Psychische und soziale Folgen chronischen Alkoholismus

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M E D I Z I N
Serie: Alkoholismus
Michael Soyka
Zusammenfassung
Psychische und soziale Schäden gehören zum
klinischen Bild des chronischen Alkoholismus.
Zu den häufigsten Folgeschäden zählen neben
einer hirnorganischen Leistungsminderung Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, kognitiver Leistungsgeschwindigkeit,
visuell räumlicher Wahrnehmung und Abstraktionsvermögen sowie organische Persönlichkeitsveränderungen im Sinne einer zunehmenden Entdifferenzierung und Nivellierung (Deprivation). Häufig übersehen wird die Komorbidität von Alkoholismus mit psychischen Störungen, zum Beispiel affektiven Erkrankungen,
Angsterkrankungen oder Schizophrenie. Die
sozialen Auswirkungen betreffen insbesondere
die Bereiche Familie, Arbeit und Öffentlichkeit.
Familien Alkoholkranker sind häufig zerrüttet;
den Kindern fehlen positive Leitfiguren. Neben
alkoholassoziierten Arbeitsunfällen führt chronischer Alkoholismus im Berufsleben zu häufigen Krankheitstagen. Entlassungen und Arbeitslosigkeit sind oft die Folge. Besonders markant ist die Bedeutung des chronischen Alkoho-
B
ei der Alkoholabhängigkeit handelt
es sich um eine in aller Regel chronische oder chronisch rezidivierende Erkrankung, die nicht nur durch eine
übersteigerte Trinkmenge, sondern gerade auch durch die körperlichen, somatischen und sozialen Folgeschäden charakterisiert ist (18, 20, 21). So führen sowohl ICD-10 (Diagnose: Abhängigkeitssyndrom F10.2) sowie das DSM-IV der
American Psychiatric Association unter
den diagnostischen Leitlinien psychische
und soziale Folgeschäden als ein diagnostisches Kriterium auf. Die ICD-10
nennt dazu unter anderem „fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des
Substanzkonsums... anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen...“; das DSM-IV
führt an: „Wichtige soziale berufliche
oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzmissbrauchs aufgegeben oder eingeschränkt...“
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Psychische und
soziale Folgen chronischen
Alkoholismus
lismus auf die Delinquenz, einschließlich Verkehrsdelikten. Etwa jede vierte Gewalttat und
17 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle erfolgen unter Alkoholeinfluss. Zu einer effektiven
Diagnostik und Therapie des Alkoholismus ist
neben der Feststellung somatischer Befunde
die Erfassung psychischer und sozialer Folgen,
auch für die Langzeitprognose, bedeutsam.
Schlüsselwörter: Alkohol, Alkoholabhängigkeit, Arbeitswelt, psychische Schäden, Delinquenz
Summary
Psychiatric and Social Consequences
of Chronic Alcoholism
Psychiatric and social consequences of chronic
alcoholism are frequent complications in the
course of the disorder. Cognitive dysfunction
with impairment of memory and attention,
among others, and changes of personality with
decline of personal integrity and deprivation
are severe consequences of alcoholism as are
the social consequences for family, employ-
Die einzelnen bei Alkoholkonsum
auftretenden Folgeschäden sind so
zahlreich, dass sie sich auch einer summarischen Aufzählung fast entziehen
(3, 18, 20). Im Folgenden wird eine kurze Synopsis der wichtigsten sozialen
und psychischen Folgen gegeben.
Psychische Folgen
Die durch Alkohol induzierten psychischen Verhaltensstörungen sind zahlreich. Einige distinkte neuropsychiatrische Folgeschäden, wie sie bei Alkoholismus häufig auftreten, sind von komorbid vorliegenden psychischen Störungen
sowie eher generellen psychosozialen
Folgen des Alkoholismus zu differenzieren. Zu nennen sind die verschiedenen
Formen von Alkoholintoxikationen,
Psychiatrische Klinik (Direktor: Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Möller) der Ludwig-Maximilians-Universität, München
ment, public and delinquency. The comorbidity
of alcoholism with affectice disorder, anxiety
or schizophrenia is frequently overlooked.
Both family members and collegues at the
workplace may on one hand function as a
co-alcoholic in a desperate effort to control the
alcohol intake and avoid negative consequences for the individual and on the other hand
may suffer from the consequences of continuous alcohol intake. Children of alcoholics
often grow up in broken homes without
orientation. Alcoholism has major impact on
delinquency and traffic safety. Approximately
every fourth violent act is committed under
the influence of alcohol with significant higher
rates for homicide and manslaughter. 17 per
cent of fatal accidents are a result of alcohol
intoxication. For diagnosis and treatment of
alcoholism the detection of psychiatric and
social consequences of alcoholism are of great
importance. They are also of relevance for the
patient’s prognosis.
Key words: alcohol, alcoholism, working place,
psychiatric consequences, delinquency
Entzugssyndrome mit und ohne Delir,
Krampfanfälle, psychotische Störungen,
durch Alkohol bedingte anamnestische
Syndrome (Synonym: Korsakow-Syndrom) sowie andere, seltener diagnostizierte Folgeschäden, wie zum Beispiel
affektive Störungen oder kognitive Beeinträchtigungen. Die organpathologischen Veränderungen, die mit chronischem Alkoholismus einhergehen, wurden bereits im Zuge dieser Serie in dem
Beitrag „Alkoholassoziierte Organschäden“ von Singer und Teyssen in Heft 33
dargelegt.
Komorbidität mit
psychischen Störungen
Zur Frage der Komorbidität von Alkoholabhängigkeit mit psychischen Störungen liegen eine Reihe recht genauer
Untersuchungen vor. In der breit angelegten US-amerikanischen „epidemiolo-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 42½ 19. Oktober 2001
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gic catchment area (ECA) study“ wiesen
37 Prozent der Personen mit Alkoholabhängigkeit oder -missbrauch eine komorbide psychische Störung auf (15).
Untersuchungen in klinischen Kollektiven ergaben vermutlich aufgrund eines
Selektionsbias noch erheblich höhere
Prävalenzraten für psychische Störungen
(16). Klinisch relevant ist die Differenzierung in primäre (zeitlich dem Alkoholismus vorangehende) oder sekundäre psychische Störungen. Die retrospektive
Einschätzung ist häufig schwierig. Einige
Befunde deuten darauf hin, dass Depressionen bei Alkoholabhängigkeit häufig
eher sekundär auftreten, Angststörungen dagegen öfter primär (2). Die Übergänge sind aber fließend, und die Datenlage ist sehr heterogen (10, 19).
Recht genaue Erkenntnisse zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Alkoholabhängigkeit lieferte die Münchener
Follow-up-Studie (1), die auf einer ursprünglich 1974 gezogenen Bevölkerungsstichprobe basiert. Ein Teil dieser
Stichprobe wurde 1981 für eine zweite
Untersuchung herangezogen (n=455).
Dabei ergaben sich folgende Häufigkeiten für komorbide psychische Störungen bei Alkoholabhängigkeit: Phobien
traten bei 14,7 Prozent der Alkoholabhängigen auf, Panikstörungen bei 8,7
Prozent, Dysthymien bei 6,8 Prozent,
majore Depressionen bei 9,8 Prozent,
(andere) Substanzstörungen bei 5,9
Prozent, Somatisierungsstörungen bei
2,0 Prozent, Zwangsstörungen bei 1,0
Prozent. 29 Prozent der Personen mit
Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit
wiesen mindestens eine weitere psychische Störung auf im Vergleich zu 22,5
Prozent der Kontrollen. Auffallend
erhöhte Prävalenzen ergaben sich
gegenüber den nichtalkoholkranken
Personen insbesondere für Panikstörungen (Vergleichsgruppe 1,3 Prozent), Dysthymien (Vergleichgruppe
3,3 Prozent) und Substanzstörungen
(Vergleichsgruppe 1,5 Prozent).
Andere Befunde deuten darauf hin,
dass Patienten mit Schizophrenie ein
überaus gesteigertes Risiko für Substanzmissbrauch haben. Dies wurde sowohl in klinischen Kollektiven als auch
in epidemiologischen Untersuchungen
wie zum Beispiel der oben erwähnten
ECA-Studie gefunden. Dabei betrug
die Prävalenzrate für Alkoholmiss-
brauch und -abhängigkeit bei Schizophrenen über 30 Prozent und war gegenüber der übrigen Bevölkerung etwa
vierfach erhöht. Auch andere klinische
und epidemiologische Untersuchungen
stützten diesen Befund (21).
Laufende Untersuchungen wie die
Studie „early developmental stages of
psychopathology (EDSP)“ in München
sowie die Studie „transitions in alcohol
consumption and smoking (Tacos) in
Lübeck können weitere Erkenntnisse
zur Komorbidität von Alkoholismus
mit psychischen Störungen liefern.
Neben affektiven Störungen können
eine Reihe von kognitiven Defiziten
nach chronischem Alkoholkonsum auftreten. Aus einer Vielzahl von Untersuchungen ist bekannt, dass Alkohol zu
ausgeprägten strukturellen und funk-
14). Kognitive und visomotorische Defizite sind unter Abstinenzbedinungen,
teilweise aber nicht immer, reversibel.
Dazu gehören zum Beispiel Gedächtnisdefizite, Beeinträchtigungen von
Aufmerksamkeit und kognitiver Leistungsgeschwindigkeit sowie Abstraktionsvermögen und visuell-räumliche
Wahrnehmung (12, 14).
Einige andere bei Alkoholabhängigkeit vorliegende psychosoziale Folgeschäden lassen sich quantitativ nur
schwer erfassen, spielen aber für die
Prognoseeinschätzung und Therapie
Alkoholkranker eine große Rolle. Dazu gehören vor allem bei chronischen
Alkoholikern eine zunehmende Deprivation sowie Änderungen der Persönlichkeit im Sinne einer zunehmenden
Entdifferenzierung und Nivellierung
Grafik 1
Täterkriterien beim aufgeklärten Fall: Alkoholeinfluss 1997 (aus 16)
tionellen Veränderungen im Nervensystem führt, insbesondere zur Schädigung im Bereich des Großhirns, einer
Volumenverminderung im Marklager
und kortikalen Schädigungen, die sich
auch neuroradiologisch (CCT, NMR)
darstellen. Volumenminderungen im
Marklager und Kortex korrelieren nur
bis zu einem gewissen Umfang mit Einbußen der kognitiven Leistungen (11).
Bei ausgeprägten Schädigungen können Störungen des Gedächtnisses und
der Feinmotorik auftreten. Die neuropsychologischen Defizite sind keinem
spezifischen Schädigungsmuster des
Gehirns zuzuordnen. Die Summe der
Befunde spricht für eine leicht- bis
mäßig ausgeprägte eher globale Verschlechterung der Hirnfunktion („mild
generalized dysfunction hypothesis“,
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 42½ 19. Oktober 2001
(„entkernte Persönlichkeit“). Chronische Alkoholkranke fallen häufig durch
eine Vielzahl von psychischen Verhaltensänderungen auf, ohne dass zum
Beispiel differenzierte testpsychologische Untersuchungen klare Beeinträchtigungen etwa im Bereich der Kognition ergeben. Zu diesen typischen Verhaltensmerkmalen gehören eine Einengung der persönlichen Interessen auf
Aufrechterhaltung der Sucht, die bereits angesprochene Vernachlässigung
anderer Interessen und Vergnügen, Defizite im Bereich Körperpflege und Hygiene, eine affektive, mitunter auch sexuelle Enthemmung, auch unabhängig
von dem jeweiligen Grad der Intoxikation. Schließlich kann zu den psychischen Störungen im weitesten Sinne
auch eine erkennbar gesteigerte Ag-
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gressionsbereitschaft durch Verminderung hemmender psychischer Mechanismen sowie eine mehr oder weniger
ausgeprägte Delinquenz kommen.
Soziale Auswirkungen
Soziale Störungen in Folge von Alkoholismus zeigen sich insbesondere in
den Bereichen Familienleben, Arbeit,
Öffentlichkeit und Delinquenz.
Familie
Die Wirkung eines chronischen Alkoholkonsums auf die Partnerbeziehung
und die Familie insgesamt ist sehr komplex. Die Häufigkeit und das Ausmaß
sozialer Störungen bei Abhängigen ist
bislang vorwiegend in der Beratung
und Behandlung Abhängiger thematisiert und untersucht worden, etwa im
Kontext der Einleitung einer Rehabilitationsmaßnahme, die der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit dient. Befunde von Simon und Palazetti (17) zeigen, dass 75 Prozent der weiblichen und
45 Prozent der männlichen Alkoholkranken ein oder mehrere Kinder haben, und dass in 45 Prozent beziehungsweise 30 Prozent der Fälle diese Kinder
auch im Haushalt der Betroffenen leben. 43 Prozent der Alkoholikerinnen
und 37 Prozent der Alkoholiker sind
verheiratet, 23 Prozent beziehungsweise 19 Prozent geschieden.
Sichere Zahlenangaben zum Ausmaß psychischer Störungen bei Kindern von Alkoholkranken liegen nicht
vor. Überträgt man skandinavische
Schätzungen auf Deutschland so würden hier etwa 900 000 bis 1,6 Millionen
Kinder alkoholkranker Eltern leben
(16).
Partner und vor allem Partnerinnen
Alkoholkranker, aber auch andere Familienangehörige (Kinder, Eltern)
übernehmen bei chronischen Abhängigkeitsentwicklungen oft die Führung
und Verantwortung für die Familie.
Parallel zum Abhängigkeitsprozess des
Betroffenen entwickeln die Partner
häufig ein so genanntes Koverhalten
(Koabhängigkeit, Koalkoholiker), indem sie das Verhalten des Betroffenen
stützen, versuchen den Konsum zu kontrollieren, eventuell auch mithelfen, das
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tatsächliche Verhalten zu verschleiern
und gegebenenfalls auch für den Partner lügen. Dies alles führt zu erheblichen Belastungen für die betroffenen
Familienmitglieder und bedingt nicht
selten eigene psychische und physische
Erkrankungen der Angehörigen. Besonders betroffen sind Kinder Alkoholkranker, die oft in einem Klima plötzlicher Stimmungsumschwünge, chronischer Verunsicherung und Angst aufwachsen und es schwer haben, eigene
tragfähige Beziehungen aufzubauen, da
ihnen das Erleben von Verlässlichkeit
fehlt. Häufig werden die Kinder damit
überfordert, indem sie früh Verantwortung für das betroffene Elternteil übernehmen oder überhaupt in eine Erwachsenenrolle hineingedrängt werden, der sie nicht gewachsen sind. Typi-
ten. Sehr stark diskutiert wird in den
letzten Jahren die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch gerade in Familien
von Suchtkranken. Dabei kann der sexuelle Missbrauch später wiederum Bedeutung für einen Substanzmissbrauch
oder andere psychische Störungen der
Kinder haben. Gesichert ist, dass Alkoholkonsum häufig zur Enthemmung
und vermehrter Aggression führt (8).
Mebes und Jeuck (13) nehmen an,
dass 50 Prozent der Mädchen, die von
sexuellem Missbrauch durch einen
Mann in der Familie betroffen sind,
gleichzeitigen Alkoholmissbrauch von
Familienangehörigen erleben. Schätzungen der Mitarbeiter der Suchtkrankenhilfe zufolge sind 30 bis 35 Prozent
der alkoholabhängigen Frauen auch sexuell missbraucht worden. Die Datenlage in diesem Bereich ist aber
außerordentlich komplex.
Grafik 2
Ein besonderes Problem
stellt das fetale Alkoholsyndrom (alkoholische Embryopathie) dar, das in westlichen
Ländern mit Prävalenzraten
zwischen 1:100 und 1:1 000
noch vor dem Down-Syndrom die häufigste Ursache
einer geistigen Retardierung
darstellt. Das Risiko für Alkoholikerinnen, die während
der Schwangerschaft trinken,
ein Kind mit einer alkoholischen Embryopathie zur Welt
zu bringen liegt bei 32 bis 43
Prozent, abhängig von der zugeführten Alkoholmenge und
Alkoholunfälle mit Personenschäden – Vergleich alte versus
dem
Stadium der Chronizität
neue Bundesländer und Ostberlin (aus 16)
(9). Leitsymptome der alkoholischen Embryopathie sind
scherweise ist die Situation der Kinder der pränatale Minderwuchs, verschieAlkoholkranker geprägt durch Unsi- dene körperliche Anomalien, insbecherheit, soziale Isolation und einem sondere im Gesichtsbereich sowie
Gefühl der Ohnmacht. Es muss nicht ei- ZNS- und Verhaltensstörungen, insbegens betont werden, dass die eigentli- sondere eine geistige Retardierung, die
chen Erziehungsaufgaben von alkohol- häufig sehr ausgeprägt sein kann. Aufkranken Eltern häufig nur ungenügend grund eines hohen Informationsdefioder gar nicht wahrgenommen werden zits in der Öffentlichkeit, aber auch im
können. Nicht nur das innerfamiliäre ärztlichen Bereich ist davon auszugeGefüge ändert sich, auch Freundschaf- hen dass viele alkoholische Embryopaten gehen verloren, soziale Kontakte thien nicht oder nicht rechtzeitig erwerden reduziert. Kontrollversuche, kannt werden. Für Deutschland wird
Enttäuschung und Misstrauen prägen nach Angaben des Gesundheitsbedie sozialen Interaktionen.
richts (16) seit 1998 mit immerhin 2 200
Familienangehörige Alkoholkran- Kindern pro Jahr mit Alkoholembryoker sind zudem oft Opfer von Gewaltta- pathie gerechnet.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 42½ 19. Oktober 2001
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Arbeitswelt
Die Bedeutung des Alkoholkonsums für
Störungen am Arbeitsplatz ist evident,
und Arbeitslosigkeit ist ein häufiges Problem für Alkoholkranke. Circa acht Prozent der Erwerbstätigen trinken täglich
während der Arbeit Alkohol, vier bis sieben Prozent aller Berufstätigen sind alkoholabhängig (6). Es lassen sich aufgrund empirischer Studien einige Berufsfelder mit besonders hohem Risiko für
die Entwicklung eines Alkoholismus definieren. Dabei handelt es sich zum einen
um Berufe, die mit der Produktion und
dem Vertrieb alkoholischer Getränke zu
tun haben, um ungelernte Arbeiter, um
so genannte „Durstberufe“ (Gießer,
Köche, Heizer, Glasbläser, Drucker),
aber auch um Metallberufe, Arbeit im
Hafenbereich, so genannte Kontaktberufe (Vertreter, Journalisten, Werbebranche), nicht zuletzt aber auch um
Freiberufler, einschließlich Ärzte und
Apotheker (3).
Aus betriebsärztlicher Sicht ist die
frühe Diagnose eines Alkoholismus
besonders wichtig im Rahmen von Fahr-,
Steuer- und Überwachungstätigkeiten
sowie bei Arbeiten mit Absturzgefahr (6). Die klinische Erfahrung zeigt,
dass zumindest in Großfirmen, die häufig
eigene Suchtberater haben, Alkoholkranke am Arbeitsplatz angesprochen
und entsprechende therapeutische Hilfen angeboten und eingeleitet werden.
Bei chronischem Alkoholismus mit
häufigen Krankheitstagen und nachlassender Arbeitsleistung kommt es, trotz
betrieblicher Suchtprogramme aber oft
zu Kündigungen und Arbeitslosigkeit.
Auch die Zahl der Arbeits- und Hausunfälle unter Alkohol ist erheblich. Alkoholkonsum vermindert die psychische
und kognitive Leistungsfähigkeit, insbesondere die motorische Geschicklichkeit, Koordination und Reaktionsvermögen. Unfälle und Verletzungen sind
häufige Folgen. Klare Zahlen liegen dabei vor allem für Verkehrsunfälle vor.
Zur Beeinträchtigung der Arbeitswelt
durch Alkoholismus können nur sehr ungefähre Schätzungen angegeben werden.
Nach einer Statistik des Bundesdisziplinaranwaltes von Els (5) sind arbeitsrechtlich von 3 060 nicht förmlichen Verfahren 1 025 wegen Alkoholverfehlungen eingeleitet wurden, von den 460
förmlichen Verfahren 277 aufgrund von
Alkoholdelikten.
Im Jahr 1997 wurden wegen Alkoholabhängigkeit oder Alkoholpsychose
(ICD-10-Diagnose) 6 500 Männer und
Frauen frühberentet. Es ist allerdings
davon auszugehen, dass bei vielen Berentungen oft nicht die primäre Grunderkrankung sondern körperliche Folgeerkrankungen angeben werden (zum
Beispiel Leberschädigung). Die Zahl
der Arbeitsunfähigkeitsfälle wegen Alkoholpsychosen oder Alkoholabhängigkeit betrug nach Angaben des Bundesministerium für Gesundheit 1993 rund
92 200 .
Feuerlein (4) stellt fest, dass die berufliche Situation des Alkoholikers in
vielfältiger Weise ungünstig beeinflusst
wird. Die durch Alkohol verursachte
Hirnschädigung und die damit verbundene Wesensänderung führen zu einer
Verlangsamung des Psychomotorik und
des Denkvermögens, zu einem Mangel
an Konzentrationsvermögen, zu einem
Nachlassen der sensorischen und motorischen Funktionen. Ferner kommt es
zu einer Reduktion der Initiative und
der Aktivität und zu weiteren Persönlichkeitsveränderungen wie Unzuverlässigkeit, mangelnde Sorgfalt, Gleichgültigkeit, Gereiztheit und depressive
Verstimmung. Andererseits wirken sie
vielfach (in ihrem Bemühen nicht „aufzufallen“ und das teilweise selbst begangene Fehlverhalten zu kompensieren)
oft „überangepasst“. Die Einengung
des Interessenhorizonts auf den Alkohol führt zu einer Ablenkung von der
beruflichen Tätigkeit und einer Verschlechterung der Identifikation mit
dem Beruf.
Damit ist eine vermehrte Unfallhäufigkeit und ein vermehrtes unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit verbunden. Die Folgen für den Betrieb sind
eine Verlangsamung des Arbeitstempos, ein hoher Verschleiß an Werkzeugen und Material, eine Verminderung
der Produktion in quantitativer und
qualitativer Hinsicht. Schließlich sind
auch noch die erheblichen zwischenmenschlichen Spannungen zu bedenken, die infolge des geschilderten
Fehlverhaltens im Betrieb entstehen.
Dies alles führt zu einer Verunsicherung
der Beziehungen mit den nichtalkoholabhängigen Mitarbeitern und Vorge-
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setzten, die dann zu gleichzeitiger Angst
und Ablehnung führen kann.
Kollegen und andere Mitarbeiter können in ihrem Versuch durch Alkoholmissbrauch bedingte Fehlzeiten des Betroffenen zu decken häufig in die Rolle
eines Koalkoholikers gedrängt werden.
Der Alkoholiker verliert im Verlauf
dieses oft kaskadenförmig fortschreitenden Desintegrationsprozesses seine Autoritätsposition, er wird schließlich zum
Gegenstand einer negativen Stereotypposition, schließlich kommt es zum beruflichen und sozialen Abstieg, der besonders deutlich in qualifizierten Berufen in Erscheinung tritt. Es kann daher
nicht überraschen, dass Arbeitslosigkeit
bei Alkoholismus ein häufiges Problem
ist und die Kosten für die teilweise lang
dauernde Arbeitsunfähigkeit bei Alkoholkranken auf 3,2 Milliarden DM geschätzt wurden (7). Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden durch Alkoholismus wurde sogar auf bis zu 50 bis 80 Milliarden DM geschätzt (7).
Zur Vermeidung alkoholbedingter
betriebswirtschaftlicher Schäden fördern
vor allem Großfirmen und Verwaltungen
Alkoholprogramme insbesondere im
Hinblick auf Prävention und Früherkennung. Diese beinhalten Informationsveranstaltungen, Kontaktaufnahme mit
Fachkrankenhäusern und niedergelassenen Psychiatern, Aufbau von innerbetrieblichen Suchtberatungsstellen, Änderung der innerbetrieblichen Trinkgewohnheiten (Alkoholausschank!) und
Normen (zum Beispiel Verbilligung alkoholfreier Getränke) sowie im Zusammenwirken der Unternehmensleitung
und des Betriebs- und Personalrats auch
ein Alkoholverbot (6). Tatsächlich stellt
die alkoholbedingte Beeinträchtigung
der Arbeitsleistung eine Verletzung der
arbeitsvertraglichen Pflichten des Arbeitnehmers dar, wobei der Krankheitscharakter des Alkoholismus zu berücksichtigen ist, dieser aber nicht grundsätzlich von den arbeitsrechtlichen Konsequenzen entbindet. Alkoholismus ist sozialrechtlich als Krankheit anerkannt.
Für Entgiftungsmaßnahmen zahlt der
Krankenversicherungsträger, die Kosten
von Entwöhnungsmaßnahmen übernimmt in der Regel der Rentenversicherungsträger, allerdings nur auf Antrag.
Eine absichtliche Herbeiführung der Rehabilitationsbedürftigkeit kann zu einer
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Ablehnung der Kostenübernahme durch
die Rentenversicherung führen. Wichtig
ist auch, dass im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung kein Versicherungsschutz besteht, wenn der Alkoholeinfluss die überwiegende Unfallursache
darstellt.
Delinquenz und Verkehr
Umfassende Angaben gibt es zur Bedeutung von Alkoholismus für die Delinquenz und den Zusammenhang von Alkohol und Gewalt. Klein (8) schätzt, dass
täglich mindestens drei Tötungsdelikte
in Deutschland verübt werden, bei denen
der Tatverdächtige unter Alkoholeinfluss steht. Fragen der Alkoholbelastung
spielen bei Schuldfähigkeitsbegutachtungen entsprechend eine große Rolle.
Relativ genaue Daten gibt es zur Häufigkeit von Alkoholeinfluss bei verschiedenen Straftaten (Grafik 1) sowie bei Unfällen mit Personenschäden (Grafik 2).
Der Anteil aller aufgeklärten unter
Alkoholeinfluss begangenen Straftaten
liegt bei etwa sieben Prozent, wobei etwa
jede vierte Gewalttat direkt unter Alkoholeinfluss geschieht (24,3 Prozent aller
aufgeklärten Gewaltdelikte im Jahr
1997). Schwere Delikte, insbesondere
Tötungsdelikte sind in noch höherem
Ausmaße mit dem Einfluss von Alkohol
assoziiert.
8,6 Prozent aller Verkehrsunfälle mit
Personenschäden passieren unter Alkoholeinfluss, wobei die Zahl der bei Verkehrsunfällen mit Alkoholeinfluss getöteten Personen 16,9 Prozent beträgt (Abbildung 2). Alkoholismus spielt also vor
allem bei schweren Unfällen, insbesondere mit letalem Ausgang, eine große
Rolle.
Die Anzahl der Führerscheinentzüge
aufgrund von Trunkenheit im Straßenverkehr zeigt in Ost- und Westdeutschland gegenläufige Trends. So wurden in
den neuen Bundesländern pro 100 000
Einwohner 261 Entzüge der Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Straßenverkehr ausgesprochen gegenüber 148
in den alten Bundesländern. Bezieht
man die Zahl der Unfälle, bei denen Alkohol eine Rolle spielte, auf die Bevölkerungszahl, so zeigen sich in den neuen Bundesländern durchgehend höhere
Werte. Auch die Zahl der Alkoholunfälle mit Personenschäden ist in den alten
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Bundesländern stark rückläufig (1975:
48 346; 1997: 24 168), in den neuen Bundesländern dagegen stark ansteigend
(1975: 3 247; 1997: 8 716) (16).
Die enorme Bedeutung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit zeigt
sich insgesamt in vielen Lebensbereichen. Besonders auffällig ist die Beeinträchtigung von Familien- und Arbeitswelt und der Zusammenhang von Alkohol und Gewalt. Verbesserte Prävention und Therapiemöglichkeiten bei Alkoholismus dürften auch zu massiven
Kosteneinsparungen im Sozialsystem
führen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2732–2736 [Heft 42]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Michael Soyka
Psychiatrische Klinik der
Ludwig-Maximilians-Universität München
Nußbaumstraße 7
80336 München
E-Mail: [email protected]
In der Serie Alkoholismus sind bisher erschienen:
Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1957 [Heft 30]
Das Alkoholproblem in der Medizingeschichte
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Dt Ärztebl 2001; 98: A 1958–1962 [Heft 30]
Alkoholassoziierte Organschäden
Befunde in der Inneren Medizin, Neurologie und
Geburtshilfe/Neonatologie
Prof. Dr. med. Manfred V. Singer,
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Teyssen
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2109–2120 [Heft 33]
Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit
Prof. Dr. med. Karl Mann
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2279–2283 [Heft 36]
Referiert
Screening für familiäre
Hypercholesterinämie
Gezielte Screeningprogramme, basierend auf DNA-Analysen und Cholesterinwertbestimmungen, sind äußerst
effektiv und sinnvoll, um möglichst
früh Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie und deren ebenfalls
betroffene Angehörige erkennen und
adäquat behandeln zu können. Niederländische Forscher veröffentlichten in ihrer Studie die Ergebnisse eines über fünf Jahre durchgeführten
Screening, in dessen Rahmen sie 5 442
Verwandte von 237 Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie auf
krankheitsspezifische LDL-Rezeptormutationen und erhöhte Cholesterinspiegel untersuchten.
Insgesamt wurden 2 039 Mutationsträger identifiziert, und die Therapierate konnte nach Diagnosestellung
innerhalb eines Jahres von 39 Prozent
auf 93 Prozent gesteigert werden. Die
DNA-Analysen erwiesen sich als
wichtiges diagnostisches Kriterium –
18 Prozent der neu entdeckten Fälle
wären nach Bestimmung der Cholesterinwerte allein nicht entdeckt worden.
Während genetische Screeningprogramme und deren mögliche Konsequenzen für den Arbeitsalltag und Versicherungsoptionen potenziell „kranker“ Personen oftmals auf Ablehnung
stoßen, so die Autoren, waren in diesem Fall nur zehn Prozent der möglichen Studienteilnehmer mit der Untergoa
suchung nicht einverstanden.
Umans-Eckenhausen MAW et al.: Review of first 5
years of screening for familial hypercholesterolaemia in
the Netherlands. Lancet 2001; 357: 165–168.
Marina A W Umans-Eckenhausen, Foundation for the
Identification of Persons with Inherited Hypercholesterolaemia, Paasheuvelweg 15, Amsterdam, Niederlande.
Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol
Frühdiagnostik und Frühintervention in der Praxis
Prof. Dr. phil. Ulrich John
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2438–2442 [Heft 38]
Beziehung von Alkoholismus, Drogen
und Tabakkonsum
Priv.-Doz. Dr. med. Anil Batra
Dt Ärztebl 2001; 98: A 2590–2593 [Heft 40]
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 98½ Heft 42½ 19. Oktober 2001
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