Die Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erikson

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Die Theorie der psychosozialen Entwicklung
nach Erikson
Erik Erikson (1902 – 1994) war ein deutsch-US-amerikanischer
Psychoanalytiker. Erikson absolvierte nach dem Besuch des
Karlsruher Bismarck-Gymnasiums ein Studium an einer
Kunstakademie, bereiste Europa und kam in Wien mit Anna Freud
in Kontakt, an deren Schule er als Kunsterzieher eingestellt wurde.
Durch diesen Kontakt wurde sein Interesse an der Psychoanalyse
geweckt: Er gab die Malerei auf, unterzog sich einer Lehranalyse und ließ sich zum
Psychoanalytiker ausbilden. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland
die Macht erlangt hatten, emigrierte Erikson in die Vereinigten Staaten von Amerika
und wurde 1939 US-amerikanischer Staatsbürger. In den USA wurde er - ohne
jemals ein Universitätsstudium absolviert zu haben - Professor für
Entwicklungspsychologie an den amerikanischen Eliteuniversitäten Berkeley und
Harvard. Hier entwickelte und veröffentlichte er sein berühmt gewordenes
Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung.
Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung
Erikson nahm insgesamt acht altersabhängige Entwicklungsstufen an, welche die
Zeit von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter umspannen. Im Folgenden sollen
die ersten fünf Phasen besprochen werden, welche auf die Entwicklung vom
Kleinkind bis zum frühen Erwachsenenalter gerichtet sind. Jede dieser Stufen
(Altersphasen) ist durch eine spezielle Krise bzw. von Entwicklungsaufgaben
gekennzeichnet, die das Individuum bewältigen muss. Wenn die dominante
Problemstellung einer Phase nicht erfolgreich gelöst wurde, bevor Reifungsprozesse
und sozialer Druck die nächste Phase einleiten, wird die Person weiterhin mit diesem
Problem zu kämpfen haben.
1. Stufe: Urvertrauen versus Misstrauen (1. Lebensjahr)
Die Aufgabe dieser Altersstufe ist die Entwicklung von Vertrauen, ohne die Fähigkeit
zu misstrauen völlig zu eliminieren. Wenn Mutter und Vater dem Neugeborenen ein
gewisses Maß an Vertrautheit, Konsistenz und Kontinuität vermitteln können, wird
das Kind das Gefühl entwickeln, dass die Welt – insbesondere die soziale Welt – ein
sicherer Ort ist, dass die Menschen verlässlich und liebevoll sind. Das Kind lernt
durch das Verhalten der Eltern ihm gegenüber auch, dem eigenen Körper und den
dazu gehörenden biologischen Bedürfnissen zu vertrauen.
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Eine mangelhafte Ausbildung dieses Grundgefühls (Vertrauen) hat entsprechend
eine erschwerte weitere Entwicklung zur Folge und führt unter Umständen zu
späterer, spezifischer Verhaltensauffälligkeit. Werden dem Kind Forderungen nach
körperlicher Nähe, Sicherheit, Geborgenheit, Nahrung etc. verweigert, entwickelt es
Bedrohungsgefühle und Ängste, da eine weitgehende Erfüllung dieser Bedürfnisse
lebenswichtig ist. Zum anderen verinnerlicht es das Gefühl, seine Umwelt nicht
beeinflussen zu können und ihr hilflos ausgeliefert zu sein. Hier entsteht die Gefahr
der Etablierung eines Ur-Misstrauens. Es können infantile Ängste des
„Leergelassenseins“ und „Verlassenwerdens“ entstehen sowie Angst vor emotionaler
und körperlicher Nähe.
2. Stufe: Autonomie versus Scham/Zweifel (1. bis 3./4. Lebensjahr)
Die Entwicklungsaufgabe dieser Phase besteht darin, ein gewisses Maß an
Autonomie zu erreichen, während Scham und Zweifel minimiert werden.In dieser
Zeit geschieht die Emanzipation von der Bezugsperson (meist die Mutter), dies wird
unterstützt durch die neuen Fähigkeiten des Gehens, des Sprechens und der
Stuhlkontrolle. Die Problematik der Autonomie und Scham wird in Festhalten und
Loslassen umgeformt. Konkret muss das Kind lernen, Dinge festzuhalten oder
loszulassen. Erikson weist deshalb auch besonders auf die Reinlichkeitserziehung
hin. In dieser Zeit entwickelt das Kind auch Vorstellungen über ”Ich” und ”Du”. Es
lernt, dass es ein Einzelwesen ist.
Folgende Bedingungen tragen zu einer erfolgreichen Bewältigung dieser Phase bei:
• Positive Bewältigung der 1. Stufe: Entwicklung des Urvertrauens bzw.
Vertrauens in die Bezugsperson
• Vertrauen der Bezugsperson in das Kind und seine Fähigkeiten
• Kind muss das Gefühl haben, seine Bedürfnisse durchsetzen zu können
(„Nein“ sagen dürfen)
• Freiraum im Schutz der Geborgenheit (zum Entdecken, Experimentieren…)->
liebevoll Grenzen setzen
• Bedingungslose Liebe und Akzeptanz des Kindes durch die Bezugsperson
(ich bin so wie ich bin, und das ist gut so!) – keine Strafe oder Liebesentzug!
Mögliche Folgen der Nichtbewältigung dieser Entwicklungsstufe:
• Selbstzweifel, starke Selbstkritik
• Scham und Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Bedürfnisse
• Zwanghafte Charakterzüge wie: Kleinlichkeit und Geiz in Bezug auf Liebe,
Geld, Zeit; Betonung von Recht und Ordnung; Übertriebener Perfektionismus
• Fixierung auf die Bezugsperson als Vorbild
• Gefahr des „Mitläufertums“
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3. Stufe: Initiative versus Schuldgefühl (4. bis 6. Lebensjahr)
Initiative bedeutet eine positive Reaktion auf die Herausforderungen der Welt,
Verantwortung zu übernehmen, ein paar Fähigkeiten dazuzulernen, sich nützlich zu
fühlen. Somit steht die Entwicklung des Gewissens und der Moralvorstellungen bei
dieser Phase im Vordergrund. Die Kinder beginnen sich mit ihren Eltern zu
identifizieren und sie wollen von ihnen lernen, kurz gesagt möchten sie so sein wie
Vater und Mutter. In diesem Fall können die Eltern die Stabilisierung der Initiative
sehr gut fördern, indem sie die Kinder ermuntern, ihre eigenen Ideen
auszuprobieren. In dieser Zeit differenziert sich das Kind zunehmend von der Umwelt
und versucht, die Realität zu erkunden, was sich in unzähligen Fragen äußert
ebenso wie im austesten unterschiedlicher Rollen im Spiel. Es soll die Möglichkeit
haben seine Umwelt selbständig zu erforschen. Wir sollten aus diesem Grund
Fantasie, Neugierde und Vorstellungskraft des Kindes akzeptieren und fördern. Dies
ist die Zeit des Spielens. Wie nie zuvor ist ein Kind jetzt fähig, sich eine zukünftige
Situation vorzustellen, eine Situation, die keine Realität ist. Initiative ist der Versuch,
eine solche Nicht-Realität zur Realität zu machen. Doch wenn Kinder sich die
Zukunft vorstellen können, wenn sie planen können, dann können sie auch
verantwortlich sein und schuldig. Es geht also wie bereits erwähnt um eine gesunde
Meisterung der kindlichen Moralentwicklung. Die Grundlage für die Entwicklung des
Gewissens ist gelegt.
Der Fokus liegt stark auf der Bewältigung oder Nichtbewältigung des
„Ödipuskomplexes“. Die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind öffnet
sich und das Kind realisiert die Bedeutung anderer Personen im Leben der Mutter.
4. Stufe: Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
Kinder in diesem Alter wollen zuschauen und mitmachen, beobachten und
teilnehmen; wollen, dass man ihnen zeigt, wie sie sich mit etwas beschäftigen und
mit anderen zusammenarbeiten können. Als Werksinn bezeichnet Erikson
demzufolge das Bedürfnis des Kindes, etwas Nützliches und Gutes zu machen.
Kinder wollen nicht mehr „so tun, als ob“ – jetzt spielt das Gefühl an der Welt der
Erwachsenen teilnehmen zu können eine große Rolle.
Demgegenüber steht in dieser Phase die Entwicklung eines Gefühls der
Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Dieses Gefühl kann sich immer dann
etablieren, wenn der Werksinn des Kindes überstrapaziert wird. Dies ist zum Beispiel
dann der Fall, wenn Eltern und LehrerInnen dem Kind Leistung und Erfolge
abtrotzen, ohne auf Pausen, Abwechslung und das kindliche Tempo zu achten. Auch
Kinder, die mit Leistungsansprüchen der Erwachsenen überfordert werden und sich
schließlich selbst überfordern, scheitern häufig in dieser Entwicklungsphase. Kinder
fühlen sich aus anderen Gründen minderwertig und unzulänglich, wenn ihr Bedürfnis
etwas zu tun "wie die Großen" ständig unterbunden wird aus Sorge oder weil es
Aufmerksamkeit für das kindliche Tun erfordert: Sie haben den Eindruck, „nur“ ein
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unfähiges Kind zu sein, das an der Welt der Großen nicht teilhaben kann, weil es zu
klein, zu schwach und zu unbegabt ist.
Auf beiden Seiten (Werksinn und Minderwertigkeit) können Fixierungen entstehen:
Überkompensation durch Arbeit und Leistung, Anerkennung vor allem über Leistung
zu holen, Arbeits- und Pflichtversessenheit, Angst vor dem Arbeiten und Leisten,
Angst vor Versagen.
5. Stufe: Identität
Erwachsenenalter)
versus
Rollenkonfusion
(Pubertät
bis
frühes
Erikson verlieh dem Jugendalter eine besondere Bedeutung und betrachtete es als
eine entscheidende Phase, um ein Grundgefühl der Identität zu erlangen. Identität
bedeutet, zu wissen, wer man ist und wie man in diese Gesellschaft passt.
Heranwachsende verändern sich in vielerlei Hinsicht so schnell, dass sie sich kaum
selbst erkennen können. Die drastischen körperlichen Veränderungen der Pubertät
und das Entstehen starker sexueller Bedürfnisse gehen mit neuen sozialen
Anforderungen und Zwängen einher, beispielsweise der Notwendigkeit,
Entscheidungen hinsichtlich Ausbildung und Beruf zu treffen.
Gefangen zwischen ihrer vorherigen Identität als Kind und den vielen Möglichkeiten
und Unsicherheiten ihrer Zukunft müssen Heranwachsende die Frage beantworten,
wer sie wirklich sind, oder mit der Frage leben, welche Rolle sie als Erwachsene
spielen sollten. Sie müssen zurechtkommen mit der Ambivalenz zwischen eigener
Identität und der vielfältigen Gesellschaft.
Eine stabile Erwachsenen-Identität zeigt sich hauptsächlich darin, dass der
Jugendliche sich selbst, seine Handlungen und die Ereignisse des eigenen Lebens
annehmen und mit Zufriedenheit und Ausgeglichenheit zu seiner Person, seinem ICH
stehen kann.
Auf dem Weg zu ebendieser Erwachsenen-Identität probieren die meisten
Jugendlichen verschiedene Lebensrichtungen und Rollen (mit Freunden, im Beruf, in
der Schule, in der Familie, mit dem anderen Geschlecht,…) aus, um zu finden, was
für sie wirklich passt. Diese Suche kann nicht selten zur Krise werden. Im Falle einer
länger andauernden „Identitätsverwirrung“ können negative psychische Zustände
auftreten sowie Gefühle wie „ich weiß nicht“ oder „ich gebe auf“. Diese Symptome
verlieren sich aber meistens im Laufe der Zeit während des Wachstumsprozesses.
Positive oder negative Ausgänge der Identitätskrisen äußern sich im emotionalen
Befinden, im Selbstwertgefühl, in den persönlichen Werten sowie im Gefühl, dass
das Leben eine Richtung hat.
Werden die Grundlagen im frühen Kindesalter nicht geschaffen oder wenn die
Vorbilder versagen, gelingt die Integration der Erwachsenen-Identität möglicherweise
nicht und es kann zu einer „Identitätsdiffusion“ kommen. Bleibende Störungen der
bewussten Ich-Identität können auftreten oder es kommt zu einer Flucht in eine
negative Identität. In einer Art Trotzreaktion drängt der Jugendliche in eine Identität,
die dem Bild des Menschen, der Vorbild hätte sein sollen, entgegengesetzt ist, was
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im Normalfall Asozialität oder Kriminalität bedeutet und oft Drogenabhängigkeit
einschließt.
Entwickeln Jugendliche keine stabile Identität, kann daraus auch resultieren, dass sie
zum Spielball einer Ideologie werden, mit der sie sich blind identifizieren. Ebenfalls
besteht die Möglichkeit der Isolation, ein sich selbst „nach außen stellen“. Diese
Strategien werden benutzt, um sich die Welt leichter zu erklären, einzuteilen, da
sonst zu viel Verwirrung und Schwierigkeiten auftreten. Es kann mit einer einseitigen
Denkweise leichter eine kurzfristige Lösung gefunden werden, adäquat dem
momentanen Entwicklungsstand.
6. Stufe: Genitalität; Intimität und Solidarität versus Isolierung (frühes
Erwachsenenalter)
Aufgabe dieser Entwicklungsstufe ist es, ein gewisses Maß an Intimität zu erreichen,
anstatt isoliert zu bleiben. Die Identitäten sind gefestigt und in einer Beziehung
stehen sich zwei unabhängige Egos gegenüber. Es gibt viele Dinge im modernen
Leben, die dem Aufbau von Intimität entgegen stehen (z. B. Betonung der Karriere,
großstädtisches Leben, die zunehmende Mobilität). Wird zu wenig Wert auf den
Aufbau intimer Beziehungen (was auch Freunde etc. mit einbezieht) gelegt, kann das
nach Erikson zur Exklusivität führen, was heißt, sich von Freundschaften, Liebe und
Gemeinschaften zu isolieren. Wird diese Stufe erfolgreich gemeistert, ist der junge
Erwachsene fähig zur Liebe. Damit meint Erikson die Fähigkeit, Unterschiede und
Widersprüche in den Hintergrund treten zu lassen. Fixierungen können sich zeigen
in: Selbst-Bezogenheit und sozialer Isolierung, Selbstaufopferung und
Verschmelzung mit anderen.
7. Stufe: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)
Generativität bedeutet die Liebe in die Zukunft zu tragen, sich um zukünftige
Generationen zu kümmern, eigene Kinder großzuziehen. Erikson zählt dazu nicht nur
eigene Kinder zu zeugen und für sie zu sorgen, er zählt dazu auch das Unterrichten,
die Künste und Wissenschaften und soziales Engagement. Also alles, was für
zukünftige Generationen „brauchbar“ sein könnte. Stagnation ist das Gegenteil von
Generativität: sich um sich selbst kümmern und um niemanden sonst. Zu viel
Generativität heißt, dass man sich selbst vernachlässigt zum Wohle anderer.
Stagnation führt dazu, dass andere uns ablehnen und wir andere. Niemand ist so
wichtig wie wir selbst. Wird die Phase erfolgreich abgeschlossen, hat man die
Fähigkeit zur Fürsorge erlangt, ohne sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren.
Fixierungen können sich zeigen: in einer übermäßigen Bemutterung, in Leere und
Langweile oder in zwischenmenschlicher Verarmung.
8. Stufe: Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)
Der letzte Lebensabschnitt stellt den Menschen vor die Aufgabe, auf sein Leben
zurückzublicken. Anzunehmen, was er getan hat und geworden ist und den Tod als
sein Ende nicht zu fürchten. Das Gefühl noch einmal leben zu müssen, vielleicht um
es dann besser zu machen, Angst vor dem Tod, führt zur Verzweiflung. Setzt sich
der Mensch in dieser Phase nicht mit Alter und Tod auseinander (und spürt nicht die
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Verzweiflung dabei), kann das zur Anmaßung und Verachtung dem Leben
gegenüber führen (dem eigenen und dem aller). Wird diese Phase jedoch erfolgreich
gemeistert, erlangt der Mensch das, was Erikson Weisheit nennt - dem Tod ohne
Furcht entgegensehen, sein Leben annehmen und trotzdem die Fehler und das
Glück darin sehen können. Fixierung zeigt sich in Abscheu vor sich und anderen
Menschen, unbewusste Todesfurcht.
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