aus Akureyri geflohen, als die Keksfabrik Lorelei bankrott ging. Nun hatte er Arbeit im Kraftwerk am Búrfell bekommen und brauchte ein Zimmer für Weihnachten und die Wochenenden. »Perfekt«, sagte Ásta und wedelte mit den Händen, ohne darauf zu achten, ob sie auf die Zimmertür oder auf das Küchenfenster zielte. »Willst du einen Kaffee, Andri?« »H2O für mich.« »H zwei was? Du trinkst, was auf den Tisch kommt«, sagte Ásta und versuchte, die Herrenlosigkeit ihres Haushaltes zu kompensieren. »Er will nach dem Abitur Medizin studieren«, erklärte Ágústa und zwinkerte Hreggviður zu. »Will er nicht mehr Schriftsteller werden?« fragte Sista. »Slaughter war doch auch Schriftsteller«, fügte Ágústa eilig an. »Trotzdem nicht nötig, Latein mit uns zu reden«, sagte Magnea, »wir sind nur die breite Masse.« »Ist es nicht die breite Masse, die all die Ärzte und Priester, ja sogar Schriftsteller mitgetragen hat?« fragte Hreggviður und tastete sich vorwärts wie ein Mann auf dünnem Eis. Dann begannen sie Isländisch zu reden: »Akureyri! Kennst du den Ísak?« »Das ist mein Bruder«, antwortete Hreggviður. Andri zog sich in sein Kabuff zurück und dachte weiter über seine Position als Schriftsteller nach. Die Rangordnung in der isländischen Literatur schien sich bei den Großmüttern zu entscheiden. Wer die älteste Oma hatte, trug den Sieg davon. Halldór war auch hier unschlagbar: Seine Großmutter reichte in die Zeit der irischen Mönche zurück und sprach »die Sprache einer achthundert Jahre alten Kultur der isländischen Binnenlandbewohner«. Andri erinnerte sich vage daran, daß ihm seine eigene Oma mit Hilfe von Tarzan-Comics im Vísir Lesen beigebracht hatte. Aber sprach sie irgendeine Sprache? Er wußte noch, daß sie südisländischen Dialekt gesprochen und »Händ« und »Zähn« gesagt hatte. Für so etwas bekäme niemand den Nobelpreis. Vielleicht war er einfach nur ein Prolet, zusammengeschustert aus Vísir, Donald Duck und Superheldencomics. »Was mich besonders betrübt, ist, daß ich keine Sätze formulieren kann. Ich habe das Gefühl, fortwährend Seile aus Sand zu flechten. Ich kann auch kein Isländisch ; nein, das weiß derjenige, der alles weiß, ich kann absolut nichts auf isländisch«, schrieb Halldór Kiljan Laxness in einem Brief aus Clervaux im Jahre 1923. Daraus konnte man den Schluß ziehen, daß er nicht von Geburt an in der fertigen Kiljanshaut gesteckt hatte. Sie war erarbeitet. Der Kopfschmerz zerlegte die Formel in Einzelteile und versuchte zu erfassen, wie sie zusammengesetzt war. Um einen Anfang zu machen, wollte er das Isländische Wörterbuch exzerpieren. All diese großartigen Wörter lernen: Aalraupe (ein dem Aal ähnlicher Fisch), abachen (sich durch Ächzen abmatten), abäußern (den Bauern vom Hofe setzen), Abhub (was abgehoben wird, zumal die Speise von der Tafel) ... Der Sendung Alltagssprache im Radio lauschen. In letzter Zeit hatte viel zum Thema Selbstmord in den Zeitungen gestanden. Der Sprecher setzte bei der Redewendung »Selbstmord begehen« ein und behauptete, diese sei dänisch und englisch, wenn die Worte auch isländisch waren: Auf isländisch verkürzen wir uns das Alter, töten uns, sterben von eigener Hand, werden uns selbst zur Todesursache oder bringen uns um. Die Verantwortung derer, die ›Selbstmord begehen‹, ist groß, wenn