Autorin: Gerlind Schabert, Bonn Angst gehört zum Leben Noch im 21. Jahrhundert wird der Mensch von Urängsten geplagt Wovor fürchten sich mehr Leute – vor Schlangen oder vor Autos? Mit Sicherheit vor Schlangen! Aber eigentlich ist das sehr merkwürdig. Denn während hierzulande jedes Jahr etwa 20 Menschen beim Überqueren eines Fussgängerstreifens ums Leben kommen, liegt der letzte tödliche Schlangenbiss in der Schweiz schon 48 Jahre zurück. Es ist weitaus wahrscheinlicher, von einem Auto angefahren zu werden, als an Reptiliengift zu sterben – und trotzdem bewegen sich die meisten Menschen angstfrei durch den Strassenverkehr, während sie beim blossen Gedanken an Schlangen ein mulmiges Gefühl im Magen kriegen. Wie kommt das? 2 aktuell | Nr. 1 | 2009 | Angst und Ängste Die Erklärung liegt in unseren Genen: Die Angst vor Schlangen, Spinnen und anderen Insekten, die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen, die Angst, aus grosser Höhe irgendwo herunterzufallen oder ganz allein auf freiem Feld zu stehen, all diese – damals überlebenswichtigen – Ängste kannten unsere Vorfahren schon vor hunderttausend Jahren und haben sie uns in abgeschwächter Form vererbt. Auch im Jahr 2009 tragen wir noch jede Menge Urängste mit uns herum und reagieren in bedrohlichen Situationen ganz so, wie es der Homo sapiens tat: Wir machen uns möglichst schnell davon. Trotz dieser genetischen Vorbestimmtheiten im Gepäck ist der Mensch in Bezug auf seine Ängste ein gutes Wegstück vorangekommen. Über die Jahrtausende ist es ihm immer besser gelungen, seine instinktiven Schon der Anblick einer fotografierten Schlange sorgt für Unbehagen … Ängste zu beherrschen. Das geschah in einem langsamen Wechselspiel: Je stärker sein Gehirn wuchs, desto mehr Ängsten konnte er mit Vernunft begegnen. Und je grösser deshalb sein Handlungsspielraum wurde, desto vielschichtiger entwickelte sich sein Gehirn. Statt blind seinem Fluchtinstinkt zu gehorchen, stellte sich der klüger werdende Mensch in zunehmendem Masse die Frage: «Ist Weglaufen auch wirklich die aussichtsreichste Strategie?» Dieser Prozess allerdings führte keineswegs in die «Angstfreiheit», denn die wachsende Vorstellungskraft, das Wissen um ein Morgen und Übermorgen, liess neue abstrakte Ängste entstehen. Es ging nicht mehr nur um die Angst, in einem Kampf zu sterben oder von einem Raubtier gefressen zu werden, sondern um die Angst, überhaupt irgendwann sterben zu müssen. Die eigene Gesundheit und die geliebter Menschen wurde genauso zum Anlass sorgenvoller Gedanken, wie die Frage, ob es auch im nächsten Jahr genug zu essen geben würde – und so entstand die Zukunftsangst. Jede Gesellschaft fügt den genetisch angelegten Ängsten zeittypische eigene hinzu. Wer im 9. Jahrhundert im christlichen Europa den hölzernen Löffel zum Mund führte, um etwas Eintopf oder Getreidesuppe zu essen, tat das möglicherweise mit klopfendem Herzen. Gebildete Leute ebenso wie solche aus dem einfachen Volk fürchteten nichts so sehr, wie aus Versehen einen winzigen Dämon mitzuessen und hinunterzuschlucken. Der Kirche des Mittelalters war das ganz lieb, schliesslich gaben ängstliche «Schäfchen» unkritische Gottesdienstbesucher und bereitwilligere Spender ab. Heute fürchten sich die Menschen bei ihren Mahlzeiten vor ganz ande- ren unsichtbaren Dämonen; es ist der Gedanke an Pestizide und Giftstoffe im Essen, der für Unbehagen sorgt. Eine Angst, die den Herstellerfirmen biologischer Lebensmittel gute Geschäfte beschert. Überhaupt können Ängste sehr einträglich sein. Versicherungen und Banken leben davon, dass die Menschen sich vor der beängstigenden Ungewissheit hinsichtlich ihrer Zukunft schützen wollen, Kinoproduzierende steigern die Besucherzahlen mit Thrillern und Horrorfilmen. Denn auch das ist typisch menschlich: «Angstlust» verspüren zu wollen. 3