NZZ am Sonntag; 22. Januar 2012; 4 35 Wirtschaft (wi) Mein Standpunkt In der Schweiz sind die Einkommen am gleichmässigsten verteilt Beat Kappeler Die Einkommen sind in der Schweiz am gleichmässigsten verteilt, im Vergleich aller westlichen Länder. Dies nicht obwohl die Schweiz reich ist, sondern weil sie so wohlhabend ist. Solche Heimatkunde der besonderen Art ist immer wieder nötig, weil völlig unbekannt. Ausserdem ist die Quelle dazu unverdächtig, es sind die neuesten Zahlen der OECD, der Organisation der reichen Länder. Das statistische Mass erscheint etwas unhandlich dazu, es ist der Gini-Index. Er stellt die Einkommensverteilung dar von der Zahl 0, der völligen Gleichverteilung, bis zu 1, der völligen Konzentration der Einkommen auf eine einzige Person im Lande. Die Einkommen der Schweizer Einwohner im erwerbsfähigen Alter weisen die Konzentrationszahl 0,338 auf, jene der Amerikaner 0,453. Statistisch gesehen liegen sie Welten auseinander, denn die völlige Gleichverteilung oder die totale Konzentration gibt es nicht, so dass sich die gemessenen Werte natürlich stark in der Mitte drängen, ob man nun Einkommen oder die Grösse von Kartoffeln oder Bienen misst. Jedenfalls erweist sich die Einkommenskonzentration der Schweizer als gleicher denn jene der Skandinavier, die sonst die zweitgleichsten Verteilungen aufweisen. Die mit vielen vermeintlich sozialen Bremsen ausgestatteten Deutschen oder Franzosen liegen viel näher bei den Ungleichheiten der USA. Den Rekord an Ungleichheit bieten aber, unter den OECDMitgliedern, Chile und Mexiko, Italien, Portugal und die Türkei, also die eher ärmeren Länder. Ein hohes allgemeines wirtschaftliches Niveau scheint die Einkommen gleichmässiger zu streuen. Doch gibt es eine gemeinsame Erklärung hinter dem Wohlstandsniveau und der gleichen Verteilung. Es ist die Beteiligung am Arbeitsmarkt. Die Schweizer Einwohner zwischen 15 und 64 Jahren arbeiten zu 82%, jene der EU nur zu 71%, in Italien gar nur 62%. Diese schweizerische Erwerbsquote stellt einen Weltrekord dar, den zwar die noch fleissigeren Isländer leicht überbieten, aber die haben ja auch grausliche Schulden abzutragen. Übrigens arbeiten die Ausländer im erwerbsfähigen Alter in der Schweiz gleich intensiv, nämlich zu 81% – eine einmalige Integrationsleistung dort, wo es zählt und wo gleiche Chancen verteilt werden, in der Volkswirtschaft. Die Kabarettisten könnten sich eigentlich die dämliche Nummer mit der für Immigranten ungastlichen Schweiz sparen und den Blick mal in die europäische Runde werfen. Die hohe Erwerbsquote bringt also Integration, aber vor allem Wohlstand. Sie dementiert die unverständliche Meinung der lateinischen Länder Europas und der meisten Gewerkschaften, dass Arbeit reduziert und sparsam ausgeübt werden solle, damit alle Arbeit hätten. Im Gegenteil, wenn viele arbeiten, rollt die Kaufkraft, und viele können arbeiten. Ausserdem spart man Sozialausgaben. Denn allein unter den Altersklassen zwischen 15 und 64 müssen in der Schweiz vier Erwerbstätige eine nicht erwerbstätige Person mittragen. In der EU trifft es schon auf drei Arbeitende eine Person, und in Italien auf drei Arbeitende zwei Passive. Steuern, Lohnprozente sind deshalb in jenen Ländern hoch und schrecken die Arbeitgeber von Einstellungen ab, ein Teufelskreis. Die OECD liefert die Zahlen dazu gleich auch. In der Einkommensverteilung nach Steuern, Abgaben und Zuschüssen rücken die Skandinavier, Belgier, Osteuropäer und Österreicher näher zur Gleichheit auf. Dann aber folgt gleich schon wieder die Schweiz mit ihrem Gleichmass an verfügbaren Einkommen. Die ebenfalls stark umverteilenden Länder Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien folgen erst nachher. Die Erklärung liegt eben wieder in der hohen Erwerbsbeteiligung – wenn viele arbeiten können, muss wie in der Schweiz weniger umverteilt werden, und die Verteilung nach den Abschöpfungen und Zuschüssen ist trotzdem gleichmässiger. Die überschuldeten südeuropäischen Länder und Frankreich suchen gegenwärtig nach drastischen Einsparungen beim Staatshaushalt und in der Umverteilung. Die Empörung ist gross, weil die Politiker fünfzig Jahre lang Gleichheit und Gerechtigkeit versprachen, doch den Arbeitsmarkt verriegelten. Genau damit aber lieferte er nicht Gleichheit und Gerechtigkeit. Nun dämmert es, dass weniger Kündigungsschutz auch weniger Privilegien der Eingestellten gegenüber den arbeitslosen Jungen brächte, dass freies Arbeiten mit Überzeit und je nach Auftragslage der Firmen mehr Umsätze und dann mehr Stellen brächte. Doch die Funktionäre Südeuropas und Frankreichs widersetzen sich, weil ihre Triumphe an zentral verfügter Arbeitsentwöhnung der Völker schal geworden sind. Wenn die Entscheide, ob man länger, flexibler arbeitet, zurück in die Betriebskommissionen oder gar an die einzelnen Arbeitenden gegeben würden, anstatt zentral und gesetzlich rationiert blieben, dann entglitte den Funktionären in einem ersten Schritt die Macht. Sie könnten diese in einem zweiten Schritt zurückgewinnen, wenn sie dezentral als Berater der einzelnen Belegschaften wirken würden, ähnlich wie in Nordeuropa in vielen Bereichen. Dann sähen die Arbeitenden sogar die Notwendigkeit der Verbandsbeiträge ein, und die Gewerkschaften müssten sich nicht aus vielfachen staatlichen oder obligatorisch verfügten Abgaben finanzieren. Solche ökonomische Kunde für Europas Süden und solche doch recht befriedigende Heimatkunde für den Schweizer Arbeitsmarkt führen zur richtigen Motivation, um dem Kontinent wieder aufzuhelfen.