Sectiorate bei Hausgeburten - eine retrospektive Zusammenstellung

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August 2011
S.1
Sectiorate bei Hausgeburten eine retrospektive Zusammenstellung
Reiner Bernath und Tomislav Simic, Solothurn
Einleitung
Seit 1987 begleitet unsere städtische Grundversorgerpraxis Hausgeburten in unserer Region.
Schweizweit finden heute noch rund 1% der Geburten zu Hause statt, seit Jahren ein stabiler
Prozentsatz.
Spitalgeburten sind seit den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts die Regel.
Zu den verbliebenen Hausgeburten stellen wir folgende drei Fragen:
Wer entscheidet sich für eine Hausgeburt?
Es sind Frauen und ihre Partner, die eine Geburt in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung
erleben wollen. Wir Hebammen und HausärztInnen sind bereit mitzumachen, wenn aus der
Anamnese und den Schwangerschaftskontrollen keine erhöhten Risiken resultieren.
Ist eine Hausgeburt heute noch zu verantworten?
Eine Sicherheitsstudie mit den kleinen Schweizer Zahlen würde keine signifikante Aussage
erlauben, da Geburtskomplikationen (zum Glück) selten sind. (In unserm Kollektiv ist die
Morbidität 0.3%, konkret mussten wir ein Neugeborenes mit schwerer Atemstörung verlegen,
und Todesfälle haben wir keine zu verzeichnen). Wir haben folgerichtig auf einen
statistischen Vergleich verzichtet.
Gute derartige Vergleiche wurden in ausländischen Studien mit hunderttausenden von
Teilnehmerinnen gemacht. Sie beweisen alle, dass die Hausgeburt eine sichere Option ist.
[1/2]
Unterscheiden sich Hausgeburtsfrauen und –kinder vom Durchschnitt?
Die vorliegende kleine retrospektive Studie geht der Frage nach, ob und wie sich unsere
Hausgeburten der Jahre 1999 bis 2010 von der Gesamtheit der Schweizer Geburten des
dazwischen liegenden Stichjahres 2007 unterscheiden. Sie hat sich darauf beschränkt, die
zugänglichen Daten rund um die Geburt, die Zahl der abgebrochenen Hausgeburten
(Verlegungen) und die Sectio-Häufigkeit zu erfassen.
Methode
Anhand der jährlich erstellten Listen aller unserer angefangenen und stattgehabten
Hausgeburten suchte das Praxispersonal die Patientinnenakten der letzten 23 Jahre heraus.
Anhand der KG-Einträge, ergänzt durch die Register der beteiligten Hebammen, hat mein
Praxiskollege Dr.Simic die folgenden Daten erhoben:
Alter der Mutter bei der Geburt, Gestationsalter, Parität und Geburtenziffer (=Anzahl Kinder
inkl. aktuelle Geburt) Geburtsgewicht, Verlegungen und Sectiorate.
Hausgeburten generell, auch die unseren, sind ausschliesslich Einlingsgeburten am Termin,
ab 37. Schwangerschaftswoche. Früh- und Mehrlingsgeburten haben potentielle Risiken und
gehören zum vornherein ins Spital.
Für einen Vergleich haben wir unsere Daten der 12 Jahre von 1999-2010 den vom
Bundesamt für Statistik (BfS) erhobenen Zahlen zu allen Schweizer Geburten von 2007
gegenübergestellt.[3]
(2007 ist das erste Jahr, in dem die gewünschten Daten gesamtschweizerisch erhoben wurden,
und dieses Jahr liegt ungefähr in der Mitte zwischen 1999-2010).
Resultate
Hausgeburten
In den 12 Jahren von 1999-2010 verzeichneten wir 299 Hausgeburten, davon haben wir in
86% die oben erwähnten Daten erheben können; N = 258. Für die Berechnung des
Prozentsatzes der Verlegungen mit und ohne Kaiserschnitt sind unsere Daten vollständig, hier
ist N = 299.
Jahr
Anzahl N Mütterl. Alter Gestationsalter 1-Para Mehrpara Geb.ziffer Geb.gew.
1999-2010 258
33.1Jahre
39.9 Wochen
28.3% 71.7%
2.28
3490g
Verlegungen, 1999-2010 (N= 299): 18%
Sectiorate 1999-2010 (N= 299): 6%
Vergleichszahlen ganze Schweiz
(Bundesamt für Statistik, 2007) [3]: von 68‘311 Einlings-Termingeburten sind die Daten von
89% erfasst worden:
Jahr
Anzahl Mütterl. Alter Gestationsalter I-Para Mehrpara Geb.ziffer Geb.gew.
2007 61‘117 30.8 Jahre
39.2 Wochen
48.8% 51.2%
1.46
3377g
Sectiorate ganze Schweiz 2007, korrigiert. 26%
Sectiorate Haus- und Geburtshausgeburten ganze Schweiz, 2007: 6.8%
Die Daten unseres outcome haben wir mit der Schweizer Sectiorate des Jahres 2007
(Gesamtrate 32.2%, abzüglich geschätzte 6.2% Sectiones bei Früh- und Mehrlingsgeburten)
und mit den von den freischaffenden Hebammen erhobenen Zahlen verglichen.(Statistik BfS
[3] und Statistische Daten vom Schweiz. Hebammenverband, 3402 Hebammengeburten
2007.[4])
Diskussion
1.Unsere Frauen sind älter und es sind häufiger Mehrgebärende, die Geburtenziffer ist
entsprechend höher als im Schweizer Durchschnitt.
Es leuchtet ein, dass Mehrgebärende älter sind als Erstgebärende.
Warum begleiten wir häufiger Mehrgebärende? Hausgeburtsfrauen wünschen sich eher eine
grössere Familie und sie bleiben nach einer ersten Geburt unserm Team treu.
Frauen aber, die zum ersten Mal schwanger werden, wählen eher Gynäkologinnen oder
Gynäkologen und entscheiden sich weniger für eine Hausgeburt.
Unsere Kinder werden im Schnitt 4 Tage später geboren und unsere Neugeborenen sind 113g
schwerer. Je länger die Gestationszeit, desto schwerer sind die Kinder, und Mehrgebärende
haben schwerere Kinder (mit einem Maximum beim 3. Kind).
2. Von unseren angefangenen Geburten konnten 82% zu Hause beendet werden. Für die
ganze Schweiz kommt der Hebammenverband im Jahr 2007 auf 89%.[4] Wir verlegen
häufiger ins Spital - unsere Hebammen sind vorsichtiger als im Schweizer Durchschnitt der
Haus- und Geburtshausgeburten.
3. Da zur Erklärung der stark unterschiedlichen Sectiorate häufig auf das grössere
Selbstbewusstsein der Hausgeburtsfrauen verwiesen wird, wäre ein Vergleich von Daten zu
diesem Selbstbewusstsein hilfreich. Dazu bräuchte es eine prospektive Studie, am besten
randomisiert. Diese Vorgabe ist unrealistisch.
Unsere Sectiorate 1999-2010 ist mit 6% vergleichbar mit in- und ausländischen
Hausgeburtsstudien.
Die Schweizer Hebammengeburten verzeichneten 2007 eine Rate von 6.8%, das sind rund
viermal weniger als in der Vergleichsgruppe aller Schweizerischen EinlingsTermingeburtenvon 2007.
Der Hebammenverband räumt ein, dass bei 15% eine Sectio begründet sein könne, weil bei
Frauen, die sich zum vornherein für eine Spitalgeburt entscheiden, mehr medizinische
Probleme zu erwarten sind. Solche Probleme kann es geben beim Missverhältnis
Kopf/Becken, Steisslagen, Nabelschnur- und Herztonproblemen und bei Seltenheiten wie
Eklampsie, placenta praevia u.a.
Benötigen schwere Kinder (mit einem mutmasslichen Missverhältnis Kopf/Becken) häufiger
eine Sectio? In der Spitalgeburtshilfe ist das so, unsere Hausgeburtskinder aber sind schwerer
(plus 113g im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt 2007), das Kindsgewicht erklärt somit
den Unterschied nicht.
Hingegen sind Kaiserschnitte bei Erstgebärenden häufiger, weil hier die Unsicherheit über
den Geburtsverlauf grösser ist.
4. Wie erwähnt, fehlen uns für eine signifikante Aussage zur Sicherheit unserer Hausgeburten
die grossen Zahlen. Die nötige Signifikanz liefert untern andern eine neue kanadische Studie
betreffend Sicherheit von über 12‘000 Geburten: 2900 Hausgeburten, 4700
Hebammengeburten im Spital und 5300 „Arztgeburten“ im Spital werden verglichen.
Die perinatale Letalität der Hausgeburten betrug 0.32%o, im Spital 0.6%o.
Eingriffe, mütterliche und kindliche Komplikationen waren zu Hause signifikant seltener. [1]
Schlussfolgerungen
Die Daten unserer Hausgeburten unterscheiden sich kaum vom Schweizer Durchschnitt,
ausser im grösseren Anteil von Mehrgebärenden.
Auffallend ist der grosse Unterschied der Sectioraten.
Selbstbewusste Frauen mögen eine Geburt gelassener angehen und sich häufiger für eine
Hausgeburt entscheiden.
Das erklärt sicher teilweise die Differenz. Daten dazu sind in einer retrospektiven Studie nur
ungenau zu erheben. Wir haben darauf verzichtet und können die Aussage nicht
quantifizieren.
Der wichtigste Grund für die tiefe Sectiorate bei Hausgeburten ist nach unsern Erfahrungen
das gelebte Konzept der abwartenden Geburtshilfe („meisterliche Zurückhaltung“).
Hebammen, die eine Hausgeburt betreuen, führen die Gebärende geduldig und greifen
höchstens mit sanften Massnahmen in den Geburtsverlauf ein, solange es der Frau und dem
Kind auch bei einem etwas protrahierten Verlauf gut geht.
Das Konzept ist richtig, wie die oben erwähnten Vergleichsstudien zur Sicherheit der
Hausgeburt beweisen [1/2]. Deren Resultate sind auf Schweizer Verhältnisse übertragbar.
Eine normal verlaufende Geburt zu Hause ist sicher und für alle Beteiligten ein zutiefst
befriedigendes Erlebnis.
Deshalb möchten wir die jungen Hausärztinnen und Hausärzte ermuntern, geburtshilflich tätig
zu sein.
S. 4
Eine schöne Hausgeburt
Eine verunsicherte Erstgebärende wird von der Hebamme zu mir zur letzten
Schwangerschaftskontrolle vor dem Termin überwiesen. Das Kind war vorher in Steisslage
und hat sich jetzt auf den Kopf gedreht. Es bewegt sich lebhaft, die Herztöne sind gut. Wegen
der pathologischen Lage war schon mal eine Sectio angekündigt worden, entsprechend freut
sich die Frau auf die jetzt mögliche Hausgeburt. Nach einer Woche: am Morgen meldet die
Hebamme, die Wehen haben zögerlich eingesetzt, der Muttermund sei 3cm offen. Ich erwarte
die baldige Geburt und höre gegen Abend, dass sich nicht mehr viel tut. Ich geniesse die
ungestörte Nachtruhe. Anderntags erneuter Anruf der Hebamme: launische Wehen,
Muttermund 6cm, die Fruchtblase steht, die Herztöne sind gut. Zwei Stunden später, die guten
Wehen lassen auf sich warten, beschliessen wir gemeinsam, das Tiefertreten des Kopfes mit
Lagerung (Mayastuhl) und Umhergehen lassen zu fördern und uns im übrigen, bei den guten
Herztönen, in Geduld zu üben. Wir setzen auf die Schwerkraft (Im Spital käme jetzt wohl ein
Wehentropf zum Einsatz). Gegen Abend werde ich zur Geburt gerufen, ich soll ja dabei sein.
Der Muttermund ist jetzt vollständig offen, und auf dem Mayastul setzen richtig gute
Austreibungswehen ein. Ein letztes Mal lassen wir der Frau Zeit, und nach einer halben
Stunde ist das Kind da.
Alle Beteiligten haben mehr als 24 Stunden warten können. Das Resultat: eine normale
vaginale Geburt, ein Mädchen, das sofort schreit, ein unverletzter mütterlicher Damm und
stolze, glückliche Eltern. Die Hebamme und der Hausarzt sind nicht minder glücklich und
zufrieden.
Mit Dank an alle Beteiligten:
Helen Burach, FMH Allgemeinmedizin, Nidau b.Biel.
Hebammen:Susi Bucher, Rüti b.B., Renate Umbricht, Recherswil, Marianne Luder, Lotzwil,
Marianne Nufer, Aarwangen, Mirjam Schneider, Walliswil b. Wangen, Ursula Schüpach, Biel
Literatur
1.
Janssen P.A. et al.: Outcomes of planned home births versus planned hospital
births after regulation of midwifery in British Columbia. Canadian MAJ 2002 Febr.
5;166(3); 315-323 CMAJ • SEPTEMBER 15, 2009 • 181(6-7
2.
TNO Institute for Applied Scientific Research:Vergleich von 529‘688 Lowrisk-Geburten im Spital und zu Hause, Niederlande, 2000-2007, De Jonge,A. et al.
“British Journal of Obstetrics and Gynaecology
3.
Bundesamt für Statistik: Geburtsstatistik 2007.
www.bfs.admin.ch, klicken „Gesundheit“-„Fortpflanzung, Gesundheit der
Neugeborenen“
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/14/02/03/key/04.html
4.
Tätigkeitserfassung der freipraktizierenden Hebammen der Schweiz, 2007,
Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel.
www.sage-femme.ch klicken „der Verband“ – „Statistik fpH 2007“
http://www.sage-femme.ch/de/heb/shv/stats.cfm
pdf Statistikbericht 2007 deutsch
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