ein Kommentar Cornelia Lang Berufliche Selbständigkeit

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Rüdiger Pohl
Auf dem Wege zum EURO: Besonnenheit wahren!
- ein Kommentar
Cornelia Lang
Berufliche Selbständigkeit
- Königsweg oder Notlösung?
Gerhard Heimpold
Regionale Disparitäten bei der Errichtung neuer
Produktionskapazitäten in Ostdeutschland
Thomas Linne/C/audia Löhnig
Zahlungsbilanzkrisen in Transformationsökonomien:
Das Beispiel Tschechien
Kommentar
Auf dem Wege zum EURO: Besonnenheit wahren!
Auf dem Wege zum EURO herrscht das Chaos. Kontroversen um Goldreserven, Stabilitätspakt, europäische Beschäftigungsinitiativen schüren das ebenso wie der rational kaum mehr nachvollziehbare Streit um
Auslegung und Bedeutung der Fiskalkriterien. Ob und wann und mit wem der EURO kommt, ist ungewisser
denn je – zur Freude der EURO-Gegner, zum Schaden für Europa. Wenn nicht Emotionen und Vorurteile
ausschlaggebend bleiben, sondern sachliche Abwägung gewinnt, sollte aber klar sein: die Währungsunion muß
am 1. Januar 1999 beginnen; Italien, Spanien, Portugal sollten dabei sein.
Die guten Gründe für den EURO sind unverändert gültig. Nachdem sich Europa mit dem Binnenmarkt
1992 und der Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Arbeitsmärkte für das Zusammenwachsen entschieden hat, ist die Vereinheitlichung der Währungen der konsequente nächste Schritt. Mit der Beseitigung
aller Wechselkursrisiken innerhalb der Währungsunion werden die Voraussetzungen für eine wachstumsfördernde Arbeitsteilung in Europa nachhaltig verbessert. Auf diesen Vorteil zu verzichten, wäre unklug.
Die Gleichsetzung einer „weiten Währungsunion“ mit einem „weichen EURO“ basiert auf einer Unterstellung: daß die europäischen Staaten, vor allem die südeuropäischen, an einer inflationären Aushöhlung des
EURO interessiert sind. Schon einmal, 1979, hat sich so mancher geirrt, als dem damals etablierten Europäischen Währungssystem (EWS) eine inflationäre Zukunft vorausgesagt wurde. Statt dessen hat Europa,
auch der Süden, gelernt, daß sich mit einer weichen Währung keine Probleme lösen lassen. Das ist der Grund
für den beispiellosen Rückgang der Inflation, und es ist die Basis für einen stabilen EURO.
Wer den EURO schon vorab weich redet, unterstellt den Mitgliedern der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB), daß sie sich trotz der vom Maastricht-Vertrag gewährten Unabhängigkeit zum Werkzeug
uneinsichtiger europäischer Politiker machen lassen und deren Drängen nach monetärer Laxheit nachgeben.
Das institutionelle Selbstinteresse der EZB steht dagegen. Schon allein um Reputation als unabhängige Institution zu erringen, wird sich die EZB den Einflüsterungen von außen erwehren. Es darf aber auch nicht sein,
daß die EZB für sakrosankt erklärt wird. Natürlich bleibt es das Recht von Öffentlichkeit und Regierungen,
sich mit der Geld- und Währungspolitik der EZB auseinanderzusetzen, auch kritisch. Ein Unfehlbarkeitsdogma steht der EZB ebensowenig zu wie der Bundesbank.
Ob Italien, Spanien, Portugal für die EWU „reif“ sind, hängt vom Grad der Stabilität ihrer Wechselkurse
ab, denn sie treten ja einer Festkurszone bei, in der es keine Wechselkursänderungen mehr gibt. In den letzten
zwei Jahren sind die Wechselkurse der südlichen Währungen in der Tat stabilisiert worden. Ob damit schon
der Markttest auf nachhaltige Stabilität erfüllt ist, mag strittig sein. Sicherlich wäre ein längerer Zeitraum
praktizierter Wechselkursstabilität vorteilhaft gewesen. Aber im Startjahr 1999 würde die Phase der Stabilität
– vorausgesetzt sie setzt sich fort – bereits über drei Jahre anhalten, ein vertretbarer Zeitraum.
Die unsägliche Debatte um die Fiskalkriterien droht den Weg zum EURO zur Sackgasse werden zu lassen.
Es ist kaum nachvollziehbar, daß auch kundige Politiker immer wieder „3,0“ als Obergrenze für die
Staatsdefizite (in prozentualer Relation zum Bruttosozialprodukt) beschwören, obwohl diese Zahl nicht in
Maastricht vereinbart wurde und es keinen ökonomischen Grund gibt, weshalb ein temporär höheres Defizit –
3,2 oder gar 3,5 Prozent – für die Währungsunion disqualifiziert. Währungspolitisch stellen Staatsdefizite
keine Gefahr dar, weil sie nicht durch die EZB finanziert werden dürfen. Hier scheint der EURO nur als Vehikel mißbraucht zu werden, um andere Ziele, harte Konsolidierung etwa, durchzusetzen.
Wir sind dabei, allem Unbehagen an Europa („überbürokratisiert“, „kostspielig“, „zentralistisch“) den einen Namen zu geben: „EURO“. Bleiben wir besonnen! Die europäische Integration, auf die wir wirtschaftlich
und politisch angewiesen sind, muß gesichert werden. Das heißt in der Währungsfrage: auf Kurs bleiben hin
zur Europäischen Währungsunion im Jahre 1999. Ein Verzicht auf den EURO, auch eine Verschiebung, löst
keinerlei Probleme; es würde aber Europa zurückwerfen.
Rüdiger Pohl
2
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Berufliche Selbständigkeit – Königsweg oder Notlösung?
Der Status selbständigen Unternehmertums
scheint für junge Menschen in Ost und West eine
erstrebenswerte Variante beruflicher Existenz zu
sein. Zu diesem Schluß kann man gelangen, betrachtet man die Umfrageergebnisse der Jugendforschung. Zwischen dem geäußerten Wunsch nach
beruflicher Selbständigkeit und tatsächlicher Realisierung klafft allerdings eine beträchtliche Lücke.
Es erscheint daher notwendig, das Bedingungsgefüge für dieses Erwerbsmuster etwas genauer zu
betrachten. Die Motive für die Selbständigkeit lassen sich unterscheiden in „Gründungen aus einer
Ökonomie der Not“ und „Gründungen aus einer
Ökonomie der Selbstverwirklichung“. Für beide
Motivationen lassen sich Belege finden. Es mehren
sich aber die Anzeichen dafür, daß der Weg in die
Selbständigkeit vor allem in Ostdeutschland eine
eher unfreiwillige Anpassungsstrategie an die prekären Arbeitsmarktverhältnisse ist. Auf der anderen Seite geht es aber auch um die Entstehung und
Entwicklung eines innovativen Mittelstandes; ein
Prozeß, der vor allem für die neuen Bundesländer
als nachholende Modernisierung von Bedeutung
ist.
Große Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Ergebnisse einer von der Bundesregierung in
Auftrag gegebenen und von EMNID durchgeführten Studie „Jugend-Wertebarometer“ vom Dezem-
ber 1996 lassen aufhorchen: Als bevorzugten Berufsstatus geben 56 vH der befragten 1.998 Jugendlichen in ganz Deutschland im Alter von 14 bis 29
Jahren an, sie strebten danach, Selbständige zu
werden. Damit rangiert dieser Status deutlich vor
einem Angestelltenverhältnis (23 vH) und einer
Verbeamtung (21 vH). Leider vermittelt das von der
Pressestelle des Bundesministeriums für Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Technik (BMBF) herausgegebene Material keine genaueren Aussagen
über Differenzierungen beispielsweise nach Geschlecht, Altersgruppen und aktuellem Status der
Befragten, die den Weg in die berufliche Selbständigkeit anstreben. Detailliertere Informationen waren auch auf Nachfrage nicht zugänglich.
Zieht man andere Untersuchungen bzw. Daten
der amtlichen Statistik heran, so zeigt sich, daß es
offensichtlich eine große Lücke zwischen dem
Wunsch nach beruflicher Selbständigkeit und tatsächlich realisierter gibt. So weisen beispielsweise
die Daten der Stichprobe des Sozio-ökonomischen
Panels von 1995 aus, daß von den dort erfaßten
unter 30jährigen 2,9 vH den Status Selbständige
haben, erweitert man die Altersgruppe bis 35 Jahre, so werden es 3,6 vH.
Als junge Selbständige werden im Folgenden
Personen bezeichnet, die zum Gründungszeitpunkt
nicht älter als 35 Jahre waren. Ihren in der amtlichen Statistik ausgewiesenen Anteil an allen Selbständigen 1995 zeigt die Tabelle 1. Unter den Be-
Tabelle 1:
Anteil der 20- bis 35-jährigen Deutschen an den Selbständigen in Ost- und Westdeutschland
20 bis 25 Jahre
25 bis 30 Jahre
30 bis 35 Jahre
absoluta
relativa
absolut
relativ
absolut
relativ
Alte Bundesländer
männlich
weiblich
Insgesamt
24.000
10.000
34.000
1,2
0,5
0,9
121.000
48.000
169.000
4,2
1,8
3,0
231.000
90.000
321.000
7,5
3,1
5,4
Neue Bundesländer
männlich
weiblich
Insgesamt
5.000
3.000
8.000
1,1
0,8
0,9
26.000
10.000
36.000
4,5
1,9
3,3
46.000
19.000
66.000b
6,7
3,0
5,0
a
Dargestellt ist die Zahl der Selbständigen in der jeweiligen Altersgruppe und der prozentuale Anteil Selbständiger an der jeweiligen Bevölkerungszahl der
zugrunde gelegten Altersgruppe. – b Die Differenz ergibt sich aus der Tatsache, daß bei einzelnen Posten kleine Fallzahlen nicht berücksichtigt wurden, in
die Gesamtsummen wurden sie aber einbezogen.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 1995; Berechnungen des IWH.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
3
griff „Selbständige“ fallen im Mikrozensus freiberuflich Tätige, Ein-Personen-Unternehmen und Unternehmen mit mehreren Angestellten, jedoch nicht
mithelfende Familienangehörige.
Insgesamt gab es 1995 demnach 110.000 junge
Selbständige im Osten und 524.000 im Westen.
Der Vergleich der Prozentzahlen zeigt, daß die
Anteile junger Selbständiger in den neuen und alten
Bundesländern einander sehr ähnlich sind. Für die
alten Bundesländer weist die Statistik für den Zeitraum der letzten 20 Jahre eine geringfügige Verjüngung des Selbständigenbestandes aus.
Unterschiede zwischen jungen Selbständigen in
beiden Teilen Deutschlands bestehen jedoch in den
Wirtschaftszweigen, wie aus Tabelle 2 hervorgeht.
Tabelle 2:
Anteil der Selbständigen bis 35 Jahre an allen Selbständigen nach Wirtschaftsbereichen in den alten
und neuen Bundesländern
- in vH Bereich
Alte
Bundesländer
Neue
Bundesländer
17,1
–a
Produzierendes Gewerbe
20,0
18,9
Handel, Verkehr,
Nachrichtenübermittlung
20,3
26,1
22,3
23,7
Landwirtschaft,
Forstwirtschaft,
Fischerei
Übrige
Wirtschaftsbereiche
a
Keine Angabe, da Zahlenwert nicht sicher genug.
Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 1995, Berechnungen des IWH.
Der Anteil junger Selbständiger in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei ist in den
neuen Bundesländern so gering, daß ihn der Mikrozensus nicht ausweist. Das unterstreicht die Spezifik und Dynamik der Gründungsprozesse in Ostdeutschland, denn die jungen westdeutschen Landwirte sind durch Besitzvererbung gewissermaßen
schon „vorprogrammiert“.
Selbständigkeit in den neuen Bundesländern als
Beitrag zum Aufbau Ost
Für die neuen Bundesländern ist die rasche Neukonstituierung des Mittelstandes eine ganz erstaunliche Entwicklung, war der Status Selbständiger für
DDR-Verhältnisse doch eher untypisch. Es gab hier
gewissermaßen nur noch Restbestände und es ent-
4
steht jetzt wieder eine neue soziale Struktur, durchaus im Sinne einer nachholenden Modernisierung.
In der DDR galten Selbständige als kleinbürgerliche Rudimente kapitalistischer Sozialstruktur und
so wurden sie folgerichtig systematisch verdrängt.
Das hatte aber nicht nur sozialstrukturelle Folgen,
sondern auch wirtschaftliche. Die Betriebsgrößen in
der DDR entwickelten sich immer weiter in Richtung Großbetriebe/Kombinate. Eine flexible und innovative Struktur von Klein- und Mittelbetrieben
wurde schon im Ansatz verhindert. Im Jahr 1989
betrug der Anteil von Betrieben mit unter 100 Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland
17,1 vH, dagegen in der DDR noch 1 vH. Hinzu
kam eine altersschiefe Verteilung unter den übriggebliebenen, geduldeten Selbständigen zugunsten
der Älteren. Vor diesem Hintergrund muß der Prozeß der Gründung selbständiger Unternehmen in
Ostdeutschland, der bereits ab Jahresende 1989 einsetzte, zunächst als beeindruckend bezeichnet werden. Von 1989 bis 1996 stieg die Zahl Selbständiger und mithelfender Familienangehöriger auf dem
Gebiet der DDR bzw. der neuen Bundesländer von
187.000 auf 539.000.1
Die Entwicklung der selbständigen Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern ist insbesondere
aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Zusammenhängen heraus von Interesse. So kann man
mit dem Schritt in die Selbständigkeit auf eine Entlastung des Arbeitsmarktes hoffen, aber auch einen
Anschub und eine Innovationsfunktion für die Wirtschaft durch klein- und mittelständische Unternehmen erwarten. Für den wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland sind Selbständige
unverzichtbar.
Auf der Individualebene eröffnen sich neue berufliche Entfaltungsmöglichkeiten, die bisher verwehrt waren, aber auch die Möglichkeit individueller Lösungswege aus schwierigen arbeitsmarktpolitischen Situationen.
Neue Selbständige als heterogene Gruppe
In den neuen Bundesländern ist der Übergang in
die wirtschaftliche Selbständigkeit ein Prozeß, der
im Zusammenhang mit den gesamtgesellschaft-
1 Quelle: STATISTISCHES BUNDESAMT, Tabellensamm-
lung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neuen
Bundesländern, Ausgabe 2/97.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
lichen Umbrüchen steht. Diejenigen Ostdeutschen,
die seit 1989 den Weg in die berufliche Selbständigkeit gegangen sind und den Kern der neuen Selbständigen bilden, stammen aus allen sozialen
Schichten. Der neu entstehende Mittelstand Ost rekrutiert sich darüber hinaus noch aus anderen Herkunftsgruppen: „alte“ Selbständige, Rückkehrer,
Westdeutsche, die im Osten ein Unternehmen gründen und Ausländer.2
Die Selbständigen stellen sich als unterschiedlich
beschriebene Kategorie dar. So umfassen sie die
selbständigen Landwirte, Freiberufler (hier finden
sich viele akademische Berufe wie Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten u.ä.), Handwerker und Gastronomen. Es gehören auch die Schein-Selbständigen dazu, die wirtschaftlich von einem einzigen
Unternehmen abhängig und inhaltlich weisungsgebunden sind.
Für die erste Generation der Selbständigen in
Ostdeutschland ergeben sich einige Besonderheiten:
Die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ermöglichte es, daß potentielle Gründer,
die in der DDR systembedingt an ihrer Entfaltung
gehindert wurden, nun aktiv werden konnten. Andere wiederum wurden durch Freisetzungsprozesse
aus ihren bisherigen Berufsbiographien stark in
Richtung Selbständigkeit gedrängt; das betraf z.B.
Angehörige der Positions- und Funktionseliten in
der DDR und Wissenschaftler.
Welche Motive stehen hinter dem Wunsch nach
Selbständigkeit?
Stellt sich die Frage nach den Motiven für wirtschaftliche Selbständigkeit, so lassen sich Unterscheidungen entlang einer Achse „Gründungen aus
der Ökonomie der Not“ und „Gründungen aus der
Ökonomie der Selbstverwirklichung“ treffen.3 Bei
den Gründungen aus der Not heraus steht dahinter
häufig eine prekäre Situation am Arbeitsmarkt,
drohende oder schon erlebte Arbeitslosigkeit. Die
zweite Motivgruppe wird bestimmt vom Wunsch
2 Vgl. LINDIG, D.; VALERIUS, G.: Neue Selbständige in
Ostdeutschland. Eine Skizze intragenerationaler Mobilität
und der Konturen einer Gruppenkonstituierung, in: Geißler, R. (Hrsg.): Sozialer Umbruch in Ostdeutschland.
Opladen 1993, S. 187 ff.
3 Vgl. BÖGENHOLD, D.: Die Selbständigen. Zur Soziolo-
gie dezentraler Produktion. Frankfurt/M., New York 1985,
S. 219 ff.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
nach unabhängiger selbstbestimmter Lebensgestaltung; Vermischungen beider Motivgruppen sind
nicht ausgeschlossen.
Empirische Untersuchungen zu Existenzgründern in den neuen Bundesländern weisen übereinstimmend aus, daß die wichtigsten Motive der
Wunsch nach der Verwirklichung eigener Ideen und
nach persönlicher Unabhängigkeit sind, aber auch
deshalb berufliche Selbständigkeit angepeilt wird,
weil ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis derzeit nicht realisierbar ist. Exemplarisch läßt sich
das belegen anhand einer Existenzgründerstudie aus
Sachsen-Anhalt.4 In dieser Studie werden die Gründungen von 1990/91 mit denen von 1993/94 verglichen. Während 1990/91 79,4 vH der Befragten aus
einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis heraus
gründeten und 15,6 vH aus der Arbeitslosigkeit
heraus, war 1993/94 fast die Hälf-te der Befragten
vorher arbeitslos. Bei weiblichen Existenzgründern
werden die Veränderungen noch deutlicher: Waren
1990/91 vor der Gründung 79,3 vH abhängig beschäftigt und 15,3 vH arbeitslos, stieg der Anteil
der Gründungen aus Arbeitslosigkeit bis 1993/94
auf 63,7 vH. Obwohl durch diese Tatsachen das
Motiv drohende oder bereits erreichte Arbeitslosigkeit für die Gründungen zunahm, wurde aber auch
von fast der Hälfte der befragten Frauen Selbstverwirklichung als Gründungsmotiv angegeben, was
für die bereits erwähnte Vermischung der Motivgruppen spricht. Für viele der befragten Gründer
war, so ein Fazit der Studie, die unternehmerische
Selbständigkeit nur ein Durchgangsstadium in Ermangelung eines „gesicherten“ Arbeitsplatzes. Dies
wird auch durch folgenden Fakt deutlich: Von denjenigen Befragten, die ihr Unternehmen wieder aufgaben, begründeten das 94,4 vH der betreffenden
Frauen und 66,7 vH der Männer damit, daß sie die
Möglichkeit hatten, in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zu wechseln.
Ganz anders und wesentlich optimistischer ist
der Grundtenor einer Studie, die sich ausschließlich
jungen Unternehmerinnen und Unternehmern in den
neuen Bundesländern widmet.5 Das Institut der
deutschen Wirtschaft Köln (IW) befragte 1995 204 Vgl. CONRAD, G. u.a.: Existenzgründung – Chance und
Al-ternative gegenüber Erwerbslosigkeit. Halle (Saale),
1996.
5 BEYER, H.-J.: Jugend in Ostdeutschland. Köln 1997,
S. 195.
5
bis 35jährige ostdeutsche Selbständige und traf auf
„hochmotivierte und selbstbewußte Unternehmerpersönlichkeiten“.6
Von den in die Studie einbezogenen Unternehmern beschäftigten 80 vH zwischen drei und 50 Arbeitnehmer und bei 11 vH lag die Zahl zwischen einem und zwei Arbeitnehmern. Jeder zweite Betrieb
bildete Lehrlinge aus.
Befragt nach den Gründungsmotiven gaben
58,6 vH der Jungunternehmer und 46,9 vH der Unternehmerinnen an, daß der Wunsch nach Selbständigkeit entscheidend war. Immerhin 20,3 vH der
männlichen und 12,2 vH der weiblichen Befragten
hatten den Familienbetrieb übernommen. Für
14,1 vH der Männer und 18,4 vH der Frauen war
es eine gezielt marktorientierte Entscheidung, weil
man eine Marktlücke erkannt oder eine Produktidee
entwickelt hatte. Die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Wunsch nach Selbständigkeit als Gründungsmotiv und der Bedeutung der Marktidee in
diesem Zusammenhang ist sehr groß und nicht unbedenklich, denn Marktkenntnisse sind für einen
Unternehmensstart immens wichtig. Selbständig zu
werden, weil sich keine andere Beschäftigung anbot, war für 3,1 vH der männlichen, aber 12,2 vH
der weiblichen Befragten ein Motiv zur Unternehmensgründung, also für fast viermal mehr junge
Frauen. Zumindest an dieser Stelle ist eine ähnliche
Tendenz erkennbar wie in der Studie aus SachsenAnhalt. Es bleibt aber in der Studie des IW beim
positiven Gesamteindruck. Ohne diesen generell in
Frage stellen zu wollen, muß aber die einschränkende Bemerkung gemacht werden, daß hier nur
junge Selbständige befragt wurden, deren Unternehmen zum Befragungszeitpunkt „liefen“, d.h.
mindestens schon ein Jahr bestanden. Das befördert
eine positive Sicht auf den eingeschlagenen Weg,
wenn auch für viele Jungunternehmer die Feuertaufe in Form von Betriebsprüfungen, Kreditrückzahlungen u.ä. noch ausstanden. In die Existenzgründerstudie aus Sachsen-Anhalt dagegen
wurden auch Personen einbezogen, die ihr Unternehmen wieder aufgegeben hatten.
90 vH der vom IW befragten Jungunternehmer
waren überzeugt, daß der Weg in die Selbständigkeit richtig war. Die überwiegende Mehrheit der Befragten bewertete auch die weiteren Geschäftsaus6 BEYER, H.-J. a.a.O., S. 167.
6
sichten positiv. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß junge Unternehmer Anfängerfehler machen und Defizite haben, vor allem im kaufmännischen Bereich. In dieser Untersuchung wurde auch
deutlich, daß der Existenzgründerprozeß in Ostdeutschland hier seine besonderen Schwächen hat.
Finanzielle Motive spielen bei den Überlegungen
zu wirtschaftlicher Selbständigkeit natürlich auch
eine Rolle, wenn auch keine zentrale. In der Studie
des IW gaben nur 3 vH der Jungunternehmer an,
daß die Verdienstmöglichkeiten ausschlaggebend
waren. Das schließt nicht aus, daß langfristig eine
finanzielle Verbesserung erhofft und erwartet wird.7
Tabelle 3:
Monatliches Nettoeinkommen Selbständiger 1995
nach Geschlecht in West- und Ostdeutschland
- Angaben in vH Einkommen
in DM
unter 2.200
2.200 bis
unter 4.000
4.000
und mehr
Selbständige West
Selbständige Ost
männlich weiblich männlich weiblich
17,0
49,8
48,0
64,0
34,0
30,8
34,9
25,1
48,9
19,4
17,2
11,0
Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 1995; Berechnungen des IWH.
Aus Tabelle 3 geht hervor, daß bezüglich der
Einkommen Selbständiger in Ost und West von einer Angleichung noch keine Rede sein kann. Hier
spielt sicher eine Rolle, daß alle Selbständigen, also
auch die schon lange etablierten aus den alten Bundesländern, in die Rechnung eingehen. Der deutlich
höhere Anteil von Frauen unter den Geringverdienenden dürfte aus der Branchenverteilung resultieren. Frauen gründen häufiger kleine und kleinste
Unternehmen im Bereich personenbezogener
Dienstleistungen
(Pflegebereich,
medizinische
7 Siehe auch BÜCHEL, F.; PANNENBERG, M.: „Neue
Selbständige“ in Ostdeutschland, in: Mitteilungen aus der
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 25.Jg./1992, S. 544552. Die Autoren gehen davon aus, daß das nutzenmaximierende Individuum in die Selbständigkeit wechselt,
wenn der erwartete Lohn größer ist als in abhängiger Beschäftigung. Sie betonen aber zugleich, daß neben dem
Einkommen auch der Grad an Entscheidungsfreiheit Nutzen stiftet. Anhand der Daten des Sozio-ökonomischen Panels von 1990 und 1991 weisen sie einen positiven Effekt
des Status Selbständigkeit auf die Einkommenszufriedenheit nach.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Dienstleistungen, Kosmetikbranche, Versicherungen
u.ä.), in denen nicht unbedingt die Spitzeneinkommen realisiert werden. Vergleicht man allerdings in
Tabelle 4 die Einkommen der Selbständigen mit denen der abhängig Beschäftigten, so wird deutlich,
daß auch in den neuen Bundesländern in der Spitzenverdienergruppe die Selbständigen stärker vertreten sind als Arbeiter und Angestellte. Ein finanzieller Anreiz als Motiv für Selbständigkeit ist also
durchaus gegeben.
Tabelle 4:
Monatliches Nettoeinkommen 1995 nach Stellung
im Beruf in West- und Ostdeutschland
- Angaben in vH Einkommen Selbständige
Angestellte
Arbeiter
in DM
West
Ost
West
Ost
West
Ost
unter 2.200
26,0
52,5
43,3
59,5
48,5
80,4
2.200 bis
unter 4.000
33,2
31,9
40,0
36,5
48,9
19,3
4.000
und mehr
40,8
15,4
16,7
3,9
2,5
0,4
Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 1995; Berechnungen des IWH.
Gründergeist ist gefragt
Das unterschiedliche Bild, das sich aus den dargestellten Ergebnissen der beiden empirischen Studien ergibt, hat eine Ursache in der methodischen
Anlage, eine andere in den verschiedenen Stichprobenzusammensetzungen. Die Studie aus SachsenAnhalt besitzt den Vorteil, durch zwei Meßpunkte
den Verlauf des Weges in die beruf-liche Selbständigkeit mit allen damit verbundenen Problemen verfolgen zu können. Die Untersuchung des IW liefert
hingegen die Momentaufnahme einer erfolgreichen
Gruppe junger Unter-nehmer, einer Population, auf
der eine Reihe von Hoffnungen ruht, wenn es um
die Zukunft des Mittelstandes geht.
Zu gleichen Einschätzungen gelangen die Autoren aber dann, wenn die Schwächen der Existenzgründungsprozesse in Ostdeutschland thematisiert
werden. Ein großes Handicap ostdeutscher Selbständiger ist die geringe Eigenkapitaldecke. Eine
weitere Schwierigkeit liegt in noch nicht genügend
entwickelten Marktbeziehungen und Netzwerken
und im fehlenden Marktwissen. Abhilfe sollen hier
verschiedene Fördermaßnahmen schaffen, die einer-
Wirtschaft im Wandel 9/1997
seits noch nicht vollständig ausgeschöpft werden
und auf der anderen Seite auch teilweise zu unspezifisch sind, um gezielt wirken zu können. Die Etablierung von Klein- und mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland ist ein jetzt notwendiger Prozeß. Die Akteure können nicht warten, bis
die Rahmenbedingungen dafür optimal sind, ein
stabiler und ausdifferenzierter Markt vorhanden ist.
Die Fördermaßnahmen müssen zur Zeit auch dazu
dienen, Nachteile auszugleichen, die nicht nur finanzieller Art sind, wie zum Beispiel fehlende
Netzwerke, Lieferbeziehungen, Stammkunden.
Um eine „Kultur der Selbständigkeit“ zu fördern, ist aber noch mehr notwendig. Wenn schon
auf dem Mittelstand die Hoffnungen ruhen, daß vor
allem hier technische Innovationen umgesetzt und
Arbeitsplätze geschaffen werden, dann muß diesem
Umstand auch die nötige Aufmerksamkeit gewidmet
werden. Das schließt ein positives Image jenseits
von Hemdsärmeligkeit und Würstchenbudenmentalität genauso ein wie langfristige Strategien zur
Nachwuchssicherung. Gründergeist kann eigentlich
nicht früh genug vermittelt werden.
In der Schule und in den weiterführenden Bildungseinrichtungen muß stärker als bisher auf die
Bedürfnisse und Anforderungen des späteren Arbeitslebens eingegangen werden. Selbständigkeit
kann bis zu einem gewissen Grad erlernt werden.
Dazu sind Basisqualifikationen und Bewältigungstechniken notwendig, aber auch eine frühzeitige
Ermunterung der Heranwachsenden zu mehr Eigeninitiative. Bereits während der Schulzeit sollte
eine Orientierung auf flexible Erwerbsverläufe erfolgen und zum Unternehmertum ermutigt werden.
Ein Weg könnte in Projekten liegen, die eine enge
Verbindung zur Arbeitswelt haben und von den
Schüler eigenverantwortlich und in Teamarbeit zu
erledigen sind. Wenn in der Schule realistisch auf
die Anforderungen und Bedürfnisse der Arbeitswelt
eingegangen wird, ist vielleicht schon in absehbarer
Zeit die Diskrepanz zwischen dem von Jugendlichen
geäußerten Wunsch nach beruflicher Selbständigkeit und seiner erfolgreichen Verwirklichung nicht
mehr so groß wie gegenwärtig.
Cornelia Lang
([email protected])
7
Regionale Disparitäten bei der Errichtung neuer Produktionskapazitäten
in Ostdeutschland
Die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GA) erfolgt bislang
in Ostdeutschland flächendeckend. Zwar nahmen
einige Länder bereits in den ersten Aufbaujahren
eine gewisse Abstufung der Förderpräferenzen
vor, dies führte jedoch praktisch nicht zum Ausschluß von Regionen aus der Förderkulisse. Wenn
das Investitionsgeschehen trotz flächendeckenden
Förderangebotes räumliche Disparitäten aufweist,
spiegeln sich darin vor allem die Standortpräferenzen der Unternehmen wider. Das räumliche
Verteilungsmuster GA-geförderter Errichtungsinvestitionen zeigt, daß der Aufbau neuer Strukturen
nicht unabhängig von der historisch in Ostdeutschland gewachsenen bzw. planwirtschaftlich
induzierten Standortverteilung erfolgt. Hier spielen auch wirtschaftspolitische Bemühungen zur
Revitalisierung traditioneller Industriestandorte
eine Rolle. Überdurchschnittlich fallen die ProKopf-Investitionen im Umland der Kernstädte,
darunter auch in ländlichen Kreisen an den Rändern der Verdichtungsräume aus. Im Regionstyp
„Ländliche Räume“ zeigt sich ein uneinheitliches
Muster. Hohen Investitionen in einzelnen Kreisen
mit traditionellen Industriestandorten steht ein
deutlich unterdurchschnittliches Investitionsgeschehen in dünn besiedelten ländlichen Kreisen
gegenüber. Aus den räumlichen Unterschieden des
Investitionsgeschehens wird nicht geschlußfolgert,
daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine stärkere
räumliche Differenzierung der Regionalförderung
angestrebt werden sollte. In Ostdeutschland haben
praktisch alle Regionen noch großen Modernisierungsbedarf.
Bei der Beobachtung des Aufholprozesses der
ostdeutschen Wirtschaft stehen häufig die großräumigen Niveau- und Entwicklungsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland im Zentrum der
Aufmerksamkeit. Die Sicht auf Ostdeutschland als
Ganzes läßt aber unberücksichtigt, daß sich innerhalb des ostdeutschen Wirtschaftsraumes eine
räumlich differenzierte Entwicklung vollzieht. Der
Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen kommt regional unterschiedlich voran. Diesen räumlichen Diffe8
renzierungen widmet sich der vorliegende Beitrag,
indem er die räumlichen Muster von Investitionen
zur Errichtung neuer Produktionskapazitäten untersucht. Hierzu wurden Daten über Errichtungsinvestitionen8 aus der Bewilligungsstatistik der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GA) für den Zeitraum 1990-1994
ausgewertet.9
Bei der Interpretation des räumlichen Musters
dieser Investitionen muß berücksichtigt werden, daß
Ostdeutschland im Untersuchungszeitraum flächendeckend in die GA-Förderung einbezogen war. Vom
GA-Rahmenplan her wurde auf eine Auswahl von
Fördergebieten bzw. auf die Förderung nach dem
Schwerpunktorteprinzip verzichtet. Zwar hatten
einzelne ostdeutsche Länder bereits in diesem Zeitraum begonnen, eine gewisse ausgleichsorientierte
Abstufung von Förderpräferenzen vorzunehmen,
dies führte jedoch nicht zum Ausschluß von Regionen aus der Förderkulisse. Im Folgenden wird der
Frage nachgegangen, welches Investitionsmuster
sich herausbildet, wenn Regionalförderung den
Charakter einer allgemeinen Aufbauförderung hat
und flächendeckend zum Einsatz kommt. Es kann
davon ausgegangen werden, daß unter diesen Bedingungen das regionale Verteilungsmuster des Investitionsgeschehens vor allem die Standortpräferenzen der Unternehmen widerspiegelt, wobei auch
wirtschaftspolitische Bemühungen zur Revitalisie8 Neben Großinvestitionen sind hier beispielsweise auch
neu errichtete Zweigbetriebe mittelständischer Unternehmen und auch Existenzgründungen enthalten.
9 Auf die GA-Förderstatistik wurde mangels anderer Daten
über die Neuerrichtung von Produktionskapazitäten in
Ostdeutschland zurückgegriffen. Unter den Bedingungen
der flächendeckenden Förderung kann davon ausgegangen
werden, daß die GA-Statistik das Investitionsgeschehen
zur Errichtung neuer Betriebsstätten mit überregionalem
Absatz ohne größere Verzerrungen abbildet. Es konnte
allerdings nur auf Daten für den Zeitraum 1990-1994 zurückgegriffen werden, weil seit 1995 die GA-Förderstatistik diese Informationen nicht mehr liefert. Mit den veränderten Förderregelungen des 24. Rahmenplanes der GA
wurde auf eine Differenzierung der Fördersätze nach Investitionsarten verzichtet. Vgl. Vierundzwanzigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 1995 bis
1998 (1999), Deutscher Bundestag, Drucksache 13/1376
vom 16. Mai 1995, S. 12 und 34.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
rung traditioneller Industriestandorte eine Rolle
spielen.
Bei den untersuchten Investitionen handelt es
sich in Einklang mit der „Förderphilosophie“ der
GA um solche, aus denen überregionaler Absatz
hervorgeht. Aus regionalökonomischer Sicht ist zu
erwarten, daß Unternehmen, die auf überregionalen
Märkten agieren, besondere Standortanforderungen
stellen. In diesem Zusammenhang wird nachfolgend
untersucht
− inwieweit sich Unterschiede im Investitionsgeschehen in Abhängigkeit von Verdichtung, Zentralität und Lage zeigen,
− ob sich regionale Unterschiede bei der Infrastrukturausstattung in der Intensität des Investitionsgeschehens niederschlagen und
− ob nach der deutschen Vereinigung die Regionen
an der früheren innerdeutschen Grenze infolge
der entstandenen Lagegunst als Investitionsstandort interessant geworden sind.
Bevor auf die o.g. Fragen näher eingegangen wird,
soll zunächst anhand von kreisbezogenen Daten ein
grober Überblick gegeben werden, wo in Ostdeutschland im untersuchten Zeitraum Errichtungsinvestitionen stattgefunden haben.
Karte:
Regionale Verteilung der Errichtungsinvestitionen
je Einwohner in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost nach Kreisena (soweit durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ gefördert)
- Bewilligungszeitraum 1990-1994b, neue Bundesländer und Berlin-Ost = 100 vH -
Karte
Errichtungsinvestitionen an traditionellen ostdeutschen Industriestandorten
Bei einer kreisbezogenen10 Betrachtung der geförderten Errichtungsinvestitionen weist der Süden
der neuen Bundesländer, d.h. Kreise in den Ländern
Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ein deutlich intensiveres Investitionsgeschehen auf als der
Norden (vgl. Karte).11 Dies bestätigt, daß das
Standortmuster von Errichtungsinvestitionen nicht
unabhängig von der Standortverteilung war, wie sie
sich historisch im Osten Deutschlands herausgebildet hatte bzw. wie sie durch die Planwirtschaft der
10 Der Untersuchung liegen Daten der GA-Förderung in der
Kreisgebietsstruktur mit Stand nach den Kreisgebietsreformen zugrunde. Es handelt sich um Angaben zu Errichtungsinvestitionen, die im Zeitraum 1990-1994 bewilligt
worden sind. Die GA-Daten sind auf die Einwohnerzahlen
des Jahres 1994 bezogen.
11 Ein gemessen am ostdeutschen Durchschnitt überdurch-
schnittliches Investitionsgeschehen weisen auch einige
Kreise im Berliner Raum auf. Dort können Kern-UmlandWanderungen insbesondere aufgrund wirtschaftsstruktureller Veränderungen im Westteil der Stadt eine Rolle
spielen.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
IWH
a
Die Zuordnung der Kreise erfolgte entsprechend der Kreisgebietsstruktur nach den Kreisgebietsreformen, der Wert für Berlin bezieht
sich nur auf Berlin-Ost. Die Karte berücksichtigt noch nicht den aktuellen Stand der Änderungen der Kreisgebietsreformen im Freistaat Sachsen. Aus Vereinfachungsgründen wurden die GA-Daten für die Kreise
Dresdner Land, Kamenz und Hoyerswerda zusammengefaßt.
b
Bevölkerungszahlen Stand 1994.
früheren DDR geprägt wurde. Ein Ranking der ostdeutschen Kreise nach der Höhe der Pro-Kopf-Investitionen zeigt, daß zu den zehn Kreisen mit den
höchsten Errichtungsinvestitionen je Einwohner vor
allem Kreise gehören, in denen traditionelle Industriestandorte beheimatet sind (vgl. Tabelle 1). Auffällig bei der Betrachtung des Investitionsmusters
nach Kreisen sind ferner Disparitäten zwischen
Kernstädten und ihren unmittelbaren Umlandkreisen. Dies läßt auf Suburbanisierungsprozesse
schließen, wie sie in der Vergangenheit auch in den
alten Bundesländern zu beobachten waren.
9
Tabelle 1:
Die zehn ostdeutschen Kreise mit den höchsten gewerblichen Errichtungsinvestitionen (GA) in den
neuen Bundesländern und Berlin-Ost im Zeitraum
1990-1994
Kreisname
Merseburg-Querfurt
Bernburg
Zwickauer Land
Ohre-Kreis
Teltow-Fläming
Delitzsch
Wartburgkreis
Gotha
Bitterfeld
Brandenburg an der Havel
Neue Bundesländer
und Berlin-Ost insgesamt
Investitionen
in DM
je Einwohner
41.321
23.006
20.101
17.186
16.433
15.790
15.394
14.257
12.930
11.769
4.850
Quelle: Bundesamt für Wirtschaft, Statistisches Bundesamt,
Berechnungen des IWH.
Weil aus der bloßen Anschauung von kreisbezogenen Investitionsdaten noch wenig über systematische Verteilungsmuster und mögliche Bestimmungsgründe hierfür erkennbar ist, wird im Folgenden eine Untersuchung regionaler Investitionsdisparitäten anhand
− siedlungsstruktureller Merkmale,
− der Infrastrukturausstattung, gemessen am Infrastrukturindikator der Bundesforschungsanstalt
für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) und
− der Lage an der ehemaligen innerdeutschen Grenze
vorgenommen.
Umland-Kernstadt-Gefälle
Aus regionalökonomischer Sicht bieten Verdichtungsräume mit der dort vorhandenen Bevölkerungskonzentration, dem damit verbundenen Absatzpotential und einer vergleichsweise besseren Infrastrukturausstattung günstige Investitionsbedingungen. Das Vorhandensein gut strukturierter Faktormärkte sowie von Fühlungsvorteilen durch
räumliche Zusammenballung von Zulieferern, Abnehmern und Dienstleistern kann das Investitionsgeschehen begünstigen. Wenn Agglomerationseffekte
eine solche positive Ausprägung haben, ist ein eher
konzentriertes Verteilungsmuster des Investitions-
10
geschehens zu erwarten. Im Falle negativer Agglomerationseffekte (z.B. Verkehrsengpässe, Umweltbelastungen) wäre dagegen mit einem stärker dispersen Verteilungsmuster von Investitionsaktivitäten zu rechnen. Allerdings konnte das Problem der
Messung von Agglomerationseffekten bislang empirisch nicht befriedigend gelöst werden.12 Für die
Zwecke dieser Untersuchung werden die Faktoren
Verdichtung, Zentralität und Lage genutzt, um einen Eindruck davon zu bekommen, in welcher Art
und Weise sich Agglomerationsfaktoren im Investitionsgeschehen niederschlagen. Dazu wird auf das
von der BfLR entwickelte Analyseraster der siedlungsstrukturellen Regions- und Kreistypen zurückgegriffen (vgl. Übersicht im Kasten).13
Bei einem Vergleich der drei Regions-Grundtypen – Agglomerationsräume, Verstädterte Räume
und Ländliche Räume – zeigt sich, daß die ProKopf-Investitionen in den Agglomerationsräumen
um rd. 14 vH unter dem ostdeutschen Durchschnitt
liegen, die Werte für Verstädterte Räume und ländliche Räume liegen um rund 12 vH bzw. 4 vH darüber (vgl. Tabelle 2). Anhand dieser groben Regionstypisierung fällt eine Aussage über unterschiedliche Investitionsaktivitäten in Anhängigkeit von
Verdichtung, Zentralität und Lage schwer, weil die
drei Regions-Grundtypen in sich sehr heterogen
sind. Daher bietet das BfLR-Analyseraster noch
eine Auffächerung nach sogenannten differenzierten
Regionstypen. Betrachtet man das Investitionsgeschehen in dieser Auffächerung, fällt in Verstädterten Räumen und in Ländlichen Räumen auf, daß in
Regionen mit höherer Verdichtung bzw. Zentralität
ein intensiveres Investitionsgeschehen zu verzeichnen ist (vgl. Tabelle 2). Zwar gibt dieser großräumige Vergleich Hinweise darauf, daß höhere Verdichtung und Zentralität mit einem überdurchschnittlichen Investitionsgeschehen einhergehen,
was auf eine positive Wirkung von Agglomerationsfaktoren schließen läßt. Bei kleinräumiger Betrachtung zeigt sich allerdings, daß dies auf die
meisten städtischen Zentren selbst nicht zutrifft.
12 Vgl. SCHÄTZL, L.: Wirtschaftsgeographie 1, Theorie, 5.
Auflage, in: UTB für Wissenschaft, Uni-Taschenbücher,
Bd. 782. Paderborn, München, Wien, Zürich 1993, S. 32.
13 Vgl. BUNDESFORSCHUNGSANSTALT FÜR LANDES-
KUNDE UND RAUMORDNUNG: Neue siedlungsstrukturelle Regions- und Kreistypen, in: Mitteilungen und Informationen der BfLR, Heft 1/1997, S. 4-5.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Siedlungsstrukturelle Regionstypen
Grundtyp I: Agglomerationsräume
Oberzentrum >300.000 E oder Dichte um/>300 E/km2
I 1 Hochverdichtete Agglomerationsräume
Oberzentrum >100.000 E und Umland-Dichte >300
E/km2
Tabelle 2:
Gewerbliche Errichtungsinvestitionen in den neu-en
Bundesländern und Berlin-Ost (GA) im Zeitraum
1990-1994 nach siedlungsstrukturellen Regionstypen
Regionsgrundtyp/
differenzierter Regionstyp
I 2 Agglomerationsräume mit herausragenden Zentren
Oberzentrum >100.000 E und Umland-Dichte <300
E/km2
Grundtyp II: Verstädterte Räume
Dichte >150 E/km2 oder Oberzentrum >100.000 E, bei
einer Mindestdichte von 100 E/km2
I 1 Verstädterte Räume höherer Dichte
Dichte >200 E/km2
II 2 Verstädterte Räume mittlerer Dichte mit
großen Oberzentren
Dichte 100-200 E/km2 und Oberzentrum >100.000 E
Regionstyp I (Agglomerationsräume)
Hochverdichtete
Agglomerationsräume
Agglomerationsräume mit
herausragenden Zentren
4.158
Regionstyp II (Verstädterte Räume)
Verstädterte Räume höherer Dichte
5.430
7.532
Verstädterte Räume mittlerer
Dichte mit großen Oberzentren
Verstädterte Räume mittlerer
Dichte ohne große Oberzentren
II 3 Verstädterte Räume mittlerer Dichte ohne
große Oberzentren
Dichte 150-200 E/km2 und ohne Oberzentrum
>100.000 E
Grundtyp III: Ländliche Räume
Dichte <150 E/km2 und ohne Oberzentrum >100.000 E;
mit Oberzentrum >100.000 E und Dichte um/<100 E/km2
III 1 Ländliche Räume höherer Dichte
Dichte >100 E/km2
III 2 Ländliche Räume geringerer Dichte
Dichte <100 E/km2
Investitionen
in DM
je Einwohner
a
-a
4.158
5.225
2.071
Regionstyp III (Ländliche Räume)
Ländliche Räume höherer Dichte
Ländliche Räume geringerer Dichte
5.045
8.013
2.749
Neue Bundesländer
und Berlin-Ost insgesamt
4.850
In Ostdeutschland ist dieser Regionstyp nicht besetzt.
Quelle: Bundesamt für Wirtschaft, BfLR, Statistisches Bundesamt, Berechnungen des IWH.
Siedlungsstrukturelle Kreistypen
Agglomerationsräume
1 Kernstädte
Kreisfreie Städte >100.000 E
2 Hochverdichtete Kreise
Kreise >= 300 E/qkm
3 Verdichtete Kreise
Kreise >= 150 E/qkm
4 Ländliche Kreise
Kreise/Kreisregionen <150 E/qkm
Verstädterte Räume
5 Kernstädte
Kreisfreie Städte >100.000 E
6 Verdichtete Kreise
Kreise/Kreisregionen >= 150 E/qkm
7 Ländliche Kreise
Kreise/Kreisregionen <150 E/qkm
Ländliche Räume
8 Ländliche Kreise höherer Dichte
Kreise/Kreisregionen >= 100 E/qkm
9 Ländliche Kreise geringerer Dichte
Kreise/Kreisregionen <100 E/qkm
Vielmehr ist bei den Kernstädten in Agglomerationsräumen und auch in Verstädterten Räumen ein
durchschnittliches Pro-Kopf-Niveau der Errichtungsinvestitionen feststellbar, das deutlich unter demjenigen der übrigen Kreise des jeweiligen Regionstyps
liegt (vgl. Tabelle 3). Mit dem Wirksamwerden
marktwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen waren die Städte als Investitionsstandort für bestimmte
gewerbliche Nutzungen, die einen hohen Flächenbedarf mit sich bringen, nicht mehr wirtschaftlich. In
den Umlandkreisen war dagegen in der Regel ein
ausreichendes Flächenangebot zu günstigen Konditionen vorhanden, die Genehmigungsverfahren
konnten verhältnismäßig zügig abgeschlossen werden. Beim Investitionsgeschehen in den Kernstädten
spielten ungeklärte Eigentumsverhältnisse, Restitutionsansprüche, ökologische Altlasten und langwierigere Planungs- und Genehmigungsverfahren eine
Rolle. Darüber hinaus stellen innerstädtische Verkehrsengpässe einen Standortnachteil dar, der auch
Quelle: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und
Raumordnung, a.a.O., S. 4-5.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
11
heute noch besteht.14 Es sind übrigens nicht nur Investitionen in fernabsatzorientierten Produktionen,
die Standorte im Umfeld der großen Städte bevorzugen. Untersuchungen zur formalen räumlichen
Inzidenz von Mittelstandsförderprogrammen haben
gezeigt, daß auch Existenzgründungen sowie klei-ne
und mittlere Unternehmen gute Entwicklungsbedingungen im Umland der Kernstädte vorfinden. Dort
können günstige Flächenverfügbarkeit und gute
Verkehrsanbindung mit den Fühlungsvorteilen
durch die Nähe zu den Zentren mit ihrem großen
Kunden- und Absatzpotential verknüpft werden.15
Tabelle 3:
Gewerbliche Errichtungsinvestitionen (GA) in den
neuen Bundesländern und Berlin-Ost im Zeitraum
1990-1994 nach siedlungsstrukturellen Kreistypen
Regions-/Kreistyp
Regionstyp I (Agglomerationsräume)
Kernstädte im Regionstyp I
Hochverdichtete Kreise im
Regionstyp I
Verdichtete Kreise im Regionstyp I
Ländliche Kreise im Regionstyp I
Investitionen
in DM
je Einwohner
2.707
3.333
4.261
6.392
Regionstyp II (Verstädterte Räume)
Kernstädte im Regionstyp II
Verdichtete Kreise im Regionstyp II
Ländliche Kreise im Regionstyp II
2.312
7.188
5.624
Regionstyp III (Ländliche Räume)
Ländliche Kreise höherer Dichte
Ländliche Kreise geringerer Dichte
7.713
3.230
Neue Bundesländer
und Berlin-Ost insgesamt
4.850
Quelle: Bundesamt für Wirtschaft, BfLR, Statistisches Bundesamt, Berechnungen des IWH.
14 Vgl. zum Umland-Stadt-Gefälle in Ostdeutschland z.B.
GANS, P., OTT, T.: Die lokale Dimension der Raumstruktur und ihre Dynamik – Das Beispiel Erfurt, in:
Städte und Regionen, Räumliche Folgen des Transformationsprozesses, in: Vorstand der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den
neuen Bundesländern (KSPW) (Hrsg.): Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland, Nr. 5.
Opladen 1996, S. 409-446, hier speziell S. 438 ff..
15 Vgl. HEIMPOLD, G.: Eine regionalisierte Analyse ausge-
wählter Investitionsförderprogramme für die gewerbliche
Wirtschaft, in: Transferleistungen und Wachstum in den
neuen Bundesländern, Beiträge einer wissenschaftlichen
Tagung. IWH, Sonderheft 1/1997, S. 71-94.
12
Differenziertes Investitionsgeschehen in Ländlichen Räumen
Das Umland-Stadt-Gefälle bringt mit sich, daß
auch eine Reihe ländlicher Kreise in Agglomerationsräumen und auch in Verstädterten Räumen in
überdurchschnittlichem Umfang als Standorte von
Errichtungsinvestitionen in Frage gekommen sind
(vgl. Tabelle 3). Die überdurchschnittlichen Investitionen an den ländlichen Rändern von Agglomerationen und Verstädterten Räumen lassen sich zum
einem mit Ballungskosten in den Zentren erklären.
Zum anderen können ländliche Umlandregionen im
Falle relativ guter Erreichbarkeit der Zentren und
aufgrund verbesserter Kommunikationsinfrastrukturen als Investitionsstandorte infrage kommen,
ohne daß auf Fühlungsvorteile verzichtet werden
muß.16
Beim Regionstyp „Ländliche Räume“ ragen die
ländlichen Kreise höherer Dichte als Kreistyp mit
dem intensivsten Investitionsgeschehen in Ostdeutschland hervor. Betrachtet man die einzelnen
Kreise, die unter dem Typ „Ländliche Kreise höherer Dichte“ subsumiert sind, wird deutlicher, worauf dieses überdurchschnittliche Investitionsgeschehen zurückzuführen ist. Zu diesen ländlichen Kreisen höherer Dichte gehören solche, in denen – historisch gewachsen oder planwirtschaftlich induziert –
Industriestandorte beheimatet waren. Es handelt
sich hier beispielsweise in Sachsen-Anhalt um die
Landkreise Bernburg und Bitterfeld sowie in Thüringen um den Wartburgkreis. Wenn diese Kreise
ein deutlich überdurchschnittliches Investitionsgeschehen aufweisen, so kommen dort die wirtschaftspolitischen Intentionen zum Erhalt traditioneller Industriestandorte zum Ausdruck, indem mit
Unterstützung der GA-Förderung neue Investoren
attrahiert werden konnten.
Im Kreistyp „Ländliche Kreise geringerer
Dichte“ liegt – von wenigen Ausnahmen abgesehen
– die Höhe der Pro-Kopf-Errichtungsinvestitionen
deutlich unter dem ostdeutschen Durchschnitt.
16 Vgl. dazu Befunde für die westdeutschen Regionen z.B.
bei LICHTBLAU, K., RHEIN, A.: Regionaler Strukturwandel in Westdeutschland 1980/92, in: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): iw-trends, 20. Jg. (1993)
H. 4, S. 73. – HENCKEL, D. u.a.: Produktionstechnologien und Raumentwicklung, in: Schriften des Deutschen
Instituts für Urbanistik, Bd. 76. Stuttgart, Berlin, Köln,
Mainz 1986, S. 229.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Dünne Besiedelung, periphere Lage, eine wenig diversifizierte Wirtschaftsstruktur und Infrastrukturschwächen erweisen sich in diesen Räumen als
Standortnachteile, die Investitionen erschweren.
Infrastrukturausstattung als Standortfaktor
Zu den Faktoren, die bei der unternehmerischen
Standortwahl von großer Bedeutung sind, zählen
nicht zuletzt die infrastrukturellen Bedingungen.
Daher wurde versucht, eine grobe Vorstellung über
Auswirkungen von regionalen Unterschieden in der
Infrastrukturausstattung auf die Höhe der GA-geförderten-Pro-Kopf-Investitionen zu bekommen.
Um den Standortfaktor Infrastruktur möglichst einfach und praktikabel abzubilden, wurde auf den sogenannten Infrastrukturindikator zurückgegriffen,
der von der BfLR für Zwecke der GA-Fördergebietsabgrenzung entwickelt worden ist.17 Die Berechnungsergebnisse lassen keinen numerischen
Zusammenhang dergestalt erkennen, daß die ProKopf-Investitionen bei höheren Werten des Infrastrukturindikators18 ansteigen (vgl. Tabelle 4).19
Dieser grobe quantitative Befund sollte aber nicht
zu dem Schluß führen, daß die Infrastrukturausstattung unwichtig für die Investoren war. Zwar
handelt es sich bei der hier verwendeten Größe um
einen komplexen Indikator, der eine Vielzahl infrastruktureller Austattungstatbestände berücksichtigt.
Bei den Standortentscheidungen der untersuchten
Errichtungsinvestitionen können aber einzelne branchenspezifische Infrastrukturen ein großes Gewicht
haben, die möglicherweise in diesen Indikator nur
teilweise oder gar nicht eingehen. Die hohen Inve17 Dieser Indikator wird in der regionalen Gliederung nach
Arbeitsmarktregionen ermittelt. Er umfaßt Merkmale der
sachkapitalorientierten, der humankapitalorientierten und
der haushaltsorientierten Infrastruktur. Der Infrastrukturindikator wurde für Zwecke der Abstufung der Förderpräferenzen im Zeitraum 1997-1999 erstmals auch für das
ostdeutsche GA-Fördergebiet genutzt.
18 Es wurden Quartile der Infrastrukturindikatorwerte gebil-
det, und für diese Quartile wurde die Höhe der GA-geförderten Errichtungsinvestitionen je Einwohner ermittelt.
19 Daß im vierten Quartil die durchschnittlichen Pro-Kopf-
Investitionen stark unter dem ostdeutschen Durchschnitt
liegen, dürfte auch damit zusammenhängen, daß die Arbeitsmarktregionen, zu denen die ostdeutschen Kernstädte
gehören, im vierten Quartil liegen. Hier dürften die Standortvorteile einer relativ guten Infrastrukturausstattung
überlagert werden durch die weiter oben beschriebenen
Faktoren (Flächenverfügbarkeit, Bodenpreise, ungeklärte
Eigentumsprobleme).
Wirtschaft im Wandel 9/1997
stitionen an traditionellen ostdeutschen Industriestandorten lassen vermuten, daß dort durchaus an
branchenspezifische Infrastrukturen angeknüpft
wurde (z.B. an den Chemiestandorten in SachsenAnhalt), daß auch auf qualifizierte Arbeitskräfte
zurückgegriffen werden konnte und eine breite Akzeptanz der Regionsbewohner gegenüber industriellen Neuansiedlungen gegeben war. Im Falle von
GA-geförderten Existenzgründungen und Kleinbetrieben dürften ferner kaum großräumige Standortsuchprozesse stattgefunden haben, bei denen Unterschiede in der Infrastrukturausstattung berücksichtigt werden.20 Übrigens muß der o.g. Befund nicht
im Widerspruch zur Intention der gewerblichen Investitionsförderung im Rahmen der GA stehen. Sie
will vorhandene Stand-ortnachteile, z.B. im Infrastrukturbereich, durch finanzielle Anreize ausgleichen.21
Tabelle 4:
Gewerbliche Errichtungsinvestitionen in den neuen
Bundesländern und Berlin-Ost (GA) im Zeitraum
1990-1994 nach Quartilen des Infrastrukturindikators
Quartile des Infrastrukturindikators nach Arbeitsmarktregionena
Investitionen
in DM
je Einwohner
I. Quartil
7.495
II. Quartil
4.442
III. Quartil
5.972
IV. Quartil
3.890
Neue Bundesländer und
Berlin-Ost insgesamt
4.850
a
Aus Vereinfachungsgründen wurden die Förderdaten der Berliner
Umlandkreise vollständig der entsprechenden Arbeitsmarktregionen
Brandenburgs zugeordnet.
Quelle: Bundesamt für Wirtschaft, BMWi, BfLR, Statistisches Bundesamt, Berechnungen des IWH.
20 Nach Erkenntnissen der Mittelstandsforschung erfolgt bei
Existenzgründungen in der Regel kein überregional orientierter Standortsuchprozeß. Vielmehr wird häufig ein
Stand-ort in der Nähe des bisherigen Wohn- oder Arbeitsortes gewählt. Vgl. SCHMUDE, J.: Geförderte Unternehmensgründungen in Baden-Württemberg, Eine Analyse
der regionalen Unterschiede des Existenzgründungsgeschehens am Beispiel des Eigenkapitalhilfe-Programms
(1979 bis 1989), in: Erdkundliches Wissen, H. 114. Stuttgart
1994, S. 78.
21 Parallel fördert die GA auch kleinräumige wirtschaftsnahe
Infrastrukturvorhaben, mit denen Standortbedingungen
dauerhaft verbessert werden können.
13
Lage an der ehemaligen innerdeutschen Grenze
als Standortvorteil
Schließlich wurde das Investitionsgeschehen in
den ostdeutschen Kreisen entlang der früheren innerdeutschen Grenze untersucht. Mit dem Fall der
Mauer konnte man die Erwartung verbinden, daß
sich die Lagegunst der Regionen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze positiv ändert. Die
Nähe zu den westdeutschen Wirtschaftsräumen und
das vorhandene positive Fördergefälle zugunsten
der neuen Bundesländer bei gleichzeitigem Abbau
der Zonenrandförderung in den alten Bundesländern
ließen erwarten, daß diese Räume zu interessanten
Investitionsstandorten werden. Mit Blick auf die
Höhe der durchschnittlichen Errichtungsinvestitionen je Einwohner an den Landesgrenzen zu den
westdeutschen Bundesländern zeigt sich in der Tat
ein Investitionsgeschehen, das mit 6.747 DM je
Einwohner über dem ostdeutschen Durchschnitt
(4.850 DM) liegt. Dies betrifft vor allem eine Reihe
von Kreisen in Thüringen, zum Teil auch in Sachsen-Anhalt. Jedoch kann man nicht für alle Kreise
an den Landesgrenzen zu den westdeutschen Bundesländern ein reges Investitionsgeschehen konstatieren. Die Chancen, vierzigjährige Abschottung zu
überwinden und die sich mit dem Fall der Grenze
eröffnenden neuen Entwicklungschancen zu nutzen,
scheinen dort günstig zu sein, wo an über lange
Zeiträume gewachsene wirtschaftliche Verflechtungen angeknüpft werden kann.22
Ausblick
Die Untersuchung hat eine deutliche Differenzierung des Investitionsgeschehens gezeigt. Eine eindeutige Ausgleichs- oder Wachstumsorientierung
der GA-Förderung läßt sich aus diesem Verteilungsmuster aber nicht ablesen. Vielmehr stand das
generelle Aufbauziel im Vordergrund, die Errichtung neuer wettbewerbsfähiger Produktionskapazitäten in Ostdeutschland zu unterstützen. Die konkreten Standortentscheidungen wurden dem unternehmerischen Kalkül überlassen. Allerdings zeigt
das Investitionsmuster auch Bemühungen, traditionelle Industriestandorte in Ostdeutschland zu revitalisieren. Noch ist es zu früh für eine Einschätzung, inwieweit diese geförderten Großinvestitionen
nicht nur Inseln hoher Produktivität sind, sondern
weitreichende positive Wirkungen auf das regionale
Umfeld haben. Viel wird in diesem Zusammenhang
davon abhängen, wie sich regionale Zulieferer und
Dienstleister in die Wertschöpfungsketten der
Großinvestoren integrieren können.
Wenn die Analyse sichtbar gemacht hat, daß
verschiedene Teilräume Ostdeutschlands, insbesondere dünn besiedelte ländliche Räume, nur unterdurchschnittlich an den breiten Förderangeboten
partizipieren und Investitionen attrahieren konnten,
sollte daraus nicht gefolgert werden, die regionale
Differenzierung der Förderung zu verstärken.
Aus heutiger Sicht sprechen nach wie vor gute
Gründe für eine flächendeckende Regionalförderung
in Ostdeutschland, selbst wenn dies aus regionalpolitischer Sicht als wenig befriedigend gelten mag. In
Ostdeutschland haben praktisch alle Regionen noch
großen Modernisierungsbedarf. Eine regionale
Wirtschaftsförderung, die bereits zum jetzigen Zeitpunkt den Schwerpunkt bei den schwächsten Regionen innerhalb Ostdeutschlands setzt, erscheint
verfrüht. Dies paßt eher in eine Wirtschaft, die insgesamt einen hohen Entwicklungsstand und nur
noch eine begrenzte Zahl von Problemregionen
aufweist. In Ostdeutschland können sich jedoch die
vermeintlichen Wachstumspole, von denen man eine
Schrittmacherfunktion beim Aufholprozeß erwartet,
hinsichtlich Wirtschaftskraft und Standortattraktivität noch nicht mit konkurrierenden Standorten in
Westdeutschland oder Westeuropa messen.23 Hohe
Förderprioritäten für periphere ländliche Regionen
bei gleichzeitiger wesentlicher Verringerung der
Förderung potentieller Wachstumszentren könnten
dazu führen, daß sich Investoren ganz anderen
Standorten außerhalb Ostdeutschlands zuwenden.
23 Vgl. z.B. JUNKERNHEINRICH, M., SKOPP, R.: Wirt22 In diesem Sinne z.B. GRIMM, F.-D.: Veränderte Grenzen
und Grenzregionen, veränderte Grenzbewertungen in
Deutschland und Europa, in: Institut für Länderkunde
Leipzig (Hrsg.): Regionen an deutschen Grenzen, Strukturwandel an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und
an der deutschen Ostgrenze. Leipzig 1995, S.1-16, hier
speziell S. 12 f.
14
schaftliche Konvergenz und räumliche Wachstumspole:
Zur regionalökonomischen Lage in Ostdeutschland, in:
Pohl, R. (Hrsg.): Herausforderung Ostdeutschland – Fünf
Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Berlin
1995, S. 218-238. – Speziell für Sachsen-Anhalt auch
CROW, C.; JUNKERNHEINRICH, M.; SKOPP, R.:
Strukturanalyse Sachsen-Anhalt, in: IWH, Sonderheft
2/1997.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Eine Fokussierung der Förderung nur auf die Agglomerationsräume bzw. Industriezentren zu Lasten
der strukturschwachen ländlichen Räume wäre dort
wiederum mit Blick auf die Gefahr einer weiteren
Bevölkerungsabwanderung mit ihren negativen Folgen für Lebensqualität und Versorgungsfunktionen
kaum verkraft-bar. Eine flächendeckende Investitonsförderung entspricht daher tendenziell dem
Wachstumsanliegen, weil sie die Standortwahl dem
marktwirtschaftlichen Allokationsprozeß überläßt,
ohne das ausgleichspolitische Anliegen aus dem
Auge zu verlieren.
Gerhard Heimpold
([email protected])
Zahlungsbilanzkrisen in Transformationsökonomien:
Das Beispiel Tschechien
Die Zahlungsbilanzkrise in Tschechien im Mai
1997 verdeutlicht, wie krisenanfällig und hindernisreich die Reformprozesse, selbst in einem Land
mit bisher stabilen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, sein können. Ausschlaggebend
für die tschechische Zahlungsbilanzkrise war das
durch die starke reale Aufwertung der Währung
gewachsene Leistungsbilanzdefizit und die dadurch an Glaubwürdigkeit verlierende Wechselkurspolitik. Die Verteidigung des seit Februar
1993 kaum veränderten Wechselkurses durch die
Nationalbank wurde durch hohe Kapitalabflüsse
und eine wachsende Abwertungsspekulation gegen
die Krone zunehmend schwieriger und mußte unter
dem Druck des Marktes schließlich aufgegeben
werden. Begünstigt wurde der Kapitalabfluß durch
eine weitgehende Liberalisierung des Kapitalverkehrs, der teilweise durch die OECD-Mitgliedschaft bedingt ist. Andere Transformationsländer
weisen ebenfalls einige dieser Risikomerkmale auf.
Insgesamt erscheint es daher für die mittel- und
osteuropäischen Länder ratsam, eine größere Flexibilisierung ihrer Wechselkurssysteme zuzulassen,
auch im Hinblick auf einen möglichen Beitritt zum
EWS II und der Aufrechterhaltung der Kapitalbilanzkonvertibilität.
zur Reintegration ihrer Volkswirtschaften in die
Weltwirtschaft und auch zur Mitgliedschaft in der
Europäischen Union unternommen. Im Zuge des
Beitritts zur OECD haben die Länder die OECD
Codes of Liberalisation of Capital Movement and
Current Invisible Operations unterzeichnet. Dabei
wurden die OECD-Anforderungen im Bereich Währungskonvertibilität, Direktinvestitionen und Kapitalverkehr in nationales Recht übernommen.24 Die
geänderten gesetzlichen Rahmenbedingungen bieten
den Ländern die Möglichkeit, mittels des liberalisierten Zugangs zu ihren Märkten den wirtschaftlichen Strukturwandel zu beschleunigen. Nicht zuletzt durch diese Schritte hatte sich der Eindruck
verfestigt, daß diese Länder nach dem transformationsbedingten Einbruch ihrer Wirtschaftsleistung
bereits einen langfristig stabilen Wachstumspfad
eingeschlagen haben. Unter den Transformationsländern hat Tschechien den Kapitalverkehr mit dem
Ausland am weitesten liberalisiert.25 Dadurch haben sich die Bedingungen für den Kapitalverkehr
Verschlechterte Außenposition und schwächeres
Wachstum
keine Beschränkungen für Investitionen im Ausland, allerdings müssen die Transaktionen mittels hierfür autorisierter Banken abgewickelt werden. Polen hat den Kapitalexport für institutionelle Anleger im Ausland Ende des
Jahres 1996 vollständig liberalisiert, dagegen sind in Ungarn die Portfolioinvestitionen von Inländern im Ausland
auf erstklassige Wertpapiere in OECD-Ländern beschränkt. Alle drei Länder bestehen allerdings auf der
vollständigen Repatriierung der Gewinne aus den zugrundeliegenden Investitionen.
In den vergangenen Jahren sind von den mittelund osteuropäischen Transformationsländern bereits Tschechien (Dezember 1995), Ungarn (Mai
1996) und Polen (Juli 1996) der OECD beigetreten.
Diese Länder haben damit einen wichtigen Schritt
Wirtschaft im Wandel 9/1997
24 Vgl. hierzu ausführlicher SEIFERT, M.: Ungarn, Polen
und die Tschechische Republik: Geänderte wirtschaftliche
Rahmenbedingungen durch den Beitritt zur OECD, in:
IWH, Forschungsreihe 6/1996.
25 Grundsätzlich bestehen für tschechische Staatsbürger
15
verbessert. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit eines kurzfristigen Abziehens des investierten Kapitals, die insbesondere dann an Bedeutung gewinnt,
wenn Anleger aufgrund einer sich verschlechternden
wirtschaftlichen Entwicklung und deutlich zunehmender Leistungsbilanzdefizite das Wechselkursrisiko höher einschätzen und zu anderen Anlagen im
In- und Ausland übergehen wollen. Dies war in
Tschechien Anfang 1997 der Fall.
Die Außenposition Tschechiens verschlechterte
sich bereits 1996 deutlich. Das Leistungsbilanzdefizit wuchs rapide gegenüber dem Vorjahr und erreichte etwa 9 vH des Bruttoinlandsproduktes. Zu
dieser Ausweitung kam es zum einen durch die
starke reale Aufwertung der Krone, die die Wettbewerbsfähigkeit der tschechischen Unternehmen
beeinträchtigte und gleichzeitig die Importe stimulierte, zum anderen durch die nachlassende Nachfrage aus Westeuropa aufgrund der schwächeren
Konjunktur. Das Leistungsbilanzdefizit stieg von
50 Mio. US-Dollar im Jahr 1994 auf 4,5 Mrd. USDollar 1996 (vgl. Tabelle 1). Es konnte 1996 erstmals nicht mehr vollständig über Kapitalimporte finanziert werden. Im selben Zeitraum wuchs das
Handelsbilanzdefizit von rund 400 Mio. US-Dollar
auf 5,9 Mrd. US-Dollar. Währenddessen wertete
die tschechische Krone, die seit Februar 1993 an einen Währungskorb fixiert ist, gegenüber dem USDollar seit 1994 bis Anfang 1997 real um etwa 20
vH auf (vgl. Abbildung 1). Die Kapitalbilanz verzeichnete 1996 einen Überschuß von rund 4 Mrd.
US-Dollar, dies entsprach einer Halbierung des
Saldos gegenüber dem Vorjahr. Der Zustrom an
ausländischen Direkt- und Portfolioinvestitionen
ging 1996 um 50 vH gegenüber 1995 zurück und
betrug knapp 1,4 Mrd. US-Dollar bzw. rund 700 Mio.
US-Dollar. Dies ist im Zusammenhang mit dem
Übergang von einem fixen Wechselkurssystem zu
Tabelle 1:
Ausgewählte Positionen der Zahlungsbilanzen für einige mittel- und osteuropäische Länder
- in Mio. US-Dollar Tschechien
Leistungsbilanzsaldo
Polen
1994
1995
1996
-50
-1.362
-4.476
1994
1995
1996
5.455
(-2.299)a
-1.827
10.513
1.134
1.171
-1.352
8.935
3.070
Handelsbilanzsaldo
Kapitalbilanzsaldo
Direktinvestitionen
Portfolioinvestitionen
-436
3.371
749
855
-3.823
8.226
2.526
1.362
-5.906
4.072
1.388
726
(-944)a
-836
1.812
542
-624
Veränderung der
Devisenreserven
2.372
7.458
-1.565
1.748
Slowakei
Leistungsbilanzsaldo
Handelsbilanzsaldo
Kapitalbilanzsaldo
Direktinvestitionen
Portfolioinvestitionen
Veränderung der
Devisenreserven
-8.154
4.783
2.741
191
Ungarn
1994
1995
1996
1994
1995
1996
712
105
106
170
272
649
24
989
134
246
-1.941
-2.106
2.144
178
12
-3.911
-3.635
4.401
1.146
960
-2.480
-2.442
11.465
4.453
1.411
-1.678
-2.645
-1.645
1.983
-861
1.296
1.673
55
-656
4.532
-1.458
a
Bei Anwendung der bis Ende 1995 geltenden Erfassung der „nicht-klassifizierten Transaktionen“, die insbesondere Einnahmen aus dem Grenztourismus
beinhalten, in der Kapitalbilanz und nicht in der Leistungsbilanz.
Quellen: Czech National Bank, Report on Monetary Developments January - September 1996, Monthly Bulletin 3/1997; National
Bank of Slovakia, Annual Report 1995, Monetary Survey January 1997; National Bank of Poland, Annual Report 1995,
Monthly Bulletin 12/1996; National Bank of Hungary, Annual Report 1995, Monthly Report 1/1997.
16
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Abbildung 1:
Reale Wechselkurse ausgewählter mittel- und osteuropäischer Währungen gegenüber dem US-Dollar
- Dezember 1993 = 100 110
105
100
HUF (Ungarn)
Aufwertung
95
90
SKK (Slowakei)
85
CZK (Tschechien)
80
PLN (Polen)
75
Sep
Jul
Mai
Mrz
Jan 97
Nov
Sep
Jul
Mai
Mrz
Jan 96
Nov
Sep
Jul
Mai
Mrz
Jan 95
Nov
Sep
Jul
Mai
Mrz
Jan 94
70
IWH
Quellen: Nationale Zentralbankstatistiken, vorläufige Angaben für Mai, Berechnungen des IWH.
einem Bandbreitensystem mit Schwankungsbreiten
von +/-7,5 vH seit Februar 1996 zu sehen, in Folge
dessen sich die Wechselkursunsicherheit für Anleger erhöhte. Dennoch stieg der Anteil der Portfolioinvestitionen an den gesamten Nettokapitalimporten. Das verglichen mit anderen mittel- und osteuropäischen Ländern noch immer relativ geringe
Wechselkursrisiko, das attraktive Zinsniveau sowie
der hohe Grad an Kapitalbilanzkonvertibilität der
Krone begünstigten den Zustrom von kurzfristigem
Kapital. Dies hat Tschechien besonders stark dem
Risiko einer plötzlichen Umkehr der Kapitalströme
ausgesetzt.26 Kurzfristige Kapitalzuflüsse können
im Gegensatz zu Direktinvestitionen und langfristigen Bankkrediten relativ schnell ohne große Vermögensverluste wieder aus dem Zielland abgezogen
werden. Die kurzfristige Umkehr der Kapitalströme
kann in eine Zahlungsbilanzkrise münden, die hier
als die Aufgabe eines fixen Wechselkursregimes
verstanden wird.27 Im Falle Bulgariens, das 1996
eine Zahlungsbilanzkrise erlebte, war die sich abzeichnende Erschöpfung der Devisenreserven ein
Grund für die Aufgabe des fixen Wechselkurses des
Lew.28
Seit Beginn des Jahres 1997 hat eine deutliche
Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Tschechien stattgefunden, wodurch
auch die Wirtschaftspolitik der Regierung unter
Druck geraten ist. Die Industrieproduktion, die rund
ein Drittel zur Bruttowertschöpfung Tschechiens
1996 beitrug, ging im ersten Quartal 1997 im Jahresvergleich um 4,2 vH zurück (vgl. Tabelle 2). Die
Exporte sanken im selben Zeitraum um 2,7 vH,
während die Importe um 4,3 vH, jeweils in USDollar, anstiegen und sich das Handelsbilanzdefizit
mit 1,4 Mrd. US-Dollar um 42 vH gegenüber dem
26 Hinzu kommt, daß die Unterscheidung zwischen Portfo-
27 Vgl. SACHS, J. B.; LARRAIN, F. B.: Macroeconomics in
lioinvestitionen und Direktinvestitionen bei bestimmten
Wertpapieranlagen fließend ist, so daß auch ein Teil der
Direktinvestitionen kurzfristig, ohne größeren Vermögensverlust, liquidierbar ist.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
the Global Economy. New York u.a. 1993, S. 327-355.
28 Vgl. hierzu ausführlicher MEIßNER, T.: Rückschläge bei
der Transformation: Das Beispiel Bulgarien, in: IWH,
Wirtschaft im Wandel 8/1997, S. 13-17.
17
Tabelle 2:
Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung Tschechiens
Bruttoinlandsprodukt,
Veränderung in vH gegenüber dem Vorjahr
Industrieproduktion,
Veränderung in vH gegenüber dem Vorjahr
Bruttoanlageinvestitionen,
Veränderung in vH gegenüber dem Vorjahr
Privater Verbrauch,
Veränderung in vH gegenüber dem Vorjahr
Exporte, Mio. US-Dollar, laufende Preise,
periodendurchschnittlicher Wechselkurs
Importe, Mio. US-Dollar, laufende Preise,
periodendurchschnittlicher Wechselkurs
1993
1994
1995
1996
-0,9
2,6
4,8
4,4
-5,3
2,1
8,7
6,8
8,1
17,3
16,1
17,8
2,9
5,3
6,4
6,0
13.205
14.295
17.054
21.918a
5.240
12.859
14.731
20.877
27.824a
6.647
343
-436
-3.823
-5.906a
-1.407
115
-50
-1.589
-4.476
-1.069
3.025
3.371
8.226
4.072
782
23,8
15,7
17
17,4
-1,2
3,5
5,1
3,2
10,5
2,9
12,1
3,5
3,9
3,8
20,8
10,0
9,1
8,8
6,8b
6,3b
29,15
28,78
26,54
27,14
28,31
31,12
100
93,3
80,5
77,9
78,8
85,6
8,0
11,5
8,5
11,5
9,5
12,5
10,5
14,0
10,5
14,0
13,0
50,0
0,1
1,0
0,6
-0,1
Saldo der Handelsbilanz,
Mio. US-Dollar, laufende Preise,
periodendurchschnittlicher Wechselkurs
Saldo der Leistungsbilanz,
in Mio. US-Dollar, laufende Preise
Saldo der Kapitalbilanz,
in Mio. US-Dollar, laufende Preise
Nominallöhne in der Industrie, Veränderungen
in vH gegenüber Vorjahr, Jahresdurchschnitt
Arbeitsproduktivität in der Industrie,
Veränderungen in vH gegenüber Vorjahr
Arbeitslosenquote, in vH, Ende der Periode
Verbraucherpreise, Veränderung in vH
gegenüber dem Vorjahr, Periodendurchschnitt
Nominaler Wechselkurs CZK/USD,
Periodendurchschnitt
Realer Wechselkurs CZK/USD,
Index (12/1993 = 100), Periodendurchschnitt
Diskontsatzb
Lombardsatzb
Saldo des Staatshaushalts,
in vH des Bruttoinlandsprodukts
a
I./1997
Mai/1997
-4,2
b
Veränderte Erfassungsmethode. – Ende der Periode.
Quellen: Tschechische Nationalbank, Nationales Statistisches Amt der Tschechischen Republik, Berechnungen des IWH.
Vorjahresquartal ausweitete. Insgesamt wies die
makroökonomische Situation Tschechiens im
Frühjahr 1997 starke Gemeinsamkeiten mit der
Lage der ungarischen Wirtschaft im Jahr 1994
auf.29 Vor drei Jahren erreichte das Leistungsbi
29 Vgl. GNOTH, W.: Ungarn: Verlangsamung des Wirt-
schaftswachstums, in: IWH, Forschungsreihe 3/1996,
S. 74-83.
18
lanzdefizit Ungarns 9,4 vH des BIP, die Lohnzuwächse überstiegen bei weitem die Zunahme der
Produktivität, die Einkommenszuwächse lösten einen Importsog aus, der 1994 in ein Handelsbilanzdefizit von 3,9 Mrd. US-Dollar mündete.
Im Unterschied zu Tschechien drei Jahre später
wertete die ungarische Nationalbank angesichts einer drohenden Zahlungsbilanzkrise den Forint im
März 1995 um 9 vH gegenüber dem US-Dollar ab
Wirtschaft im Wandel 9/1997
und führte ein crawling peg Wechselkurssystem
ein. Gleichzeitig beschloß die Regierung ein Austeritätsprogramm, das als entscheidende Maßnahmen
die Einführung von Importsteuern und Lohnkontrollen sowie Ausgabenkürzungen zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vorsah. Als Folge
dieser Roßkur verbesserten sich sowohl die Handels- als auch die Leistungsbilanz; gleichzeitig ging
das Wirtschaftswachstum 1995 auf 1,5 vH zurück
(1994: 2,9 vH). Dagegen hat sich die Tschechische
Nationalbank noch bis Mitte Mai 1997 den Forderungen nach einer Abwertung der Krone mit dem
Argument widersetzt, daß dies lediglich zu Rückschlägen bei der Stabilisierung des Preisniveaus
führen würde, aber kurz- und mittelfristig keine
Verbesserung der Handels- und Leistungsbilanz zu
erwarten wäre.30 Hinzu kam, daß die Minderheitsregierung nicht in der Lage war, frühzeitig fiskalund einkommenspolitische Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren realen Aufwertung vorzunehmen.
Der Verlauf der Zahlungsbilanzkrise
Angesichts der schwachen Wirtschaftsentwicklung zu Beginn des Jahres 1997 und der getrübten
Aussichten für den weiteren Jahresverlauf hat die
Regierung Mitte April ein erstes Maßnahmenpaket
geschnürt, um die wirtschaftliche Entwicklung zu
stabilisieren. Zur Konsolidierung des Staatshaushalts, der noch 1996 einen Überschuß zu verzeichnen hatte, wurden Ausgabenkürzungen von etwa
5 vH verhängt. Die Ausgabenkürzungen erfolgten
in Reaktion auf voraussichtlich geringere Einnahmen aufgrund des erwarteten schwächeren Wachstums für 1997. Neben Kürzungen bei öffentlichen
Investitionsvorhaben sollen die Löhne im öffentlichen Sektor nicht wie ursprünglich vorgesehen um
knapp 12 vH, sondern nur um rund 7 vH erhöht
werden. Als kurzfristig wirksam werdende Maßnahme zur Verbesserung der Handelsbilanz wurde
eine Bardepotpflicht von 20 vH auf Konsumgüterimporte eingeführt.31 Insgesamt waren diese
30 Reuters Meldung vom 22. Mai 1997.
31 Bei hierfür autorisierten inländischen Banken sind 20 vH
des Warenwertes für 180 Tage zinslos zu hinterlegen. Die
Bardepotpflicht wirkt wie eine Importsteuer. Die Konsumgüter umfassen auch PKW, LKW und ausgewählte Vorleistungen, damit unterliegen etwa 30 vH der gesamten Einfuhren der Bardepotpflicht.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Maßnahmen jedoch nicht geeignet, den Abwertungsdruck von der tschechischen Krone zu nehmen
(vgl. Abbildung 2), der in heftigen Währungsspekulationen Mitte Mai 1997 gipfelte.
Die spekulativen Angriffe auf den Wechselkurs
der Krone wurden einerseits ausgelöst durch Zweifel von Devisenmarktteilnehmern an dem glaubwürdigen Aufrechterhalten des Wechselkurses innerhalb der bestehenden Bandbreiten durch die Zentralbank angesichts des hohen Leistungsbilanzdefizits, andererseits durch die Unsicherheit über die
zukünftige Wirtschaftspolitik der unter Druck geratenen Regierung. Als unmittelbare Reaktion auf
die Abwertungsspekulation der Marktteilnehmer
gegen die Krone intervenierte die Tschechische
Nationalbank am Devisenmarkt und erhöhte drastisch die offiziellen Zinssätze. Der Lombardsatz
wurde von 14 vH auf 50 vH heraufgesetzt und der
Repozinssatz von 12,9 vH auf 75 vH. Zeitweise
wurden im Interbankengeschäft Kreditzinsen für
Tagesgeld von 500 vH verlangt. Mit den Zinserhöhungen sollte die Kreditaufnahme für Geschäftsbanken verteuert werden, um so die Währungsspekulation unattraktiver zu machen. Neben der
Zinspolitik wurde dann als ergänzende Maßnahme
am 22. Mai 1997 die Konvertibilität der Krone eingeschränkt und erst vier Wochen später wieder aufgehoben. Ausländischen Investoren, zu denen auch
in Tschechien ansässige ausländische Banken zählen, wurde während dieser Zeit der Zugang zum
Geldmarkt verwehrt. Damit wurden wichtige
Markteilnehmer vom kurzfristigen Kreditgeschäft
ausgeschlossen und die Spekulation gegen die
Krone erschwert. Diese drastische Maßnahme der
Nationalbank verstößt zwar grundsätzlich gegen die
OECD-Codes zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs; jedoch sind temporäre Ausnahmeregelungen
zulässig, soweit dies aus geldpolitischen Erwägungen notwendig erscheint.
Doch auch diese Maßnahmen konnten die Spekulation auf eine Abwertung der Krone nicht beenden. In der Endphase der Abwertungsspekulation ist
es auch zu einer Währungssubstitution von privaten
Haushalten gekommen. Ein sichtbares An-zeichen
für die Verunsicherung und die Flucht in Devisen
waren die langen Menschenschlangen vor den Banken und Wechselstuben. Schließlich gab die Nationalbank dem Marktdruck nach und hob die Anbindung des Wechselkurses der Krone an den Wäh-
19
Abbildung 2:
Wechselkurs der tschechischen Krone gegenüber dem US-Dollar, der Deutschen Mark sowie dem Währungskorb (DM 65 vH, USD 35 vH)
- in jeweiligen Währungseinheiten -
34
33
32
31
30
29
CZK/ USD
28
27
26
28.2.96
26.5.97
25
24
Wechselkursband
23
CZK/ WK
22
21
20
19
18
CZK/ DEM
17
97/07/05
97/06/13
97/05/16
97/04/16
97/03/18
97/02/18
97/01/21
96/12/13
96/11/15
96/10/17
96/09/19
96/08/22
96/07/24
96/06/25
96/05/28
96/04/26
96/03/28
96/02/28
96/01/30
96/01/02
16
IWH
Quelle: Berechnungen des IWH auf Basis von Angaben der Tschechischen Nationalbank.
rungskorb mit Wirkung vom 27. Mai 1997 auf.
Seitdem ist Tschechien zu einem flexiblen Wechselkurssystem übergegangen. Insgesamt wird das Interventionsvolumen der Nationalbank zur Stützung
des Wechselkurses der Krone auf 3 Mrd. US-Dollar
geschätzt; dies entspricht rund einem Viertel der
verfügbaren Devisenreserven der Nationalbank. Am
ersten Handelstag nach der Freigabe des Wechselkurses stellte sich trotz weiterer Interventionen ein
Kursverfall der Krone an den Devisenmärkten von
8,5 vH gegenüber dem US-Dollar und knapp 8 vH
gegenüber der DM ein. Dabei ist es zu einem Überschießen des Wechselkurses gekommen. Im Verlauf
der folgenden drei Wochen hat die Krone sowohl
gegenüber dem US-Dollar als auch gegenüber der
DM leicht aufgewertet. Ob allerdings die sich einstellende Abwertung von rund 5 vH bzw. 2,5 vH
gegenüber dem US-Dollar und der DM die vor der
Zahlungsbilanzkrise bestehende Überbewertung der
Krone vollständig eliminiert hat, ist zweifelhaft.
20
Nominale Wechselkursfixierung versus crawling
peg
Die Grundidee der Fixierung des nominalen
Wechselkurses ist es, mittels der Selbstbindung der
Nationalbank die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik
zu erhöhen und schneller als durch andere Maßnahmen die Inflationsrate zurückzuführen. Durch
die Wechselkursanbindung wird das Preisniveau für
handelbare Güter unmittelbar und für nicht-handelbare Güter mittelbar stabilisiert. Der Anpassungspfad der inländischen Inflationsrate an die Inflation
der Länder der Ankerwährungen hängt entscheidend
von möglichen Lohn- und Preisindexierungsmechanismen sowie der Glaubwürdigkeit des Stabilisierungsprogramms ab.32 Die wechselkursgestützte
Stabilisierung beinhaltet allerdings das Risiko, daß
sich bei anhaltender Kosteninflation durch die reale
32 Vgl. EDWARDS, S.: Exchange-Rate Anchors, Credibility,
and Inertia: A Tale of Two Crisis. Chile and Mexico.
American Economic Review, Vol. 86, No. 2, S. 176-180.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Aufwertung der Währung die Handels- und Leistungsbilanz verschlechtern. Das tschechische Beispiel zeigt, daß im Rahmen eines starren Wechselkursregimes die Erwartungen der Marktteilnehmer
bezüglich einer Abkehr von der bisherigen Wechselkurspolitik zunehmen, je länger sie eine fortgesetzte reale Aufwertung der Währung sowie anhaltende oder sogar steigende Handels- und Leistungsbilanzdefizite beobachten. Diese Erwartungen können noch forciert und somit eine Abwertungsspekulation gefördert werden, wenn die Marktteilnehmer den Bestand an Devisenreserven als nicht ausreichend erachten, um den Wechselkurs der Währung langfristig glaubwürdig verteidigen zu können.
Eine Abkehr von dem starren Festhalten an dieser
Wechselkursstrategie kann, wie die Ereignisse in
Tschechien zeigen, durch die Devisenmärkte gegen
den Willen der Nationalbank schockartig erzwungen werden. Um dies zu verhindern und trotzdem
von den Vorteilen einer nominalen Fixierung des
Wechselkurses profitieren zu können, haben Polen
und Ungarn ein crawling peg Wechselkurssystem
implementiert. Dabei werten die Währungen jeweils
gegenüber
einem
fiktiven
Währungskorb33
entsprechend einer vorher angekündigten Rate ab.
Mit diesem flexibleren Wechselkurssystem haben
beide Länder eine starke reale Aufwertung ihrer
Währungen wie in Tschechien vermeiden können.
Der ungarische Forint und der polnische Zloty haben zwischen 1994 und Anfang 1997 gegenüber
dem US-Dollar real um etwa 4 vH bzw. 15 vH aufgewertet.
Im Gegensatz zu Tschechien ist es jedoch weder
in Polen noch in Ungarn bislang gelungen, die Inflationsraten auf ein einstelliges Niveau zurückzuführen. Die Gründe hierfür sind vor allem bei der
rückwärtsgerichteten Indexierung der Nominallöhne
zu suchen. Dies ist in Ungarn zu beobachten und
besonders stark ausgeprägt in der polnischen Wirtschaft. In Polen werden im öffent-lichen Sektor, zu
dem auch noch große Teile der Industrie zählen,
üblicherweise Tarifverträge mit einer Laufzeit von
12 Monaten abgeschlossen, doch werden ausdrück-
33 Für den polnischen Zloty besteht der Währungskorb aus
USD (45 vH), DM (35 vH), GBP (10 vH), FRF (5 vH)
und CHF (5 vH) und für den ungarischen Forint aus 70 vH
ECU und 30 vH USD. Gegenwärtig beträgt die monatliche
Abwertungsrate für den Zloty gegenüber dem Währungskorb 1,0 vH und 1,1 vH für den Forint.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
lich Nachverhandlungen nach jeweils zwei Monaten
zugelassen. Durch diesen Mechanismus wird die Inflationsbekämpfung erschwert, weil Verharrungstendenzen in den Stabilisierungsprozeß eingeführt werden. Selbst bei einem Absenken der monatlichen Abwertungsrate orientieren sich die Lohnsteigerungen an den höheren Inflationsraten der
Vormonate. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, daß die Preissteigerungsrate sowohl in Polen
als auch in Ungarn im Jahresvergleich noch mehr
als 16 vH beträgt. Insgesamt läßt sich festhalten,
daß sich sowohl in Polen als auch in Ungarn die angestrebte Preisstabilisierung verzögert hat und
gleichzeitig eine Verschlechterung der Handels- und
Leistungsbilanzen infolge der realen Aufwertung
billigend in Kauf genommen wurde.
Für Tschechien stellt die Einführung eines
crawling peg Wechselkurssystems als zukünftige
Wechselkurspolitik jedoch keine Alternative dar. Im
Gegenteil, die bereits gewonnene Preisstabilisierung
wäre gefährdet, wenn ähnliche Indexierungsmechanismen wie in Polen oder Ungarn entstünden. Andererseits würde das endgültige Aufgeben der Wechselkursanbindung die Nationalbank von der eingegangenen Selbstverpflichtung zur Preisstabilisierung entbinden und somit eine lockerere Haltung bei
der Inflationsbekämpfung signalisieren. Dieses Argument wiegt schwerer als der Vorzug eines flexiblen Wechselkurses gegenüber einem Fixkurssystem, der darin besteht, daß es bei Nettokapitalüberschüssen direkt zu einer nominalen und realen Aufwertung der Währung kommt und die reale
Aufwertung nicht über den Umweg eines höheren
Preisniveaus erfolgt.34 Als Kompromißlösung für
eine zukünftige Wechselkurspolitik ist daher eine
erneute Wechselkursfixierung an einen Währungskorb oder eine einzelne Währung mit größerer Flexibilität ange-zeigt.35 Um eine erneute Spekulationskrise zu vermeiden, könnte eine größere
Schwankungsbreite von etwa +/-15 vH zugelassen
werden. Unter diesen Bedingungen ist die Flexibili34 Langfristig ist es einer Zentralbank nicht möglich, den
Einfluß von Kapitalimportüberschüssen auf die Geldmenge zu neutralisieren, ohne daß es zu unerwünschten
Zinseffekten kommt, die zudem die Neutralisierungspolitik konterkarieren.
35 Davon unberührt ist natürlich die Frage, ob zukünftig nicht
angesichts möglicherweise fortbestehender Leistungsbilanzdefizite eine diskretionäre Abwertung der Krone notwendig ist.
21
tät des nominalen Wechselkurses so groß, daß trotz
Produktivitätsfortschritten und eines möglichen
Nettokapitalzustroms eine allzu starke reale Aufwertung der Krone vermieden wird und sich eine
Verbesserung der Handels- und Leistungsbilanzsalden noch in diesem Jahr einstellen kann. Diese Politik erscheint auch im Hinblick auf einen möglichen
Beitritt zum EWS II und der Sicherstellung der Kapitalbilanzkonvertibilität angebracht.36
Wachstumsaussichten für 1997 und darüber hinaus
Durch die Abwertung der tschechischen Krone
gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner ist für 1997 mit einem leichten Anstieg
der Inflationsrate auf 11-12 vH zu rechnen. 1996
betrug die Inflation, gemessen an der Veränderung
des Konsumgüterpreisindex, 9,1 vH. Die abwertungsbedingte Verteuerung der Importe wird nur zu
einem einmaligen Inflationsschub führen. Mit einer
Lohn-Preis-Spirale ist aufgrund der in Aussicht gestellten Maßnahmen zur Begrenzung des Lohnwachstums nicht zu rechnen. In dem von der Regierung Ende Mai verkündeten Stabilisierungsprogramm sollen zusätzlich zu den bereits im April beschlossenen Ausgabenkürzungen weitere Mittel in
den Bereichen staatliche Verwaltung, Investitionen
und soziale Transfers eingespart werden. Für 1997
wird auch über die Wiedereinführung der trilateralen Kommission, bestehend aus Regierung, Gewerkschaften und Unternehmensverbänden, nachgedacht, um Lohnsteigerungen im Rahmen der Produktivitätsveränderungen zu halten. Eine Senkung
der offiziellen Zinsen durch die Nationalbank wird
mittelfristig von der Etablierung einer neuen glaubwürdigen Wechselkurspolitik abhängen. Das gegenwärtige Zinsniveau ist noch von den Zielen der
Nationalbank bestimmt, den weiteren Kapitalabfluß
zu verhindern, die Abwertungsspekulation zu unterbinden und die Währungssubstitution zurückzudrängen. Erst mit wieder steigendem Vertrauen der
Marktteilnehmer in die Geld- und Währungspolitik
der Nationalbank wird die Phase des Überschießens
der Zinsen abgelöst werden von einer Phase sinkender Zinsen, deren Niveau aber aufgrund der erwar-
36 Vgl. hierzu auch ORLOWSKI, L.: Capital Inflows and the
teten höheren Inflation noch über dem vor der Zahlungsbilanzkrise liegen wird.
Aus der Summe von Abwertung und Austeritätsprogramm der Regierung dürften kurzfristig
überwiegend noch wachstumsdämpfende Wirkungen ausgehen. Für 1997 ist im Vergleich zu den
vorangegangenen Jahren mit einem deutlich niedrigerem Wirtschaftswachstum von etwa 2 vH zu
rechnen. Die Ausgabenkürzungen in Verbindung
mit Reallohneinbußen, verteuerten Importen und
dem gestiegenen Realzinsniveau werden die inländische Nachfrage deutlich sinken lassen und den seit
Jahresbeginn vorherrschenden rückläufigen Trend
in der Produktion weiter verstärken. Auf mittlere
bis lange Sicht hat die Abwertung positive Wirkungen auf das Wirtschaftswachstum, wenn die tschechischen Exportgüterindustrien die Verbesserung
der preislichen Wettbewerbsfähigkeit ihrer Güter
auf den Weltmärkten für verstärkten Absatz nutzen
können. Um hierfür die Voraussetzungen zu schaffen, ist zum einen eine Intensivierung des Reformprozesses unabdingbar. In erster Linie ist hier eine
straffe staatliche Aufsicht über das Bankensystem,
das in der Vergangenheit durch zahllose Skandale
erschüttert wurde, wie auch die Schaffung einer unabhängigen Wertpapieraufsichtskommission zu
fordern. Desweiteren sind Anreize für eine wirksame Unternehmenskontrolle zu schaffen, die als
Folge der Koupon-Privatisierung unzureichend waren. Den Reformprozeß begleiten müssen Maßnahmen der tschechischen Regierung, die den Aufbau
des inländischen Kapitalmarktes fördern, indem sie
vor weiteren spekulativen Währungsattacken schützen. Insbesondere ist über die temporäre Einschränkung der Kapitalbilanzkonvertibilität der Krone
nachzudenken, die, von der OECD ausdrücklich
ermöglicht, gegen den Zustrom kurzfristig spekulativen Auslandskapitals gerichtet sein müssen, um
eine erneute Destabilisierung der tschechischen
Krone zu verhindern. Gelingt dieses Zusammenspiel
von staatlichen Konsolidierungsmaßnahmen, Effizienzsteigerungen auf der Unternehmensseite und
glaubwürdigem Schutz vor spekulativen Währungsattacken, so ist über 1997 hinaus mit einer
Erholung Tschechiens zu rechnen, die insbesondere
im Hinblick auf die in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der Europäischen Union in einen soliden
Wachstumspfad münden wird.
Capital Account Convertibility in the Transforming Economies of Central Europe. Manuskript, 1997.
22
Wirtschaft im Wandel 9/1997
Künftig weitere Zahlungsbilanzkrisen in Reformstaaten?
Ein Vergleich mit anderen Ländern Mittel- und
Osteuropas, die ebenfalls wechselkursgestützte Stabilisierungsprogramme verfolgen, zeigt einige Ähnlichkeiten mit Tschechiens außenwirtschaftlicher
Entwicklung; Polen, die Slowakei und Ungarn haben in der Vergangenheit ebenfalls reale Aufwertungen erfahren und weisen mit Ausnahme von
Ungarn auch Verschlechterungen der Handels- und
Leistungsbilanzen auf. Insofern scheinen auch in
diesen Ländern Faktoren vorhanden zu sein, die
Abwertungserwartungen entstehen lassen (vgl. Tabelle 1 und Abbildung 1). Eine Ausweitung der
tschechischen Krise in Form spekulativer Währungsattacken auf die Nachbarländer fand bislang
im Falle Polens und der Slowakei statt. In beiden
Ländern war die Währungsspekulation deutlich
schwächer als in Tschechien. Der Kurs des polnischen Zloty stabilisierte sich sogar ohne Intervention der Nationalbank. Die Slowakische Nationalbank wendete zur Stützung der slowakischen
Krone37 etwa 300 Mio. US-Dollar bzw. 9 vH der
Devisenreserven auf. Obwohl die Kapitalbilanz der
Slowakei ebenso wie diejenige Tschechiens einen
hohen Anteil kurzfristiger Zuströme und Portfolioinvestitionen aufweist und somit das Risiko einer
durch den Markt erzwungenen Abwertung infolge
einer plötzlichen Umkehr der Kapitalströme ähnlich
groß ist, war bislang das Festkurssystem nicht gefährdet. Anders als in Tschechien, wo sich die wirtschaftliche Aktivität im ersten Quartal 1997 deutlich verlangsamte, hat die Slowakei im selben Zeitraum einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts zu
verzeichnen. Allerdings wurde angesichts des steigenden Handelsbilanzdefizits ebenso wie in Tschechien eine Bardepotpflicht für Verbrauchsgüterimporte eingeführt. Insofern liegen zwar im Vergleich
zu Tschechien ähnliche Ursachen für weitere Abwertungsspekulationen in der slowakischen
wirtschaftlichen Entwicklung vor, aber in deutlich
geringerem Ausmaß. Weiten sich die Handels- und
Leistungsbilanzdefizite jedoch weiter aus, so ist
eine Verstärkung des Abwertungsdrucks auf die
slowakische Krone durch den Markt ähnlich wie in
Tschechien nicht auszuschließen.
Thomas Linne ([email protected])
Claudia Löhnig([email protected])
37 Die slowakische Krone kann innerhalb einer Bandbreite
von +/-5 vH um einen festen Wechselkurs zu einem Währungskorb, der zu 60 vH DM und zu 40 vH US-Dollar enthält, frei schwanken.
Wirtschaft im Wandel 9/1997
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