Ein Erfahrungsbericht von Jens Holtermann

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10 Monate Moskau: Ein Erfahrungsbericht
von Jens Holtermann ([email protected])
Aufenthalt vom 1.9.2009 bis 30.6.2010
Die Idee meines Auslandsjahres entstand aus der Not heraus: Im März 2009 erfuhr ich, dass ich
aufgrund eines (inzwischen entfallenen) Paragraphen der Prüfungsordnung meine Bachelorarbeit im
Sommersemester noch nicht antreten durfte; obwohl ich im selben Semester alle weiteren offenen
Prüfungen mühelos absolvierte.
Ich grämte mich jedoch nur kurz und machte aus der Krise eine Chance: Als ich mich auf der
Homepage der Universität über die Möglichkeiten eines Studienaufenthalts im Ausland informierte,
fiel mein Augenmerk sofort auf Moskau. Denn ich lernte im recht fortgeschrittenen Stadium
Russisch am Sprachenzentrum und verbrachte bereits im vorherigen Sommer im Rahmen eines
DAAD-Stipendiums einen Monat in Russland, wobei mir die Stadt Moskau ganz besonders
imponierte.
Rund zwei Wochen vor offiziellem Bewerbungsende setzte ich erstmals einen Fuß ins AAA, um
mich über meine Chancen zu informieren. Tatsächlich war ich der erste Interessent des Jahres und
wurde „mit Kusshand“ begrüßt. (Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, dass man die angegebene
Bewerbungsfrist nur dann ernst nehmen müsse, wenn schon mindestens zwei Bewerbungen
vorliegen.)
Trotzdem bemühte ich mich erfolgreich, alle Unterlagen innerhalb des offiziellen Zeitrahmens
einzureichen. Die notwendige Übersetzung ins Russische optimierte freundlicherweise mein Dozent
vom Sprachenzentrum.
Die Zusage war aufgrund der wenigen Interessenten nur eine Formsache. Sobald ich die
Annahmeerklärung der Uni Rostock unterschrieben hatte (noch bevor die Einladung aus Moskau
kam), buchte ich mir meinen Hinflug Berlin-Moskau für 49,- € mit airberlin. Zu beachten gilt
hierbei, keinesfalls eine Einreise vor September zu planen, da das Visum erst ab dem 1.9. gültig sein
wird.
Ebenfalls günstig reist man mit Germanwings und airBaltic (Umstieg in Riga), teurer mit Lufthansa
und Aeroflot. Durch mögliche Sonderangeboten kann sich jedoch auch ein Blick auf deren
Homepages lohnen.
Auf dem Landweg stellt sich leider Weißrussland in den Weg; doch wen der Eintrittspreis von 30€
für einmaligen Transit und die Beantragung des zusätzlichen Visums in Berlin nicht stört, kann von
der deutschen Hauptstadt aus in 28 Stunden Moskau mit dem Zug erreichen. Für den Rückweg ist
dies jedoch eher zu empfehlen, da besagtes Transitvisum in Moskau nur die Hälfte kostet.
Desweiteren gibt es Busunternehmen, die Fahrten von Deutschland nach Moskau entweder auf
direktem Wege durch Weißrussland oder mit Umfahrung der „letzten Diktatur Europas“ anbieten.
Dies stelle ich mir als beschwerlichste Anreiseart vor.
Eine empfehlenswerte Rücktour führt nach Riga und von dort die Ostsee entlang. (über Klaipeda,
Kurische Nehrung, Kaliningrad, Danzig)
Warum erst für die Rücktour? Ganz einfach: Die erneute Einreise in die russische Exklave erfordert
ein Multivisum. Und das gibt es leider erst nach drei Monaten.
Und für die Romantiker unter euch: Die direkte Fährverbindung Rostock – St. Petersburg wurde
zwar vor einigen Jahren eingestellt, doch wen das Umsteigen in Helsinki oder Ventspils nicht stört,
kann Russland nach wie vor über den Wasserweg erreichen.
Die letzte mir noch als logisch erscheinende Route umgeht Weißrussland südlich, durch die
wunderschöne Ukraine, die so oder so von euch besucht werden sollte. (Genau wie St. Petersburg
im Norden und Kasan im Osten. Die russischen Bahnpreise laden zu vielen Ausflügen ein.)
„Hier ist dein Studienausweis, hier dein Semesterticket und hier dein Zimmerschlüssel. Hab ein
schönes Semester!“ Diesen Satz bekam eine Freundin in Spanien gesagt, in Russland werdet ihr so
etwas garantiert NICHT hören. Um jedes einzelne Dokument muss man kämpfen wie Asterix um
den „Passierschein A38“. Die russische Bürokratie ist eine einzige, große Lektion in Demut.
Wer Kafka gelesen hat, kann spätestens jetzt das bedrückende Gefühl seiner Prosa auf konkrete
Situationen beziehen. Doch anders als bei Kafka gibt es in der Moskauer Staatlichen Universität
zumeist ein „Happy End“. Man kann die vielen Behördengänge also auch als Schulung in Geduld
betrachten.
Nach der erneuten Lektüre aller vergangenen Erfahrungsberichte fiel mir auf, wie wenig sich über
die Jahre in den meisten Bereichen doch geändert hat.
Einer großen Revolution wurde ich jedoch Zeuge: Das Internet! Es kam auf unsere Zimmer!!
Schnell und zuverlässig!!! Und das sind die wenigsten Dinge in Moskau; mir fallen ansonsten
höchstens noch die (importierten) Autos auf Moskaus Straßen ein.
Also packt ruhig Laptop und Netzwerkkabel ein! Zur Not lässt sich beides jedoch auch im "Media
Markt" um die Ecke erwerben. "Qualität, hergestellt in Deutschland" lautet ihr Slogan, gedruckt mit
schwarz-rot-goldene Flaggen auf dem vertrauten Rosa. Produziert wird das meiste trotzdem in
Asien. Noch weiter treibt es die Firma Oettinger: Hierzulande als "Pennerplörre" und "Bier für
Hartz IV" verschrien, betiteln sie sich in Russland selbstbewusst als "Bier #1 in Deutschland!".
Dass sich dies einzig auf die Verkaufszahlen bezieht, wird natürlich verschwiegen.
Überhaupt genießt Deutschland in jeglicher Hinsicht ein sehr hohes Ansehen: Sagt ruhig frei
heraus, woher ihr seid, das ist meist der beste Einstieg in Gespräche mit Einheimischen. Viele haben
auch Freunde oder Bekannte in Deutschland, waren selbst schon mal dort oder zumindest
beeindruckt vom Auftritt der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der WM-Endrunde oder
beim WM-Qualifikationsspiel im Moskauer Lushniki-Stadion.
„Moskau - die teuerste Stadt der Welt?“ Tatsächlich führte Moskau vor einiger Zeit diverse Indices
führender Wirtschaftsmagazine der kostspieligsten Städte der Welt an. Ganz so schlimm ist die
Lage jedoch nicht, schließlich gibt es Rentner, die von 150€ oder weniger im Monat auskommen
müssen. Mein persönliches Budget betrug 250€/Monat, somit war mein Leben hier günstiger als in
Rostock. Dies lag vor allem daran, dass aufgrund des Vertrages zwischen den Universitäten in
Moskau und Rostock weder Studiengebühren noch Miete anfallen. Andere gaben jedoch weit mehr
aus pro Monat, nach oben hin sind in der „Welthauptstadt der Milliardäre“ keine Grenzen gesetzt.
"Warum schafft man eigentlich trotz doppelter Anstrengung in Russland immer nur halb so viel?"
Wie oben erwähnt kann Moskau manchmal wirklich frustrierend sein. Sprachkurse fallen aus,
Dozent oder Raum ändern sich ohne Vorankündigung. Ein „zentrales Vorlesungsverzeichnis“ sucht
man vergeblich und Vorlesungen sind viel zu oft wirklich nicht mehr als „Vorlesungen“. Betrachtet
man die schlechte Bezahlung des Personals, sind solche Erscheinungen aber jedoch nicht
verwunderlich. Besonders die Lehrkräfte der philologischen Fakultät sind jedoch überwiegend so
freundlich und hilfsbereit, dass dies über vorherigen Frust hinwegtröstet.
"Wow, fast ein ganzes Jahr nach Russland, da muss man sich bestimmt aufwendig vorbereiten!"
Nö, eigentlich gar nicht! Flug buchen, Visum besorgen, Auslandskrankenversicherung
unterschreiben (z.B. DKV für ca. 23€ im Monat) und vielleicht noch einmal den deutschen
Zahnarzt einen Blick auf die Zähne werfen lassen, schon kann es losgehen!
Ich verspreche euch: Moskau lohnt sich!
Von oben links nach unten rechts: Hauptgebäude der Universität (inkl. Wohnheim), Soziologische
Fakultät, auf dem Seitendach des Hauptgebäudes (pssst, streng verboten!), Mittag in der Mensa,
Schlittschuhspaß im Gorki-Park, Moschee in Kasan.
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