Rotkreuz-Symposium „Am Rande des Nervenzusammenbruchs – Risiken und mögliche Auswege für Eltern unter Druck“ Mittwoch, 17. November 2010, Kultur-Casino Bern Zusammenfassung der Referate (das gesprochene Wort gilt) Verschnaufpause für erschöpfte Eltern – eine Aktion der RotkreuzKinderbetreuung Valérie Ugolini, Projektkoordinatorin Kinderbetreuung zu Hause, Schweizerisches Rotes Kreuz Die «Kinderbetreuung zu Hause» ist vor über 25 Jahren im Kanton Waadt entstanden. Heute besteht sie in 18 Kantonen. Dieser Dienst wurde ursprünglich eingeführt, um kranke oder verunfallte Kinder zu betreuen, deren Eltern zur Arbeit gehen mussten. Unterdessen hat er sein Leistungsangebot ausgebaut. Zurzeit werden auch gesunde Kinder betreut, deren Eltern aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern: Krankheit oder Unfall der Eltern, Spitalaufenthalt, Depression, Erschöpfung, Mehrlingsgeburt, Familienkrise usw. In einer Not- oder Krisensituation genügt ein Anruf beim kantonalen Roten Kreuz, das eine ausgebildete Mitarbeiterin aufbietet, die das Kind in der Wohnung der Eltern betreut. In den letzten Jahren liessen sich verschiedene Veränderungen beobachten. Zunächst ist eine sehr starke Zunahme der Anfragen in Situationen festzustellen, in denen die Eltern krank oder in einer Krise sind. Entsprechend ist der Anteil der Anfragen zurückgegangen, die die Betreuung von kranken Kindern betreffen. Zudem werden die Situationen immer anspruchsvoller oder gar belastender und erfordern seitens der Betreuerinnen immer mehr Kompetenz. Parallel dazu hat sich die Einsatzdauer pro Fall verlängert. Auch die Zahl der Anfragen, die von den Sozial- oder Gesundheitsdiensten ausgehen, nimmt gegenüber jenen, die direkt von den Familien gestellt werden, laufend zu. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Anfragen hat das Rote Kreuz eine Feststellung gemacht: Immer mehr Einsätze sind auf Situationen von Stress, Erschöpfung oder Burnout der Eltern und auf die verschiedenen Folgen zurückzuführen, die sich daraus ergeben. In solchen Fällen können die Kinderbetreuungsdienste den Eltern eine besondere, in ihrer Art einmalige Unterstützung anbieten: Sie ermöglichen ihnen, sich eine Auszeit zu nehmen, während sich das Kind in guten Händen befindet. Durch den vorübergehenden Stressabbau lässt sich eine Krise entschärfen. Somit kann die Kinderbetreuung in Verbindung mit weiteren Massnahmen eine präventive Wirkung entfalten. Das Rote Kreuz hat deshalb 2010 die Aktion «Verschnaufpause» lanciert: Erschöpfte Eltern erhalten einen Gutschein, gegen den ihre Kinder für einen bescheidenen Betrag drei bis vier Stunden lang betreut werden. Die Gutscheine werden von Fachleuten abgegeben, die in Kontakt mit den Eltern stehen. Mit dieser Aktion werden mehrere Ziele angestrebt: den Eltern eine Verschnaufpause ermöglichen und ihr Recht auf eine kurze Auszeit anerkennen, die Kinderbetreuung zu Hause bei Fachleuten und Eltern besser bekannt machen, damit sie sie bei Bedarf auch nutzen. Und schliesslich soll auf ein nachweisliches, aber oft verkanntes Problem angesprochen und aufgezeigt werden: der Stress, den Eltern erleben, und die Auswirkungen, die er hat. Das ist im Übrigen auch der Zweck des heutigen Symposiums. Elternschaft in den Familien: Ressourcen und Probleme Prof. Dr. Eric Widmer, Professor, Departement für Soziologie, Universität Genf Wie wird ein Kind in unseren hyperkompetitiven Gesellschaften aufgenommen, die das Individuum ins Zentrum stellen? Welche Schwierigkeiten oder Spannungen lösen sein Eintreffen in der Familie und seine Sozialisierung aus? Welche Erziehungs-formen lassen sich heute in der Schweiz beobachten? Wie wirken sich die Probleme, die Eltern in ihrer Partnerschaft haben, auf das Kind und auf ihre Beziehung zu ihm aus? Das sind die Fragen, auf die in diesem Beitrag eingegangen werden soll. Die Antworten stützen sich auf verschiedene Forschungsarbeiten, die in den letzten Jahren in der Schweiz durchgeführt wurden. Zu Beginn der 1960er-Jahre sprach man vom "enfant-roi", dem im Mittelpunkt stehenden Prinz oder Prinzesschen, und verwies damit auf fünf Aspekte: Die Eltern hatten eine Nachkommenschaft, die der gewünschten Kinderzahl ziemlich nahe kam (2,4 Kinder). Diese Kinder wurden in einen anscheinend relativ stabilen familiären Rahmen hineingeboren (rund 10% Scheidungen), mit einer sehr ungleichen Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mutter und Vater. Es bestand eine hohe, allgemein verbreitete und hauptsächlich affektive Motivation zur Fortpflanzung: Man wollte das Kind wegen der Freude, die man von dieser Beziehung erwartete, das Kind erschien als «normaler» und «notwendiger» Ausdruck der ehelichen Liebe. Grundsätzlich ging es eher um die eigene Entfaltung als um eine Einhaltung der geltenden Normen. Und schliesslich war man der Ansicht, die Rechte des Kindes gingen den Ambitionen oder Wünschen der Eltern vor. Doch wie in vielen anderen Ländern veränderte sich die sozio-demografische Situation in der Schweiz ab Mitte der 1960er-Jahre grundlegend: Konkubinate ohne Heirat fanden zunehmend Verbreitung, ebenso wie die Erwerbstätigkeit beider Elternteile, Scheidungen und Patchwork-Familien. Wie kommen diese Entwicklungen in der Beziehung zum Kind zum Ausdruck? Die Antwort fällt nuancierter aus als anzunehmen wäre. Denn es gibt nicht mehr eine generelle Art und Weise, eine Beziehung zum Kind aufzubauen, die für die Probleme und Spannungen verantwortlich gemacht werden könnte, die mit dieser Beziehung verbunden sind. Vielmehr besteht eine begrenzte Zahl von Modellen, die von der Funktionsweise der Familie abhängen, die wiederum stark mit den wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen der Eltern und darüber hinaus mit deren Freundes- und Verwandtenkreis zusammenhängt. Bei allen Überlegungen, die auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ausgerichtet sind, muss somit darauf geachtet werden, diese Dimensionen zu berücksichtigen. Nachgeburtliche Betreuung von gesunden Müttern mit gesundem Baby: ein unnötiger Luxus Dr. Elisabeth Kurth, Hebamme und Dozentin, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Universität Basel Hintergrund „Eine faule Wöchnerin ist ein Segen für die Familie“ sagt ein altes Sprichwort aus dem Emmental. Einer Mutter nach der Geburt die nötige Erholung zu gewähren war eine Priorität, in die Familie und Gesellschaft beträchtliche Ressourcen investierten. Vorgesehen waren Bettruhe, tägliche Besuche durch die Hebamme oder ein ausgiebiger Spitalaufenthalt sowie Beiträge für Haushaltshilfen, die von vielen Krankenkassen bezahlt wurden. Solch präventive Massnahmen zur Vorbeugung mütterlicher Erschöpfung nach der Geburt sind heute fast gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Beiträge für Haushaltshilfen sind im Krankenversicherungsgesetz seit 1996 nicht mehr vorgesehen. Nach einem immer kürzer werdenden Spitalaufenthalt erwartet man, dass eine gesunde Mutter mit einem gesunden Kind selber zurecht kommen sollte. Doch wie gestaltet sich der Alltag von Familien mit einem neugeborenen Kind in Wirklichkeit? Basler Forschungsprojekt Um die nachgeburtliche Betreuung zu optimieren, ging ein Forschungsprojekt der Universität Basel der Frage nach, wie Mütter die eigenen Bedürfnisse nach Erholung mit der Sorge für die kindlichen Bedürfnisse kombinieren. Wir besuchten spezifisch Risikofaktoren und Wechselwirkung von mütterlicher Müdigkeit und Säuglingsschreien in den ersten 12 Wochen postpartum. Das Forschungsprojekt kombinierte eine longitudinale qualitative Studie, die das Erleben von Müttern erforschte (N= 15 MutterKindpaare) mit einer Fall-Kontroll-Studie, um Risikofaktoren für Schreiprobleme zu untersuchen (N= 7,765 Mutter-Kindpaare). Bedeutung von psychischem, physischem und sozialem Stress Hatte eine Mutter bereits in den ersten zehn Tagen nach der Geburt spezielle Stresssituationen zu bewältigen, stieg das Risiko für das Auftreten von dokumentierten Schreiproblemen. Bei körperlichen Komplikationen (z.B. Wundheilungsstörung der Damm- oder Kaiserschnittnaht, Brustentzündung) war das Risiko für Schreiprobleme um einen Faktor von 1.4 erhöht, bei psychischen Problemen (Depression, psychische Dekompensation) bis um den Faktor 4.0. Auch soziale Stressfaktoren (Migrationshintergrund, geplante Rückkehr in die Berufstätigkeit direkt nach bezahltem Mutterschaftsurlaub) waren mit einem erhöhten Risiko verbunden (Faktor 1.3-1.4). Ein geringeres Risiko für Schreiprobleme zeigte sich bei Familien mit mehr als einem Kind. Beim zweiten Kind sank das Risiko um den Faktor 0.53, beim dritten Kind sogar um den Faktor 0.32. All diese Ergebnisse waren statistisch signifikant (p ≤ 0.01). Überzeugungen zur besten Art der Säuglingsbetreuung In der qualitativen Studie kam zum Ausdruck, dass Mütter bereits in den ersten Tagen nach der Geburt eine klare Vorstellung hatten, wie ein Baby idealerweise zu betreuen sei. Diese Überzeugungen reichten vom Bemühen, die Entwicklung des kindlichen Urvertrauens durch eine Kind-zentrierte Betreuung zu stärken, bis zur Haltung, dass der Säugling von Anfang an gewisse Grenzen und Strukturen brauche. Wie Mütter das Betreuen des Kindes mit dem Sorgen für die eigene Erholung kombinierten, hing ab von diesen Überzeugungen. Während für einige Mütter auch eigene Bedürfnisse von Wichtigkeit waren, stellten andere ihre Bedürfnisse zum Teil weit zurück, um Tag und Nacht selber für ihr Kind zu sorgen. Der Verzicht auf Ruhe und Erholung barg die Gefahr, dass Mütter zunehmend unter Schlafmangel und Erschöpfung litten. Was hilft Eltern zu einem gesunden Start ins Leben mit einem Baby? Die befragten Mütter schätzten eine einfühlsame Betreuung durch Fachpersonen, die ihnen Sicherheit vermittelte und sie bei der Bewältigung des Alltags mit einem Baby unterstützte. Internationale Studien zeigten, dass die häusliche Nachbetreuung durch qualifizierte Fachpersonen das Auftreten von depressiven Symptomen signifikant senkte. Schlussfolgerung Eine professionelle Betreuung, die Stress reduziert und Mütter ermutigt, das eigene Ruhebedürfnis ernst zu nehmen, stärkt Wohlbefinden und Gesundheit beim Start als Familie. Genügend Mittel einzusetzen um Familien nach der Geburt eines Kindes eine angemessene Betreuung zu bieten, ist eine lohnende Investition in die Zukunft. Stress und Stressbewältigung in der Familie Dr. phil Yves Hänggi, Psychologe, Koordinator Institut für Familienforschung und –beratung, Universität Freiburg Stress wird heute als Ungleichgewicht zwischen Anforderungen an eine Person und den Bewältigungsmöglichkeiten dieser Person verstanden. Diese Anforderungen können von aussen kommen (z.B. wenn Kinder ständig Aufmerksamkeit verlangen) oder von innen als Anforderungen an sich selber (z.B. wenn die Wohnung stets perfekt aufgeräumt und sauber sein soll). Unter Stress reagieren Eltern gereizter als sonst und sind schneller genervt, aggressiv und feindselig. Bei lang andauerndem Stress können Eltern Symptome des Burnouts entwickeln. Der eigene Stress wird dadurch häufig auf andere Personen übertragen. Wenn sich mehr als ein Familienmitglied gestresst fühlt, spricht man von Familienstress. Was genau führt häufig zu Familienstress? Bei einer Online-Umfrage durch das psychologische Institut der Universität Freiburg, Schweiz, haben 430 Personen folgende Frage beantwortet: "Was war für Sie die am meisten belastende, stressreichste Situation im vergangenen halben Jahr, welche die ganze Familie betroffen hat?". Die Studienteilnehmer nannten am häufigsten körperliche Leiden eines Familienmitglieds. An zweiter Stelle nannten sie Konflikte innerhalb der Familie, von Streitereien um Ämtchen bis hin zu hangreiflichen Auseinandersetzungen. Nur selten waren es schwerwiegende, tragische Ereignisse wie der Tod einer nahestehenden Person oder grosse Veränderungen wie bei einem Wegzug. Stress in der Familie kann also nicht völlig vermieden werden. Damit der Stress in der Familie nicht zu einem gravierenden Problem anwächst, sollten Eltern dem Stress möglichst früh vorbeugen und akuten Stress auf eine günstige Art und Weise bewältigen. „Günstig“ bedeutet erstens, dass das grundlegende Problem gelöst werden kann und zweitens, dass der Selbstwert aller Beteiligten geachtet und bewahrt bleibt. Als vorbeugende Massnahme hat sich das Online Elterntraining zur Bewältigung von Familienstress (www.elterntraining.ch) kurz- und langfristig als wirksam erwiesen. Die Teilnehmer berichteten über einen Anstieg der aktiven Erholung und über eine Zunahme an günstigen Bewältigungsstrategien. Übersteigt der Stress die Bewältigungsmöglichkeiten der Familie, ist die Unterstützung einer Fachperson angezeigt. Was Eltern psychisch krank macht: Krankheitsbilder, Therapiemöglichkeiten und Auswirkungen auf die Kinder Dr. med. Maria Hofecker, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Basel Die Mutterschaft ist nicht selten durch psychische Probleme belastet. Diese können neu auftreten oder bereits bestehen und sich durch die Belastungen von Schwangerschaft, Geburt und Nachgeburtsphase verschlechtern. Am häufigsten kommen Depressionen und Angsterkrankungen vor. Oft werden diese Störungen durch quälende Zwangsgedanken begleitet, wie z. B. dass die Mutter fürchtet, das Baby ungewollt zu vernachlässigen oder sogar zu töten. Aber auch andere psychische Probleme können eine erhebliche Belastung in dieser Lebensphase darstellen, wie z. B. ADHS, Suchtmittelmissbrauch oder Ess-Störungen. Postpartale Psychosen treten im Vergleich zu den genannten Erkrankungen zwar viel seltener auf, führen jedoch meist zur Hospitalisation. Das Krankheitsbild entwickelt sich wenige Tage bis Wochen nach der Geburt und kann manchmal binnen Stunden bis weniger Tage zu einem hochakuten Zustand von starker Erregung, völligem Realitätsverlust mit Wahnideen und Halluzinationen und akuter Gefahr für Mutter und Kind führen. Die Ursachen dieser psychischen Probleme sind vielfältig. Einerseits spielen genetische Faktoren eine gewisse Rolle ebenso wie hormonelle Veränderungen, andererseits sind es aber auch oft Faktoren im Umfeld, die psychische Probleme zur Folge haben, wie z. B. Krisen in der Paarbeziehung, zu hohe Belastungen durch Arbeit und Haushalt, finanzielle Probleme oder ein wenig unterstützendes Umfeld zu Hause und am Arbeitsplatz. Therapeutisch gibt es heute viele Möglichkeiten wirksam zu behandeln. Sicherlich steht an erster Stelle immer die Frage, ob durch geeignete Unterstützung und Entlastung der Druck auf eine Mutter bzw. Familie vermindert werden kann. Die Symptome psychischer Erkrankung erfordern jedoch spezifische Massnahmen wie z. B. Psychotherapie, Medikation und andere erprobte Mittel. Es ist wichtig zu wissen, dass wir heute über Medikamente verfügen, die auch in der Schwangerschaft und ev. auch in der Stillperiode bei sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko und unter ärztlicher Überwachung eingesetzt werden können. Auch eine Hospitalisation muss unter Umständen in Betracht gezogen werden, wenn die Sicherheit für Mutter und Kind nicht anders gewährleistet werden kann. Hier gilt es nach wie vor – auch unter Fachleuten – Vorurteile und Stigmata zu überwinden. Die Psychiatrie hat sich in den letzen 20 Jahren bemüht, die besonderen Bedürfnisse der jungen Mütter besser zu berücksichtigen, so dass heute zumindest einzelne Spezialangebote für diese Patientengruppe bestehen. Die Auswirkungen psychischer Erkrankung bei einem Elternteil auf die Kinder sind vielfältig, aber nicht von vorneherein negativ. Entscheidend ist viel mehr, ob die betroffene Mutter oder der Vater einer Behandlung gegenüber positiv eingestellt sind und ob es im Umfeld Personen gibt, die der Familie kontinuierlich zur Seite stehen können. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass psychische Probleme in dieser Lebensphase zwar häufig sind, die Prognose unter Voraussetzung wirksamer Behandlung jedoch günstig ist. Gesundheitliche Risiken einer mangelnden Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben Dr. Oliver Hämmig, Forschungsgruppenleiter, Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Zürich und Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften, ETH Zürich