Kinder- und Jugendpsychiatrie: Stationäres Behandlungsangebot für

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Kinder- und Jugendpsychiatrie: stationäres Behandlungsangebot für Kleinkinder und ihre psychisch kranken Eltern
«Cooperative breeding» auf einer psychiatrischen Station?
Silvia Reisch
Bereich Frühe Kindheit, Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des KantonsThurgau
Das Menschsein wird in den ersten Lebensjahren massgeblich über die Beziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen vermittelt. Wie regulieren wir unsere Gefühle,
wie gestalten wir Beziehungen? Wir haben in der Evolution wahrscheinlich wesentliche Vorteile aus diesem
Sinn für das Gemeinschaftliche, die Interaktionen, gezogen. Carel van Schaik, Anthropologe an der Universität
Zürich, drückt dies so aus: «Das ‹cooperative breeding›
hat den menschlichen Sozialverband geschaffen, in dem
soziales Lernen und damit die Entwicklung von Kultur
möglich wurde» [1]. Was geschieht, wenn dieses entwicklungsnotwendige Milieu durch schwere Beziehungsstörungen verletzt ist? Wie geht es Kleinkindern von
psychisch kranken Eltern, wenn deren Erkrankung
über Jahre besteht und die Entwicklung ihrer Kinder
auf unterschiedlichsten Ebenen stark beeinflusst? Was
tun, wenn diese Kinder selbst psychische Symptome
und/oder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln?
Forschungen zu Vulnerabilität und Resilienz [2] zeigen
Untersuchungsergebnisse über wahrscheinliche Entwicklungen betroffener Kinder. Wer aber nimmt diese
Kinder wahr, die meist noch vollkommen in ihrem familiären Milieu eingeschlossen sind? Mit den Worten von
A. Finzen [3]: «Während es den Eltern und Partnern
psychisch Kranker mittlerweile gelungen ist, sich Gehör
zu verschaffen, ist es um die Kinder und ihr Schicksal
still geblieben.»
Stationäre psychiatrische Angebote
für Kleinkinder?
Dem Aufbau stationärer Versorgungsstrukturen für psychisch kranke Mütter und ihre Kinder kommt laut Reck
[4] eine bedeutende Rolle zu. Die Gesundheitsversorgung
sieht die gemeinsame Behandlung von Mutter (Vater)
und Kind als Standardangebot bislang leider noch nicht
vor.
Interdisziplinäres stationäres
Behandlungsangebot im Kanton Thurgau
Silvia Reisch
Im Kleinkindambulatorium des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) Thurgau sind wir auf
eine Patientengruppe aufmerksam geworden, für welche
die ambulanten Behandlungsangebote ungenügend sind.
Es handelt sich dabei um elterliche Bezugspersonen
mit schwereren psychischen Störungen, denen es im
Alltag nur unzureichend gelingt, ein adäquates Beziehungsangebot für ihre Kinder aufrecht zu erhalten
und deren Söhne/Töchter (2–5 Jahre) bereits selbst
schwerwiegende pädiatrische und/oder psychische Erkrankungen zeigen, die die Kriterien einer ICD-10Diagnose erfüllen, beispielsweise Gedeihstörungen,
Schlafstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Störungen des Sozialverhaltens und Bindungsstörungen.
Für diese Patientengruppe haben wir eine Eltern-KindEinheit konzipiert, in der psychisch kranke Mütter
(Väter) und Kleinkinder zwischen 0 und 5 Jahren aufgenommen werden können. Dieses Behandlungsangebot ist eingebettet in eine Psychotherapiestation der
Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und hat als therapeutische Basis eine interdisziplinäre Zusammenarbeit
von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie und Pädiatrie.
Spezifische Indikation
und klares Behandlungssetting
Entscheidend für die gemeinsame Aufnahme ist die
Fähigkeit der Eltern, sich ihrem Kind noch ausreichend
zuwenden zu können. Selbstverständlich stehen die Mitarbeiter des Pflegeteams 24 Stunden für notwendige
Unterstützungsangebote zur Verfügung.
Die Therapie der Eltern-Kind-Beziehung steht durch spezifische Eltern-Kind-Therapieformen (z.B. Video-Interventionstherapie [VIT] nach G. Downing oder M. Papouszek [6]) immer im Mittelpunkt des Behandlungssettings.
Für die stationär behandelten Elternteile steht zudem
das psychotherapeutische Behandlungsangebot der Erwachsenenpsychiatrie (Einzelpsychotherapie, Gruppentherapien, Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapie,
Entspannungsverfahren und TCM) zur Verfügung, für die
Kinder verschiedene Kindertherapieangebote (Spiel- und
Musiktherapie, Psychomotorik, div. Fördertherapien).
Die Pädiatrie ergänzt das Angebot durch regelmässige
Visiten und die Behandlung allfälliger somatischer
Probleme.
Am Nachmittag werden die Kinder durch Kleinkinderzieherinnen in einer Kindergruppe betreut, wodurch
die soziale Interaktion auf Kinderebene wesentlich gefördert wird.
Neben den spezifischen Therapieangeboten arbeitet
unser Pflegepersonal und eine Sozialpädagogin im
24-Stunden-Alltag auf Station im Sinne eines «interactional Coaching» gezielt mit den Patienten an individuellen Zielen, z.B. adäquate Begleitung der Einschlafoder Essenssituation, gemeinsames Spielen oder
Reduktion von Impulsdurchbrüchen im Alltag erlernen.
Selbstverständlich ist der Einbezug der Väter oder
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anderer wichtiger Bezugspersonen im Umfeld des
Kindes.
Durch regelmässigen Austausch des gesamten Teams
und Therapieplanungen werden die patientenspezifischen Inhalte aus den einzelnen Therapien im Sinne
des integrativen psychoanalytischen Behandlungskonzeptes nach Jannssen [6] zusammengetragen und den
Patienten rückgemeldet. Das Team dient als therapeutisches Subjekt, wodurch Spiegelphänomene genutzt
und fragmentierte, dissoziierte oder abgespaltene Erfahrungsbereiche der Patienten wahrgenommen und
integriert werden können. Interdisziplinär wird der
therapeutische Fokus auf den drei Ebenen Psychotherapie der Patientin, indizierte Therapieangebote für
das Kleinkind und Therapie der Eltern-Kind-Beziehung
festgelegt.
Die durchschnittliche Behandlungsdauer liegt bei 3 Monaten, was den Erfahrungen aus anderen Zentren entspricht [7, 8].
Unsere bisherige, klinische Erfahrung zeigt eine rasche
Gesundung seitens der Kinder und auch eine Beschleunigung der Gesundung der Elternteile. Durch die gemeinsame Behandlung der Mütter (Väter) und Kleinkinder
haben wir die Möglichkeit, deren Beziehung direkt und
im sozialen Kontext der Station zu fördern.
Die einzelnen Behandlungsmodule ergänzen sich thematisch und greifen ineinander über. Im Sinne systemischer
Theorien beeinflussen intrapsychische Veränderungen
beim Kind und dem Elternteil direkt deren Beziehung,
aber auch die intrapsychische Verfassung des Kindes
und des Elternteils bzw. des gesamtfamiliären Systems.
geschlossen. Das intuitive Wissen um Elternschaft ist
zusätzlich durch eine eigene psychische Erkrankung
blockiert und oft noch durch familiäre Konflikte verschärft. Die Grundmatrix der menschlichen Entwicklung,
die sich über Beziehung vermittelt, ist dadurch gefährdet.
Das Milieu auf Station mit den therapeutischen Angeboten, gemeinsamen Alltagsaktivitäten, die Beziehung
der Mütter (Väter) untereinander, die Gespräche, das
Spielen und Essen mit den Kindern und die Kindergruppe führen zu einem neuen sozialen Erleben, das
eine umfassende Heilung ermöglicht. Dabei erleben
sich die betroffenen Familien im bestätigenden Spiegel
der Gemeinschaft auf Station nicht mehr isoliert, sondern
möglicherweise im Sinne von van Schaik erstmals als
«cooperative breeders».
Eine schwer depressive Mutter eines 2-jährigen Mädchens, welche nach der Geburt bis zum Klinikeintritt
keine Beziehung zu ihrer Tochter aufbauen konnte,
drückte dies so aus:
«Hier habe ich mein 2. Wochenbett erlebt, durch all die
Therapien, Erfahrungen und Begegnungen auf der Station habe ich meine Tochter endlich lieben gelernt.»
«Cooperative breeding»
auf einer psychiatrischen Station?
Empfohlene Literatur
Elternschaft ist verknüpft mit hohen gesellschaftlichen
Erwartungen und Idealen. Ein mögliches Scheitern ist
mit enormer Scham und Schuld verknüpft. Viele unserer
betroffenen Familien sind sozial isoliert und vom transgenerativen Wissen, wie eine Familie zu führen ist, ab-
Korrespondenz:
Dr. med. Silvia Reisch
Leitende Ärztin Bereich Frühe Kindheit
Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst
des KantonsThurgau
CH-8596 Münsterlingen
[email protected]
– Schaik Carel aus einem Interview mit C. v. Schalk. Wir sind Affen,
aber doch ganz anders. In: «und Kinder», Marie Meierhofer Institut
für das Kind, Zürich, 2009.
– Mattejat F, Wüthrich C, Remschmidt H. Kinder psychisch kranker
Eltern. Nervenarzt. 2000;71:164–72.
– Reck C, et al. Mutter-Kind-Behandlung bei postpartalen Störungen im
internationalen Vergleich. Fortschr Neurol Psychiatr. 2006;74:503–10.
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie unter
www.medicalforum.ch
Schweiz Med Forum 2010;10(1–2):16
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Kinder- und Jugendpsychiatrie: Stationäres Behandlungsangebot
für Kleinkinder und ihre psychisch kranken Eltern. «Cooperative
breeding» auf einer psychiatrischen Station? /
Psychiatrie de l’enfant et de l’adolescent: Proposition de traitement
en milieu hospitalier pour petits enfants et leurs parents malades
psychiques. «Cooperative breeding» dans un service de
psychiatrie?
Weiterführende Literatur (Online-Version) / Références complémentaires (online version)
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Schaik Carel aus einem Interview mit CvSchalk. Wir sind Affen, aber doch ganz anders. In: «und Kinder», Marie
Meierhofer Institut für das Kind, Zürich, 2009.
Mattejat F, Wüthrich C, Remschmidt H. Kinder psychisch kranker Eltern. Nervenarzt. 2000;71:164–72.
Finzen A. Der Verwaltungsrat ist schizophren. In: Psychose und Stigma. 2. Auflage. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2001.
S. 7–10.
Reck C, et al. Mutter-Kind-Behandlung bei postpartalen Störungen im internationalen Vergleich. Fortschr Neurol
Psychiatr. 2006;74:503–10.
Janssen PL. Psychoanalytische Therapie in der Klinik. Stuttgart: Klett-Cotta; 1987. Seite 133–8.
Papouszek M. Einsatz von Video in der Eltern-Säuglings-Beratung und Psychotherapie. Prax Kinderpsychiat.
2000;49:611–27.
Hartmann HP. Stationär-psychiatrische Behandlung von Müttern in der Psychiatrie. Prax Kinderpsychol
Kinderpsychiat. 2001;50:537–51.
Kilian H, Abendschein B, Wagner B, Oelrich C. Eltern-Kind-Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie. Nervenarzt.
2003;74:779–84.
Zugehörige Unterlagen
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