit seiner Sichtweise des Untergangs der Religion als Schöpfer eines "sinnvollen Kosmos"
und mit seiner Auffassung, daß die Wissenschaft nicht nur die Welt und die Natur, sondern auch sich selbst
entzaubert hat und die Sinnfragen nicht mehr beantworten kann.
Im zweiten Teil dieses Kapitels werden möglichst viele der von Weber meistens nicht explizit
genannten historischen und philosophisch-wissenschaftlichen Entwicklungen sichtbar gemacht, die den
Hintergrund seiner Betrachtungen bilden. Das Problem der Sinngebung wird im allgemeinen erst in einer
tiefgehenden Krise akut. Es sind reichlich Beweise dafür zu finden, daß in Deutschland um 1900, sicher in
Webers Umgebung, viele an einem Gefühl der Krise und Unsicherheit litten, das durch die unvergleichlich
schnellen und einschneidenden Veränderungen in der wilhelminischen Gesellschaft und Kultur verursacht
wurde. Das moderne Deutschland wurde mit Desintegration und Entfremdung assoziiert, und bot somit
keinen Halt mehr für Identifikation. Vielen der um 1900 erschienenen Schriften kann man entnehmen, daß
das Fehlen eines bindenden Prinzips, einer gemeinschaftlichen Ethik als Kern des Wert- und
Sinngebungsproblems gesehen wurde. Das Gefühl der Krise wurde noch von den großen politischen und
sozialen Gegensätzen verstärkt, die im Kaiserreich herrschten. '1871', das Jahr, in dem die deutsche Einheit
zustande kam, hat noch kurz eine bindende, sozial integrierende Funktion gehabt, aber bald wurde deutlich,
wie gespalten und segmentiert die deutsche Gesellschaft war. Was vorherrschte, war ein Kampf der Werte
und Interessen.
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Anstelle des Christentums, das immer mehr als vorherrschende Deutung aller Geschehnisse ausfiel,
gab es viele neue, unpersönliche und mit einander kämpfende "Götter": die Nation, den Sozialismus, die
Wissenschaft und die Kunst. Diese Bereiche konnten etwas Heiliges oder 'Göttliches' erhalten, von dem
Segen und Rettung erwartet wurde. Ausführlich wird auf die verschiedenen Utopien, Propheten (Tolstoi) und
"Ersatzreligionen" in Deutschland um 1900 eingegangen. Für Weber war die Wissenschaft zweifellos der
wichtigste Bereich, in dem er mit "Surrogatreligionen" und neuen "Verzauberungen" konfrontiert wurde. Die
Vorstellung der Wissenschaft als eine neue 'Weltanschauung' wird an der Hand der Gedanken des Chemikers
Wilhelm Ostwalds (1853-1932) illustriert, über dessen 'energetische Kulturtheorien' Weber 1909 einen
äußerst kritischen Artikel schrieb. Der Monist Ostwald glaubte an die Machbarkeit des Menschen und der
Gesellschaft und an die Wissenschaft als Grundlage menschlichen Glückes.
Es erwies sich, daß auch die Nation wichtige Funktionen des verschlissenen Christentums
übernehmen konnte. Dies wurde vor allem während des Ersten Weltkriegs deutlich, als auffallend häufig
religiöse Bildsprache verwendet wurde. Der Krieg gab dem Dasein wieder Sinn und rief ein Gefühl von
Zusammengehörigkeit und Einheit wach. Die Nation verkörperte für viele ein Gefühl von Heiligkeit,
Identität, Opfer und Liebe. Auch Weber schrieb, der Krieg könne dem Dasein wieder Sinn geben und ein
großes Gemeinschaftsgefühl entstehen lassen. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges wird deutlich,
daß Webers häufig abstrakt formuliertes Problem der Werte und Sinngebung in einer entzauberten Welt nicht
von der oft rauhen Wirklichkeit des wilhelminischen Kaiserreichs isoliert betrachtet werden kann, die ein
Gefühl der Krise und Unsicherheit vermittelte und in der es ein großes Bedürfnis nach Halt, Sinn und
"Verzauberung" gab.
Weber formulierte mit seinem Gedanken der 'Entzauberung der Welt' - des Verschwindens der
'Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit' - eigentlich nichts wesentlich Neues. Sein Begriff der Entzauberung
gehört zu dem Bereich der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, der, vor allem nach Hegels Tod,
mit den großen metaphysischen Systemen und spekulativen Geschichtstheorien abrechnete. Die Wissenschaft
des neunzehnten Jahrhunderts wurde zum Großteil vom Gedankengut des Positivismus und Empirismus
beherrscht, die die Wahrnehmung 'hinter' den Erscheinungen liegender verborgener Kräfte oder die Frage
nach dem 'Wesen' der Dinge nicht zuließen. Dieser sogenannte 'Essentialismus' wurde auch vom
Historismus untergraben: wenn alles in Bewegung ist, haben die Dinge kein 'Wesen', keine unveränderliche
Identität. Vor diesem Hintergrund wird auf das Denken des mit Weber befreundeten Theologen, Philosophen
und Historikers Ernst Troeltsch eingegangen, in dessen Werk das Historismus-Problem, und damit das
Problem der absoluten Werte, eine zentrale Rolle spielte. Es wird gezeigt, daß Weber viel radikaler war als
Troeltsch: Webers Denken geht nicht von einer "Kultursynthese" oder Versöhnung aus. Seine Diagnose einer
entzauberten Welt zeigt jedoch erstaunliche Übereinstimmungen mit der Friedrich Nietzsches. Trotz der
großen Unterschiede beider Denker, haben sie die Diagnose vom Tod Gottes, dem Verschwinden einer religiösen und metaphysischen 'Hinterwelt', eines 'objektiven Sinns' und richtungsweisender Werte miteinander
gemein.
Ähnlich wie im gesellschaftlichen Bereich ist auch in der Wissenschaft und Philosophie um 1900
eine Suche nach einer neuen Verzauberung und Beseelung festzustellen. Auch hier war Weber Zeuge des
Widerstands gegen die Entzauberung der Welt und des Wiederauferstehens des metaphysischen Denkens. Die
"Lebensphilosophie" illustriert den Widerstand gegen die Tatsache, daß die akademische 'wissenschaftliche'
Philosophie um 1900 nicht mehr in der Lage war, Antworten auf Probleme der Sinngebung und auf
weltanschauliche Fragen zu geben. Dies wird zum Beispiel dadurch illustriert, daß Weber, in dessen Umgebung viele mit der Lebensphilosophie sympathisierten, 1920 von Erich von Kahler heftig angegriffen wurde.
Von Kahler war der Meinung, daß die Wissenschaft sich wieder in den Dienst des Lebens stellen und sich
mit Sinngebungsfragen beschäftigen sollte, wobei der Gelehrte den Weg weisen sollte.
Verglichen mit diesen Stellungnahmen wirkt Weber vor allem wie ein "Entzauberer", der
illusionslos, rational und nüchtern gegen die seiner Meinung nach zu romantischen Zeitgenossen Stellung
nimmt, die die (moderne) Wirklichkeit nicht in ihrer wahren Erscheinungsform wahrnehmen möchten. Es ist
allerdings auch bemerkenswert, daß er dem Pragmatismus seiner Zeit gegenüber, der das Denken
relativierend dem Handeln unterordnete, und gegenüber den 'Meistern des Mißtrauens', Marx, Nietzsche und
Freud, die Werte verdächtig machten, die 'Rationalität' des Individuums verteidigte, das sich seine eigenen
Werte schafft. Weber glaubte an einen 'reinen', nicht weiter zu reduzierenden Ursprung von Werten.
V. Im fünften Kapitel steht das Problem der individuellen Freiheit in Webers Werk zentral - das zweite
Grundmotiv für seine intensive Beschäftigung mit dem Entstehen der westlich-modernen Welt. Wenn der
moderne, säkularisierte Mensch in einer entzauberten Welt selbst seine Werte wählen muß, muß er auch über
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die Freiheit dazu verfugen - und daran mangelte es Webers Meinung nach. Im ersten Abschnitt dieses
Kapitels wird Webers Analyse der Bedrohung der individuellen Freiheit durch das "stahlharte Gehäuse" des
modernen Kapitalismus und der Bürokratie betrachtet. In seiner 'Erklärung' des Entstehens dieses "Gehäuses"
schrieb Weber der Tatsache, daß die puritanische Berufsethik im Laufe der Zeit keine erforderliche Stütze
mehr für die weitere Entwicklung des Kapitalismus formte seit er auf mechanischer Grundlage ruhte, eine
große Bedeutung zu. Mit anderen Worten: die Ökonomie habe sich von der Religion gelöst. In Webers
Analyse der modernen Gesellschaft spielt diese Differenzierung der verschiedenen Lebensbereiche, die alle
ihren "inneren Eigengesetzlichkeiten" unterworfen sind, eine große Rolle. Da diese Entwicklungen eine
Eigendynamik haben, sind sie nicht mehr zu kontrollieren und scheinen sich dem Einfluß menschlichen
Handelns zu entziehen. Webers Theorie der Verselbständigung der verschiedenen Lebensbereiche zeigt wichtige Parallelen zu seinen Ideen über die "Veralltäglichung" und Umformung des Charismas. Denn auch der
revolutionäre Charakter des Charismas konnte sich in seiner institutionalisierten Form von seinem Ursprung
lösen, sich zu einer felsenfesten Tradition entwickeln und auf Dauer "mechanisch" werden. Durch diese Formulierung der Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Idee und der konkret gestalteten Wirklichkeit wird
Webers tragische Geschichtsauffassung und sein großes Interesse an Paradoxen deutlich: das Resultat des
menschlichen Handelns ist häufig ein ganz anderes als ursprünglich beabsichtigt, manchmal selbst das
Gegenteil. Bestimmte gesellschaftliche Prozesse scheinen sich über die Köpfe der Menschen hinweg zu
vollziehen. In Webers Werk taucht an verschiedenen Stellen die Formulierung auf, das Entstehen des
"stahlharten Gehäuses" sei eine Folge des "Schicksals". Dies bedeutet, daß man bei seiner Geschichtsbetrachtung mit einem sogenannten 'methodischen Fatalismus' rechnen muß. An dieser Stelle wird Webers
Sichtweise des westlichen Rationalisierungsprozesses kritisiert, den er, obwohl er in seiner Soziologie vom
sozialen Handeln des Individuums ausging, sozusagen der Geschichte auflegt, anstelle ihn 'von unten' aus ihr
abzuleiten. Des weiteren wird ausführlich auf Webers Vorstellung einer "Persönlichkeit" eingegangen, die
dem "stahlharten Gehäuse" viel entgegenzusetzen haben sollte. Eine Persönlichkeit lebt "von innen nach
außen", das heißt, daß sie ihr Leben auf der Grundlage eigener, 'letzter' Werte gestaltet. Durch einen
"konstanten Willen" entsteht eine Systematik und Einheit des Handelns und der Lebensführung, die sich
konkret in einem asketischen Arbeitsleben äußert. Der Außenwelt tritt diese Persönlichkeit rational,
selbständig und 'frei' gegenüber.
Der zweite Teil des fünften Kapitels ist dem konkret-historischen Kontext des Freiheitsproblems
gewidmet. In diesem Zusammenhang wird die Entwicklung der deutschen Bürokratie betrachtet
(einschließlich die Analysen des Weberschen Zeitgenossen Otto Hintze), die die autoritär-konservative
Staatsform vor Veränderungen abschirmte und eine politische Liberalisierung verhinderte. Auch wird
untersucht, inwieweit der 'organisierte' Kapitalismus des Kaiserreichs die Entfaltung einer freien und
dynamischen Wirtschaft verhinderte. Dies wird durch eine Analyse des von Weber kritisierten
"Untertanengeistes" ergänzt, eine Mentalität der "Charakterlosigkeit", die sich unter anderem durch die
universelle Disziplinierung und durch die in Deutschland vorherrschende Religion, den Lutheranismus
entwickeln konnte. Kurz, Weber war der Meinung, im Kaiserreich seien die religiösen, politischen und
institutionellen Entstehungsbedingungen eines angepaßten Menschentyps vorhanden, der nur noch ein
Bedürfnis nach der Sicherheit und Geborgenheit einer Versorgung durch den Obrigkeitsstaat hatte.
Anschließend wird Webers Verlagerung des Humboldtschen Bildungsbegriffes, der die vollständige und
umfassende Entwicklung des Individuums beinhaltete, zu einem viel asketischeren Persönlichkeitsbegriff
betrachtet. Während die "Innerlichkeit", die im Bildungs-Idealismus so stark betont wurde, ihren Ursprung im
deutschen Lutheranismus und Pietismus hatte, liegen die Wurzeln des Weberschen Persönlichkeitsbegriffes
viel mehr im asketischen Protestantismus. Eine 'Persönlichkeit' bemüht sich nicht um allseitige Entwicklung,
sondern widmet sich einer speziellen Aufgabe, sie ist 'härter' und richtet sich mehr auf die Außenwelt.
Weber war von der Bedeutung gründlicher Kenntnisse der harten wirtschaftlichen und politischen
Wirklichkeit überzeugt. Damit sind seine scharfen Angriffe auf die seiner Meinung nach so unpolitischen und
unrealistischen "Literaten" seiner Zeit zu erklären. Abschließend wird der ideenhistorische Kontext des
Freiheitsproblems betrachtet. In diesem Zusammenhang wird das Entstehen 'der' deutschen Soziologie am
Ende des neunzehnten Jahrhunderts und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angesprochen, weil diese
wissenschaftliche Disziplin im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, die die Freiheit und Einzigartigkeit des
Individuums betonte, Interesse zeigte für Gesetzmäßigkeiten im historischen Prozeß und für anonyme
gesellschaftliche Kräfte. Es geht dabei um die Erfahrung, daß Entwicklungen sich außerhalb des
Einflußbereichs des Individuums vollziehen und daß die verselbständigte 'überindividuelle' Wirklichkeit
scheinbar immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diesem Thema der Verselbständigung, die aus dem Gegensatz
zwischen Individuum und Gesellschaft abgeleitet werden kann, wurde in der deutschen Soziologie und
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Kulturwissenschaft um 1900 viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dies ging mit einer 'tragischen' Geschichtsauffassung einher: von Menschen in Gang gesetzte Prozesse haben eine Eigendynamik erhalten und
haben sich gegen den Menschen gekehrt. Viele Zeitgenossen Webers gaben diesem Gefühl der Ohnmacht
dem "Schicksal" gegenüber mit der These Ausdruck, ein Mittel zum Zweck sei nun selbst zum Zweck
geworden. Diese Umkehrung von Zweck und Mittel wurde in der deutschen Soziologie häufig herangezogen.
Um dies zu illustrieren wird explizit auf das Werk Werner Sombarts, Robert Michels' und vor allem Georg
Simmeis eingegangen, das in den Aussagen zum Problem der individuellen Freiheit und zum Thema der
'Verselbständigung' und 'Tragik' der Geschichte frappierende Übereinstimmungen mit Webers Werk zeigt.
Allgemein betrachtet gehörten diese Themen um 1900 zum kulturkritischen Gedankengut einer großen
Gruppe einflußreicher 'Gebildeter'. Webers Diagnose war sicher nicht einzigartig. Er unterscheidet sich
allerdings von den meisten seiner Zeitgenossen durch seine These, daß das so sehr auf das Geistige, NichtMaterielle und Unpolitische ausgerichtete Bildungs-Ideal in einer industrialisierten und rationalisierten
Gesellschaft ein Anachronismus geworden war.
VI. Im sechsten Kapitel wird ein Thema angesprochen, daß sich an das im vierten und fünften Kapitel
beschriebene Sinn-und Freiheitsproblem anschließt: wenn Weber überhaupt glaubte, diese Probleme seien zu
'lösen', war dies nur großen charismatischen Persönlichkeiten gegeben, die in der Lage waren durch ihre
"außeralltäglichen" Begabungen wieder 'Zauber' und neue Impulse in die erstarrte wilhelminische
Gesellschaft zu bringen und dem Rationalisierungs - und Bürokratisierungsprozeß etwas entgegenzusetzen.
Webers Aktualisierung des Charismas wird unter anderem mit dem massenhafter und bürokratischer Werden
der politischen Parteien und Massenorganisationen in Zusammenhang gebracht. Dies hatte eine "cäsaristische"
Wende in der Auswahl der politischen Führung zur Folge, nämlich das Plebiszit. Es geht dabei um den
Glaube, den eine Gruppe von Menschen einer demagogischen, charismatischen Führerpersönlichkeit entgegenbringt - ein nicht unproblematisches Konzept, weil der politische Führer nur sich selbst Verantwortung
schuldig ist. Was den ideenhistorischen Kontext betrifft, wird vor allem auf die Bedeutung des Kontakts mit
der Figur und dem Werk Robert Michels hingewiesen, vor allem dessen Betonung der unvermeidlichen
Oligarchisierung der Parteien in der modernen Massendemokratie. Allgemeiner läßt sich feststellen, daß
Webers Analyse Teil eines weitverbreiteten politischen Diskurses in Deutschland nach 1900 war, in dem die
nicht-egalitären Züge der Massendemokratie betont und der Elite (und dem "Genie") große Bedeutung
zugeschrieben wurde. Weber beurteilte Charisma im allgemeinen positiv, weil damit wieder Mut und neue
Impulse in die Geschichte gebracht wurden. An seinen Formulierungen über Charisma fallen deren
Ähnlichkeiten zur Lebensphilosophie auf (zum Beispiel, wo er über das "Ersticken" oder die "Kastrierung"
des Charismas durch den Parteibetrieb schrieb). Kennzeichnend für Charisma ist ja, daß es ursprünglich und
'rein' ist, irrational, anti-institutionell, revolutionär und daß es dem 'Gesellschaftlichen' und Wirtschaftlichen
fremd gegenüber steht.
In der Schlußbetrachtung wird der rote Faden dieser Studie wieder aufgenommen: die Spannung zwischen
Webers nüchterner Diagnose der entzauberten Welt und der Tatsache, daß er zahllose Versuche seiner
Zeitgenossen beobachtete, die Welt erneut zu verzaubern. An Webers Zeitalter läßt sich der enge
Zusammenhang von Entzauberung der Welt und utopischer Verführung illustrieren. Webers Werk und
Denken sind einerseits stark in die geistigen Strömungen und Diskussionen seiner Zeit eingebunden, unter
anderem was seine Diagnose einer entzauberten Welt und das Freiheitsproblem betrifft. Zweifellos ist der am
meisten zeitgebundene Aspekt seines Denkens sein Nationalismus. Aber andererseits unterschied Weber sich
von den meisten seiner Zeitgenossen durch die Schärfe und den undogmatischen Charakter seiner wissenschaftlichen Analysen und Methodologie, den Mut seiner Fragestellungen, die Breite seiner Themen und
sein großes Interesse für die nicht-westliche Welt, die viele Beiträge und Impulse die er zur historischen und
sozialwissenschaftlichen Forschung des 20. Jahrhunderts geliefert hat, seine ausgesprochenen politischen
Auffassungen und sein Engagement, sein mutiges Unterstützen einer Reihe von Minderheitengruppen (u.a.
Juden und Sozialdemokraten) und nicht zuletzt die Tatsache, daß fast niemand so radikal und kompromißlos
mit der Entzauberung der Welt - zum Beispiel mit der Spannung zwischen Tatsachen und Werten - umgegangen ist, als er. Sein persönliches Leben zeigt, wie hoch der Preis war, den er dafür bezahlt hat.
Vertaling: Marianne Steyer
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