Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 21 Faschismus in Italien und Deutschland Studien zu Transfer und Vergleich Wallstein Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 21 »Faschismus in Italien und Deutschland« 1 Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 21 2 Faschismus in Italien und Deutschland Studien zu Transfer und Vergleich Herausgegeben von Sven Reichardt und Armin Nolzen WALLSTEIN VERLAG 3 HerausgeberInnen und Redaktion: Christoph Dieckmann, Wolf Gruner, Rüdiger Hachtmann, Anne Klein, Birthe Kundrus, Beate Meyer, Armin Nolzen, Babette Quinkert, Sven Reichardt, Thomas Sandkühler und Sybille Steinbacher Herausgeberinnen und verantwortliche Redakteurinnen dieses Bandes: Sven Reichardt und Armin Nolzen Postanschrift der Redaktion: Jun.-Prof. Dr. Sven Reichardt Universität Konstanz Fachbereich Geschichte und Soziologie Fach D 1 Universitätsstraße 10 78457 Konstanz © der Texte bei den AutorInnen © dieser Ausgabe Wallstein Verlag, Göttingen 2005 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann Für die Umschlagabbildung waren die Rechteinhaber nicht festzustellen. Hier ist der Verlag bereit, nach Anforderung rechtmäßige Ansprüche abzugelten. Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-89244-939-3 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2205-9 Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wolfgang Schieder Faschismus im politischen Transfer Giuseppe Renzetti als faschistischer Propagandist und Geheimagent in Berlin 1922-1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Petra Terhoeven »Nicht spenden, opfern« Spendenkampagnen im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland als Disziplinierungs- und Integrationsinstrument . . . . . . . . 59 Daniela Liebscher Faschismus als Modell: Die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro und die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« in der Zwischenkriegszeit . . 94 Waltraut Sennebogen Propaganda als Populärkultur? Werbestrategien und Werbepraxis im faschistischen Italien und in NS-Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Thomas Schlemmer Das königlich-italienische Heer im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion Kriegführung und Besatzungspraxis einer vergessenen Armee 1941-1943 . . . . 148 Amedeo Osti Guerrazzi/Costantino Di Sante Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien . . . . . . . 176 Michael Ebner Terror und Bevölkerung im italienischen Faschismus . . . . . . . . . . . . . 201 Fundstück Armin Nolzen Ein Schreiben Robert Leys an Rudolf Heß vom 25. November 1933 zum Verhältnis zwischen Staat und Partei im italienischen Faschismus . . . . 225 Rezensionen Michael Mann, Fascists (Jan Eckel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . 238 Tina M. Campt, Other Germans. Black Germans and the Politics of Race, Gender and Memory in the Third Reich und Clarence Lusane, Hitler’s Black Victims. The Historical Experiences of Afro-Germans, European Blacks, Africans, and African Americans in the Nazi Era und Peter Martin/Christine Alonzo (Hg.), Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus (Birthe Kundrus) . . . . . . . . . . . . . . 241 Elisabeth Malleier, Jüdische Frauen in Wien 1816-1938 (Anna Hájková) . . . . 246 Bernhard Rosenkötter, Treuhandpolitik. Die »Haupttreuhandstelle Ost« und der Raub polnischer Vermögen 1939-1945 und Jeanne Dingell, Zur Tätigkeit der Haupttreuhandstelle Ost, Treuhandstelle Posen 1939 bis 1945 (Jochen Böhler) . . . . . . . . . . . . . . 248 Karel C. Berkhoff, Harvest of Despair. Life and Death in the Ukraine under Nazi Rule (Nicholas Terry) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Klaus Jochen Arnold, Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im »Unternehmen Barbarossa« (Christoph Dieckmann) . . . . 253 Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945 (Anette Timm) . . . . . . . . . . . 255 Kerstin von Lingen, Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung (Daniel Uziel) . . . . . . . . . 258 Monica Kingreen (Hg.), Der Auschwitz-Prozess 1963-1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung und Fritz Bauer Institut/Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Hg.), Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte/Protokolle/Dokumente und Irmtrud Wojak (Hg.), Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main (Anne Klein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Kathrin Meyer, Entnazifizierung von Frauen. Die Internierungslager der US-Zone Deutschlands 1945-1952 (Simone Erpel) 263 Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes (Veronika Springmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmords. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus (Carl-Wilhelm Reibel) . . 267 Ingo Böhle, Private Krankenversicherung (PKV) im Nationalsozialismus. Eine Unternehmens- und sozialgeschichtliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der Deutschen Krankenversicherung AG (DKV) (Winfried Süß). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Michael H. Kater, Hitler-Jugend (Armin Nolzen) . . . . . . . . . . . . . . . 271 Ebba D. Drolshagen, Wehrmachtskinder. Auf der Suche nach dem nie gekannten Vater (Regina Mühlhäuser) . . . . . . 273 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 8 Editorial »Whatever happened to ›fascism‹?« Diese rhetorische Frage stellte der britische Historiker Timothy W. Mason im April 1988.1 Anläßlich einer Konferenz an der Universität von Pennsylvania, die den Titel »Reevaluating the Third Reich« trug, war Mason die Aufgabe gestellt worden, die Reichweite der in den 1960er und 1970er Jahren prominenten Faschismustheorien kritisch zu analysieren. In diesem Zusammenhang plädierte er dafür, den Vergleich zwischen dem faschistischen Italien und dem NSStaat zu intensivieren und warnte die NS-Forschung davor, dies abzulehnen und sich in den Provinzialismus zu begeben. Trotz Masons eindringlicher Argumentation bewegte sich die westdeutsche Historiographie zum »Dritten Reich« noch bis in die Mitte der 1990er Jahre fast ausschließlich im nationalstaatlichen Rahmen und sah von vergleichenden Forschungen weitgehend ab. Dazu trugen auch die Probleme bei, die sich in der Faschismusdebatte der 1970er Jahre ergeben hatten.2 Diese war ökonomistisch verengt, kam ohne fundierte empirische Studien aus, war vergleichsarm und bezog sich oft nur auf den Nationalsozialismus. Die Diskussion, die sich zunehmend dogmatisch verhärtete, hatte sich lange auf die Frage konzentriert, ob der deutsche Faschismus einen eigenständigen Machtfaktor im »Klassengleichgewicht« dargestellt habe oder ob die NS-Führung nur eine »Marionette des Kapitals« gewesen sei. Man stritt darüber, welche Unternehmergruppen am stärksten von der NS-Herrschaft profitiert und welche Bedeutung finanzielle Zuwendungen aus bürgerlichen Kreisen für den Aufstieg des Faschismus hatten.3 Gleichgewichtig vergleichende, typologisch differenzierte, handlungstheoretisch orientierte und kulturtheoretisch inspirierte Ansätze spielten dabei kaum eine Rolle. 1 Timothy W. Mason, Whatever happened to ›fascism‹?, in: Ders., Nazism, fascism and the Working Class, hg. v. Jane Caplan, Cambridge 1995, S. 323-331, hier: S. 323 f. Für Hilfen bei der Erstellung dieses Bandes möchten wir Anja Bertsch, Ulrich Schumacher und Agata Sadowska herzlich danken. 2 Zur Faschismusforschung zusammenfassend Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7., überarb. Aufl., Darmstadt 1997 (Erstauflage: 1972); Richard Saage, Faschismustheorien, 4., durchges. Aufl., Baden-Baden 1997 (Erstauflage: 1976); Reinhard Kühnl, Der Faschismus. Ursachen und Herrschaftsstruktur. Eine Einführung, 4., überarb. Aufl., Heilbronn 1998 (Erstauflage: 1979); Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, 5. Aufl., Königstein 1979 (Erstauflage: 1964); Wolfgang Abendroth (Hg.), Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktionen des Faschismus, Frankfurt am Main 1967; Hans-Ulrich Thamer/Wolfgang Wippermann, Faschistische und neofaschistische Bewegungen. Probleme empirischer Faschismusforschung, Darmstadt 1977. 3 Vgl. die Kritik von Heinrich August Winkler, Die »neue Linke« und der Faschismus, in: Ders., Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 65-117, sowie Wolfgang Kraushaar, Spuren eines Paradigmenwechsels. Von der Totalitarismus- zur Faschismustheorie, in: Ders., Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke, Frankfurt am Main 2001, S. 109-130. 9 editorial Diese Einengung der Fragestellung und die Empiriearmut der Debattenbeiträge führten allmählich zu einer tiefen Krise der Faschismustheorie in Deutschland. In den 1980er Jahren dominierten wiederum empirisch breit abgesicherte Einzelforschungen, die sich um die soziale Basis des Nationalsozialismus, seine lokalen Organisationsstrukturen oder seine alltagsgeschichtlichen Dimensionen kümmerten, ohne die vielfältigen Ergebnisse theoretisch zu verorten oder in einen vergleichenden Bezugsrahmen einzuspannen. Hans-Gerd Jaschke sprach für diese Zeit nicht zu Unrecht von einem »theorielosen Empirismus« und einem Abrutschen in »marginale Fragestellungen« der Faschismusforschung.4 Während es also in den 1970er Jahren an Empirie mangelte, fehlte es in der deutschen NS-Forschung in den 1980er und frühen 1990er Jahren an übergreifenden theoretischen Ein- und Zuordnungen. Der empirisch gesättigte Regimevergleich stand während des gesamten Zeitraums am Rande und ist bis heute ein Stiefkind der deutschen Forschung geblieben. Diesem Problemfeld widmet sich der vorliegende Sammelband, der neuere theoretische und methodische Entwicklungen der internationalen Faschismusforschung aufgreift und anhand eines Vergleichs der faschistischen Kernländer in Italien und Deutschland empirisch überprüft. Im Vordergrund steht hierbei nicht primär die Weiterentwicklung des theoretischen Ansatzes, sondern dessen Anwendung auf konkrete Fälle. Dabei sollen wechselseitige Wahrnehmungen und Beeinflussungen der faschistischen Bewegungen und Regime in Italien und Deutschland in die Analyse einbezogen werden. 1. Zum aktuellen Stand der Faschismustheorie Das weitgehende Fehlen einer vergleichenden Faschismusforschung in Deutschland liegt unter anderem auch darin begründet, daß die neue Welle der Faschismusforschung, die in den 1990er Jahren in Großbritannien und in den USA einsetzte, hierzulande niemals wirklich angekommen ist.5 An dieser neueren Debatte haben sich bislang fast ausschließlich britische und amerikanische Historiker und Sozialwissenschaftler beteiligt. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß der Faschismus kulturhistorisch akzentuiert und als ein durch seine spezifische Kultur und Ästhetik gekennzeichneter Politikstil bestimmt wird. Damit werden die Selbstbeschreibungen und Selbstrepräsentationen der faschistischen Bewegungen ernst genommen und in die Faschismusdefinition integriert. Der europäische Faschismus ging in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl mit seiner Visualisierung und Ästhetisierung der Politik als auch mit der partiellen Fusion von Staatspolitik und Ästhetik weiter als andere Regime seiner Zeit. Er war nicht so sehr durch eine »primacy of culture over politics« 4 Hans-Gerd Jaschke, Soziale Basis und soziale Funktion des Nationalsozialismus – Alte Fragen, neu aufgeworfen, in: Hans-Uwe Otto/Heinz Sünker (Hg.), Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1991, S. 18-49, hier: S. 21. 5 Zur internationalen Faschismusforschung seit 1990 zusammenfassend Sven Reichardt, Was aus dem Faschismus geworden ist. Ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung seit 1990, Teil 1, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 385-406. 10 editorial gekennzeichnet, wie Roger Griffin in Anlehnung an Masons bekannte Formulierung (»primacy of politics over economy«) formuliert hat, sondern verband Politik und Kultur oder genauer: Gewaltpolitik und Erlebniskultur miteinander.6 Deshalb wird Faschismus in der neueren Forschung sowohl als politik- als auch als kulturgeschichtliches Phänomen bestimmt, wobei die Formelemente und Ausdrucksseiten, also Rhetorik, Rituale, Mythen und Symbole, im Zentrum der Analyse stehen. Der Faschismus ist dadurch zum Gegenstand einer kulturwissenschaftlich inspirierten Körper-, Geschlechter- und Diskursgeschichte geworden, die nach der faschistischen Identitätspolitik, ihren Bildern oder ihrer Sprache fragt. Faschismus wird in der jüngeren Forschung zudem nicht mehr primär durch ein statisches Set von Merkmalen definiert, sondern als Prozeß begriffen, der verschiedene Entwicklungsstufen durchlief.7 Insofern können politische Bewegungen, die anfänglich durchaus als faschistisch zu bestimmen sind, diesen Charakter im Laufe ihrer Konsolidierung oder Einbindung in die jeweiligen Staatsapparate – etwa durch veränderte Zielsetzungen, abnehmende Gewaltsamkeit, Bürokratisierung oder verminderte Massenwirksamkeit – verlieren. Nicht alle Phänomene, die zum Beispiel das Mussolini-Regime oder den NS-Staat kennzeichneten, können als »faschistisch« bezeichnet werden, und nicht alle Aspekte beider Gesellschaften lassen sich unter dem Schlagwort »Faschismus« subsumieren. Damit wird der Anspruch des Faschismusbegriffs insoweit auf eine Theorie »mittlerer Reichweite« reduziert,8 als danach gefragt wird, auf welche Elemente und Entwicklungsphasen von sozialen Bewegungen und politischen Regimen dieser Begriff überhaupt angewandt werden kann. In Anlehnung 6 Vgl. Roger Griffin, The Primacy of Culture: The Current Growth (or Manufacture) of Consensus within Fascist Studies, in: Journal of Contemporary History ( JCH) 37 (2002), S. 21-43, hier: S. 42 (Zitat), sowie Angelica Fenner/Eric D. Weitz, Introduction, in: Dies. (Hg.), Fascism and Neofascism. Critical Writings on the Radical Right in Europe, New York 2004, S. 1-18. 7 Roger O. Paxton, The Anatomy of Fascism, New York 2004; ders., The Five Stages of Fascism, in: Journal of Modern History ( JMH) 70 (1998), S. 1-23; Wolfgang Schieder, Faschismus, in: Richard von Dülmen (Hg.), Fischer-Lexikon Geschichte, Aktualisierte, vollständig überarbeitete und ergänzte Neuaufl., Frankfurt am Main 2003, S. 199-221, sowie Sven Reichardt, Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture, Bielefeld 2004, S. 129-153. Auch Stanley Payne hat seine erstmals 1980 publizierte Studie (Fascism. Comparison and Definition, Madison 1980) in der sehr stark erweiterten Neuauflage von 1995 zu einer Geschichte des Faschismus mit handlungsorientiertem Ansatz erweitert, allerdings ohne seinen typologischen Merkmalskatalog im Hinblick auf die verschiedenen Entwicklungsphasen des Faschismus auszubauen. Die Arbeit liegt mittlerweile auf deutsch vor: Stanley Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, Berlin 2001. 8 Der Begriff »Theorien mittlerer Reichweite« stammt vom Soziologen Robert K. Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, hg. und eingel. v. Volker Meja u. Nico Stehr, Berlin/ New York 1995, hier: S. 3-9. Martin Broszat, Grenzen der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung. Der Historiker und der Nationalsozialismus, in: Ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 162-184, hier: S. 175, hat diesen Terminus in die NS-Forschung eingeführt. 11 editorial an die neuere Theoriediskussion wird Faschismus im folgenden als politische und soziale Praxis verstanden, welche sich in Symbolen, Ritualen und Weltsichten einer rassistischen und »völkisch« homogenen Gemeinschaft artikulierte.9 Der faschistische Kult von Einheit und Reinheit, von Gemeinschaft und Willen wurde von nationalistischen Militaristen getragen, die in Massenverbänden organisiert und mit den traditionellen Eliten verbunden waren, wobei sie diese nicht zuletzt durch ihre kulturrevolutionären Vorstellungen zugleich herausforderten. Der Faschismus war ein politisches Paradoxon, weil er populistischen Massenenthusiasmus mit ziviler Unterordnung, Ordnung mit Destruktion, konservative Beharrung mit dynamisch-juveniler Mobilität und Fanatismus mit Opportunismus verband. Die Ablehnung der liberal-demokratischen Gesellschaft wie auch der sozialistischen Bewegungen manifestierte sich in der ebenso massiven Gewaltausübung eines autoritär strukturierten Staates, der auf die »Reinigung« der Nation und auf Expansion angelegt war. Die Radikalität des Faschismus wurde durch eine Herrschaftsstruktur befördert, die sich vor allem durch charismatische Führerschaft, permanente propagandistische Mobilisierung und eine gemeinsame »Weltanschauung« stabilisierte.10 Der Faschismus manifestierte sich jedoch nicht primär in einer ideengeschichtlich faßbaren, einheitlich zu beschreibenden Ideologie, sondern weit mehr in körperlichen Verhaltensroutinen, kollektiven Sinnmustern, Symbolen und subjektiven Sinnzuschreibungen der historischen Akteure, die wiederum in ihrem Handeln verankert waren. Der Faschismus hatte seinen Schwerpunkt im »politischen Feld«, in dem es um Machtkämpfe, Affekte und Emotionen sowie um strategische Ziele ging, währenddessen seine Implementierung im »intellektuellen Feld«, in dem es um die Entwicklung möglichst kohärenter Ideologien, Doktrinen und Ideen geht, nachrangig blieb.11 Seine historische Hochphase erlebte der Faschismus in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, wobei die weite Verbreitung und Akzeptanz eugenisch geprägter Schemata sozialer Wohlfahrt, die von der Kriegsplanung hervorgerufenen Phantasien einer totalen und staatlich angeleiteten Gesellschaftsgestaltung, ein übersteigerter und auf Gemeinschaftsbindungen ausgelegter populistischer Nationalismus, die Verbreitung von Antikommunismus und Antifeminismus, die Akzeptanz von Gewalt und Militarismus als Mittel der Politik sowie die Attraktivität einer charismatische Elemente 9 Zum folgenden Paxton, Anatomy (wie Anm. 7), S. 16 u. 218-220; Michael Mann, Fascists, Cambridge 2004, S. 13-17 u. 358-360, sowie Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln/ Weimar/Wien 2002, S. 19-36. 10 So Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 13. Aufl., München 1992 (Erstauflage: 1969), S. 33-49. Zu Broszats NS-Interpretation siehe Armin Nolzen, Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die NSDAP. Einige Bemerkungen zur »funktionalistischen« Interpretation des »Dritten Reiches«, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 32 (2000), S. 433-450. 11 Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 11, sowie Reichardt, Kampfbünde (wie Anm. 9), S. 22-26. 12 editorial enthaltenden Form theatralischer Politikführung den Erfolg der faschistischen Bewegungen massiv beförderten. Der Faschismus stand in enger Verbindung mit dem krisenhaften politischen und sozialen Wandel nach 1918, da die tiefgreifenden Ängste der traditionellen Eliten und der Mittelklassen vor einem Verlust der hergebrachten Wirtschaftsordnung, die sozialen Konflikte, die Inflation und die Störung des internationalen Handels (später auch die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit) dem Faschismus seine Schubkraft verliehen haben. Ohne den historischen Kontext der ökonomischen, sozialen und militärischen Wandlungsprozesse kann der Faschismus nicht adäquat verstanden werden. In diesen Zusammenhang gehört auch die »historische Leitfunktion« (Wolfgang Schieder) des italienischen Faschismus, der die Bedeutung der Transfers und der Verflechtungen zwischen den Faschismen unterstreicht. Zudem waren die zeitliche Überschneidung der Prozesse der Nationalstaatsund Verfassungsbildung mit dem der Industrialisierung sowie die Dominanz einer autoritär geprägten politischen Kultur innerhalb sich sozioökonomisch modernisierender Gesellschaften wichtige Voraussetzungen, die Entstehung, Verlauf und Ausprägung der Faschismen in Italien und Deutschland bedingten.12 2. Faschismus als Entwicklungsprozeß Seit den 1980er Jahren hat Wolfgang Schieder ein dreistufiges Modell für den italienischen und deutschen Faschismus entwickelt, bei dem er zwischen der Bewegungs-, Durchsetzungs- und Regimephase unterscheidet.13 Schieder hat später noch eine vierte Phase dazu genommen, die den Radikalisierungsprozeß des Nationalsozialismus als »totalitäres Diktaturregime faschistischer Prägung« kennzeichnet. Gemeint ist die sukzessive Entmachtung der konservativen Bündnispartner, die den Prozeß der »Verselbständigung faschistischer Apparate« noch einmal deutlich beschleunigte. Mit der sukzessiven Zurückdrängung der Deutschnationalen, der Wirtschaftsgruppen, der Wehrmachtsführung und des Auswärtigen Amtes ging, so Schieder, der Nationalsozialismus über sein historisches Vorbild Italien hinaus.14 Für die ersten drei Stufen lassen sich nach Schieder jedoch deutliche Parallelen nachweisen. Nach der Bewegungsphase, die durch vielerlei Gemeinsamkeiten in der kollektiven Gewaltausübung, in der charismatisch vermittelten und durch jugendliche Mitglieder bestimmten Lebensform, im paramilitärischen Aktionsstil und im Aufstieg der 12 Kevin Passmore, Fascism. A Very Short Introduction, Oxford 2002, S. 49 u. 90, ders., Generic fascism and the historians, in: Erwägen – Wissen – Ethik 15 (2004), Nr. 3, S. 335 ff.; Mann, Fascists (wie Anm. 9), S. 23 f.; Paxton, Anatomy (wie Anm. 7), S. 19; Aristotle A. Kallis, The ›Regime-Model‹ of Fascism: A Typology, in: European History Quarterly 30 (2000), S. 77104, sowie Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift (HZ) 262 (1996), S. 73-125. 13 Wolfgang Schieder, Faschismus, in: Richard van Dülmen (Hg.), Fischer-Lexikon Geschichte, aktualisierte Neuaufl., Frankfurt am Main 1994, S. 177-195, hier: S. 184. 14 Schieder, Faschismus (wie Anm. 7), S. 199-221, hier: S. 219 f. 13 editorial faschistischen Bewegungen zu Massenparteien gekennzeichnet war,15 lassen sich auch in der Durchsetzungsphase der faschistischen Regime Ähnlichkeiten beobachten. Diese ging mit der Ausschaltung der demokratischen Parteien, des Parlaments, der Presse- und Meinungsfreiheit wie der Zerschlagung der Gewerkschaften sowie kommunistischer und sozialdemokratischer Verbände und Organisationen Hand in Hand. Gleichwohl vollzog sich dieser Prozeß in Deutschland 1933 und 1934 wesentlich schneller und rigoroser (man denke etwa an die frühen Konzentrationslager) als im faschistischen Italien, das hierfür die acht Jahre zwischen 1922 und 1929 benötigte. Die Regimephase war dann durch eine »auf einen charismatischen ›Führer‹ zugeschnittene Vermittlungsdiktatur« gekennzeichnet, die zwischen den konservativen Gruppen aus Armee, Industrie, Landwirtschaft, Bürokratie (in Italien auch der Monarchie) sowie den radikalen Vertretern der eigenen faschistischen Bewegung ein Machtgleichgewicht herzustellen versuchte. Die Mischung aus polizeistaatlicher Unterdrückung, sozialen Wohlfahrtsversprechen und imperialistischer Expansionspolitik kennzeichnete diese Regimephase des Faschismus.16 In ähnlicher Weise wie Schieder hat Robert O. Paxton die Entwicklung des europäischen Faschismus mit Hilfe eines Handlungsbegriffes in fünf Phasen unterteilt.17 Die erste Phase des Frühfaschismus bezeichnet er als »initial creation of fascist movements«, die durch eine neue Mischung aus Nationalismus und Syndikalismus gekennzeichnet gewesen sei und sich überall in Europa in kleinen Gruppen oder intellektuellen Zirkeln entwickelt habe. In der zweiten Phase verfestigten sich diese informellen Gruppen zu einer politischen Bewegung. Schon hier ignorierten die Faschisten die antibürgerlichen und antikapitalistischen Elemente ihrer Ursprungsideologie. Politische Koalitionen mit konservativen Kräften wurden aufgrund der schwindenden sozialen Basis dieser Gruppen in einer gesellschaftlichen Situation möglich, die von Unruhen und Streiks gekennzeichnet war. Eine Mischung aus nationalistischem Populismus und gewaltsamer Politik war für die faschistischen Bewegungen charakteristisch. Die dritte Stufe bezeichnet die Machterringung, wobei der Zusammenarbeit mit den konservativen Eliten wiederum besonderes Augenmerk gewidmet wird. Eine erfolgreiche Regimebildung des Faschismus erfolgte nach Paxton eben nicht durch einen coup d’ètat, sondern durch Allianzen mit nationalkonservativen Kräften. Diese erhofften sich eine Mäßigung oder auch »Zähmung« der Faschisten, die wiederum eine Massenbasis, die Verankerung in der jungen Generation, einen gewissen Zuzug aus Arbeiterschichten und eine Überwindung der angeblichen 15 Ebd., S. 205-209. 16 Ebd., S. 216-221; Wolfgang Schieder, Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung, in: Gerhard Schulz (Hg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum zweiten Weltkrieg, Göttingen 1985, S. 44-71, sowie Armin Heinen, Erscheinungsformen des europäischen Faschismus, in: Christof Dipper/Lutz Klinkhammer/Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 3-20. 17 Paxton, Stages (wie Anm. 7), S. 11-21, sowie ders., Anatomy (wie Anm. 7), S. 24-171. 14 editorial gesellschaftlichen Unordnung anzubieten hatten. Der Herrschaftskompromiß zwischen staatlichen und militärischen Kräften auf der einen und den Faschisten auf der anderen Seite besaß somit einen populistischen Rückhalt, der jedwede Unterstützung durch die Arbeiterbewegung überflüssig machte und zugleich die sozialen und ökonomischen Privilegien der Konservativen sowie des Militärs nicht bedrohte. Die vierte Phase bezeichnet nach Paxton den Faschismus als politisches Regime, welches durch den Machtkampf zwischen vier Kräften18 gekennzeichnet ist: erstens dem faschistischen »Führer«, zweitens der Partei, drittens der Staatsbürokratie und viertens den traditionellen Eliten wie den Kirchen, der Armee, der Wissenschaft und den Unternehmern. Im Unterschied zu autoritären Regimen versuchten die faschistischen Diktaturen, die gesamte Gesellschaft für sich zu mobilisieren und in ihren Dienst zu nehmen. Die letzte und fünfte Phase schließlich war Paxton zufolge durch die Radikalisierung faschistischer Regime während des Weltkriegs gekennzeichnet, in deren Mittelpunkt im NS-Staat das »racial cleansing« (vor allem in Polen und der westlichen Sowjetunion) stand, während das faschistische Italien in diese Phase spätestens mit dem Äthiopienkrieg eintrat, der eine »rivoluzione culturale« und eine »totalitäre Wende« (»svolta totalitaria«) einleiten sollte. Durch die Rassengesetze und das Einschleifen faschistischer Rituale und Symboliken in den Alltag der Gesellschaft sollte der »Neue Faschistische Mann« erschaffen werden. Gleichwohl war es der NS-Staat, in dem diese Phase ihre klarste Ausprägung erfahren hat. Nimmt man Schieders und Paxtons Ansätze zum Ausgangspunkt, so wird man für die verschiedenen Phasen des italienischen und deutschen Faschismus jeweils neu nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragen müssen. Unserer Ansicht nach wies der Faschismus in Italien und Deutschland in seiner Bewegungsphase in seinen Ideologemen, den Propagandaformen, den Organisationsstrukturen, im Militarismus und in der Gewaltpraxis besonders starke Ähnlichkeiten auf.19 Die faschistischen Kampfbünde und Parteien stellten sich als ein bestimmter Typus sozialer Bewegungen dar, der nicht zuletzt durch seine öffentliche Gewaltpropaganda eine radikale Antihaltung gegen den Parlamentarismus und die sozialistische Arbeiterbewegung einnahm. In ihrem politischen Stil und in ihren Techniken der Machteroberung verbanden sie Repression und Akklamation. Dabei standen die paramilitärisch organisierten Kampfbünde und Milizen in einem steten Spannungsverhältnis zu den faschistischen Parteiorganisationen. Der faschistische Politikstil allein verbürgte keinesfalls überall durchschlagenden Erfolg. Erst in einer tiefgreifenden Demokratiekrise, in der die Legitimation der politischen Parteien wie auch von Regierung und Staat zuneh18 Dies entspricht jenem »totalitären Pluralismus«, den Franz Leopold Neumann 1941 für das NS-Regime konstatiert hat; siehe Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, hg. und mit einem Nachwort vers. v. Gert Schäfer, Frankfurt am Main 1984, S. 531-550. Dazu Jürgen Bast, Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analyse der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft, Tübingen 1999, S. 296303. 19 So Ian Kershaw, Totalitarism Revisited: Nazism and Stalinism in Comparative Perspective, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23 (1994), S. 23-40, hier: S. 26. 15 editorial mend schwand, konnte die faschistische Straßenpolitik das freiwerdende politische Beziehungsfeld erfolgreich besetzen und dadurch die vorher nur losen Kontakte zu den traditionellen Machteliten in ein Bündnis verwandeln. Weil dieses Bündnis nicht überall gelang, scheiterten die anderen europäischen Faschismen an dem Versuch, sich jenseits der Bewegungsphase weiterzuentwickeln. In der Konsolidierungsphase nach dem jeweiligen Machtantritt von 1922 beziehungsweise 1933 traten die Spannungen innerhalb der faschistischen Bewegungen dann in verschärfter Form zu Tage. Die sich um den militärischen Flügel der Bewegung versammelnden intransigenten Elemente des Faschismus provozierten in den auch sozioökonomisch krisenhaften Anfangsphasen der Regime letztlich unüberbrückbare Spannungen zwischen der neuen Regierung und der Parteimiliz. Je mehr sich die jungen Regime festigten, umso dysfunktionaler wurde der militante politische Aktionismus der faschistischen Milizionäre, der die politische Stabilität gefährdete und das Arrangement mit den alten Eliten erschwerte. Mussolini konnte sich der Squadren nur durch einen von König und Heer gedeckten Staatsstreich am 3. Januar 1925 entledigen. Auch Hitler beendete am 30. Juni 1934 die von der Sturmabteilung (SA) geforderte »zweite Revolution« durch eine gezielte Mordaktion, die ebenfalls von der Armee gedeckt wurde. Auch schalteten beide mit der Manipulation des Wahlrechts (»legge Acerbo« in Italien und »Ermächtigungsgesetz« in Deutschland) die parlamentarische wie die politische Opposition aus. Während aber die Nationalsozialisten die politische Opposition binnen weniger Monate unterdrücken konnten, wurde sie in Italien zunächst nur ausmanövriert und bis 1929 erst nach und nach beseitigt. In der Regimephase traten weitere Unterschiede zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland hinzu. Die Kooperation der traditionellen Eliten und die stärkere Stellung der Partei prägten den NS-Staat tiefer als die italienische Diktatur, in der die Kirche, Krone, Armee und Industrie – die sogenannten fiancheggiatori – mächtiger blieben. Gleichwohl hatte auch die faschistische Diktatur Italiens eigene Massenorganisationen zur Formierung der Gesellschaft eingerichtet, und auch hier wurde der Partito Nazionale Fascista (PNF), wie die NSDAP in Deutschland, zu einer massenwirksamen Einheitspartei.20 In beiden Fällen wurde ein weit verzweigtes Propagandanetz installiert und ein korporativ ausgerichtetes Regime etabliert. Dabei verbanden die faschistischen Regime die rassistisch-nationale mit der sozialen Homogenisierung ihrer »Volksgenossen«. In der End- und zugleich Radikalisierungsphase der Regime stach dann der exzeptionelle Charakter des NS-Rassismus heraus, der im Völkermord an den europäischen Juden gipfelte. In der angespannten Situation eines expansionistischen Eroberungskrieges radikalisierten sich jedoch beide Regime, und die Praxis der Ausplünderung und Vernichtung eskalierte. 20 Vgl. Emilio Gentile, The Problem of the Party in Italian Fascism, in: JCH 19 (1984), S. 251274; ders., La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo stato nel regime fascista, Rom 1995, sowie Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, Bd. 2: 1933-1945, Pittsburgh 1973. 16 editorial 3. Beziehungs- und Transfergeschichte Blickt man in die vorliegenden Sammelbände und Monographien zum Vergleich beider Diktaturen, so fällt auf, daß diese oft nicht vergleichend angelegt sind und die transfergeschichtliche Dimension in diesen Publikationen bislang nicht umfassend thematisiert worden ist.21 Zwar gibt es einige Studien, die die transnationale Dimension der wechselseitigen Rezeption, der Kontaktnahme und des Austausches zwischen den Faschismen untersuchen,22 aber zu einer theoretischen Verdichtung haben diese Ansätze bislang noch nicht geführt.23 In der aktuellen Debatte zum (transnationalen) Transfer werden die Wandlungen thematisiert, die sich bei der wechselseitigen Übertragung von Konzepten, Normen, Bildern und Repräsentationen von einer Kultur in die andere ergaben. Es geht um Fragen des wechselseitigen Austauschs, der Interkulturalität, der Bedeutung von transnationalen Beziehungsnetzwerken, um wechselseitige Abgrenzungen und sonstige Verflechtungen und Verbindungen vielerlei Art.24 Die Transferstudien sind kultur- und 21 Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, 2. Aufl., Göttingen 1983; Hans-Ulrich Thamer, Nationalsozialismus – Faschismus, Tübingen 1983; Alessando Roveri, Le cause del fascismo. Origini storiche del regime reazionario di massa in Italia e Germania, Bologna 1985; Karl Dietrich Bracher/Leo Valiani (Hg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991; Richard Bessel (Hg.), Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and contrasts, Cambridge 1996; Alexander De Grand, Fascist Italy and Nazi Germany. The ›Fascist‹ Style of Rule, London/New York 1995; Aristotle A. Kallis, Fascist Ideology. Territory and Expansionism in Italy and Germany, 1922-1945, London/New York 2000, sowie MacGregor Knox, Common Destiny. Dictatorship, Foreign Policy, and War in Fascist Italy and Nazi Gemany, Cambridge 2000. 22 Schieder, Experiment (wie Anm. 12); ders., Faschismus für Deutschland. Erwin von Beckerath und das Italien Mussolinis, in: Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1996, S. 267-283; Wolfgang Schieder, Carl Schmitt und Italien, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 37 (1989), S. 1-21; Hans Woller, Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999, S. 58-103 u. 148-241, sowie Enzo Collotti, L’Europa nazista. Il progetto di un Nuovo ordine europeo (1939-1945), Florenz 2002. 23 Hierzu Kiran Klaus Patel, Der Nationalsozialismus in transnationaler Perspektive, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), S. 1123-1134. 24 Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 28 (2002), S. 607-636; Hartmut Kaelble, Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: Ders./Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003, S. 469493; Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), S. 649-685; Chris Lorenz, Comparative historiography. Problems and perspectives, in: History and Theory 38 (1999), S. 25-39; Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999; Matthias Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu 17 editorial kontextbezogen, erfahrungsnah und fragen nach dem zeitlichen Ablauf wechselseitiger Beeinflussungen und Wandlungsprozesse. Dieser Aspekt wird bei systematischen Vergleichen zumeist vernachlässigt, ist aber dringend erforderlich, weil sonst möglicherweise wichtige Erklärungen für Divergenzen oder Konvergenzen der Vergleichseinheiten übersehen werden.25 Der Vergleich wiederum verdeutlicht, welche Grenzen die Anverwandlung hatte und wo es systematische Ähnlichkeiten und Unterschiede jenseits wechselseitiger Beeinflussungen gab. Insofern schließen sich Transfer und Vergleich keineswegs aus, sondern ergänzen sich wechselseitig. Der Vergleich dient hierbei vor allem der systematischen Klärung von Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen dem Faschismus in Italien und Deutschland. Dessen methodische Funktionen liegen, so Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, erstens darin, Problemstellungen und Fragen, etwa der italienischen oder deutschen Forschung, auf das jeweils andere Land zu übertragen.26 Zweitens dient der Vergleich der Profilierung der Besonderheiten der einzelnen Fälle. In analytischer Hinsicht fragt der Vergleich drittens nach Entstehung-, Verlaufs- und Ausprägungsbedingungen historischer Sachverhalte und versucht, diese zu erklären. Viertens schließlich wird durch den Vergleich das Möglichkeitsbewußtsein und der Blick auf andere Konstellationen geöffnet und die geschichtswissenschaftliche Forschung entprovinzialisiert. Alle Beiträge dieses Bandes zeigen bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den faschistischen Kernländern Italien und Deutschland auf, die aus eigener Kraft und ohne ausländische Unterstützung eine neue Form politischer Herrschaft etabliert hatten. Die Erklärungsmodi, die sie anbieten, liegen vor allem auf der Ebene kultureller Gemeinsamkeiten und politischer Traditionen. Jüngere Studien zur internationalen Dimension des Holocaust, zur Kollaboration27 mit dem »Dritten Reich« und zur Geschichte der ethnischen Säuberungen in Europa geben Anlaß zur Hoffnung, daß die NS-Forschung sich aus ihrer nationalstaatlichen Fixierung befreit und vermehrt nach dem transnationalen Kontakt, der wechselseitigen Wahrnehmung und dem Austausch zwischen dem Nationalsozialis- ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), S. 7-41; Wolfgang Schmale, Historische Komparatistik und Kulturtransfer, Bochum 1998; Federico Celestini/Helga Mitterbauer (Hg.), Verrückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen 2003. 25 Dies ist seit 1889 in der ethnologischen Theoriediskussion als »Galtons Problem« bekannt und mittlerweile weitgehend geklärt; siehe Harald Kleinschmidt, Galtons Problem: Bemerkungen zur Theorie der transkulturell vergleichenden Geschichtsforschung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 39 (1991), S. 5-22. 26 Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 945. Dort auch die weiterführende Literatur. 27 Zur Problematik des Begriffs der Kollaboration siehe das Editorial in Band 19 der »Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus«. 18 editorial mus und den faschistischen wie nicht-faschistischen Regimen fragt.28 Inzwischen liegen auch erste empirische Studien vor, die das methodische Instrumentarium der Transfergeschichte auf den NS-Staat anwenden.29 In diesem Band folgen dem transferhistorischen Ansatz Wolfgang Schieder in seinem Aufsatz zu Giuseppe Renzetti und Daniela Liebscher in ihrem Beitrag zu den faschistischen Freizeitorganisationen. Schieder untersucht den Lobbyismus Renzettis, der seit 1925 Präsident der Italienischen Handelskammer in Berlin war und immer mehr in die Rolle eines Mittelsmannes zwischen hohen italienischen Regierungsstellen und nationalkonservativen Wirtschaftsführern wie Hjalmar Schacht, Fritz Thyssen und Alfred Hugenberg hineinwuchs. Renzettis Bedeutung lag insbesondere darin, daß er den korporativistischen Ideentransfer von Italien nach Deutschland steuerte und in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig daran arbeitete, im Deutschen Reich einen Systemwechsel nach dem Muster des italienischen Faschismus vorzubereiten. Bereits 1929 hatte Renzetti Zugang zur NSDAP gefunden, wobei ihm insbesondere Hermann Göring die Türen öffnete. Zwischen 1929 und 1941 traf Renzetti mindestens 42 Mal mit Adolf Hitler zusammen und führte ausgiebige politische Gespräche mit dem »Führer« der NSDAP. Schließlich wurde Renzetti Verbindungsmann zwischen Hitler und Mussolini und bereitete jene Annäherung zwischen Italien und dem NS-Staat vor, die sich seit Mitte der 1930er Jahre vollzog. Liebscher widmet sich anhand eines Fallbeispiels jenem von Renzetti propagierten Transfer des korporativistischen Modells von Italien nach Deutschland. Sie weist nach, daß die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro 1933 der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« Pate stand und dieser Transfer im engen Austausch mit der internationalen freizeitpolitischen Debatte der Zwischenkriegszeit stattfand. In der Tat war es weniger das Konzept der organisierten Freizeit, das beide Organisationen zu »faschistischen« machte, als vielmehr ihr Selbstverständnis, im Sinne der expansionistischen Außenpolitik ihrer Regime, zunächst rivalisierend, dann gemeinsam, weltweit Aktivisten für den Kampf gegen die internationale Arbeiterbewegung zu mobilisieren. 4. Rassismus und Antisemitismus In der älteren Forschung wurde immer wieder argumentiert, daß sich italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus vor allem in zwei Punkten voneinander unterschieden hätten: in der Bedeutung des Rassismus und im Ausmaß ihrer diktatorischen Durchdringung der Gesellschaft. Zwar bleibt eine überzeugende Inte- 28 Norman M. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004; Eric D. Weitz, A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation, Princeton 2003, sowie Jürgen Zimmerer, Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: ZfG 51 (2003) S. 1098-1119. 29 Für transfergeschichtliche Studien zwischen dem Nationalsozialismus und der amerikanischen Demokratie Kiran Klaus Patel, »Soldaten der Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933-1945, Göttingen 2003. 19 editorial gration von Rassismus, ethnischer Säuberung und Genozid nach wie vor ein Desiderat der Faschismustheorie, aber in den letzten Jahren ist unzweifelhaft deutlich geworden, daß auch der italienische Faschismus rassistische Züge trug und sich in dieser Beziehung nicht strukturell vom Nationalsozialismus unterschied. Da die internationale Forschung den rassistischen und antisemitischen Charakter des NSRegimes dezidiert herausgearbeitet hat,30 soll hier nur auf neue Studien zu den rassistischen Dimensionen des italienischen Faschismus verwiesen werden. Seit 1935/36, so die These der neueren Forschung, hatte sich der italienische Faschismus in seiner rassistischen Gesellschaftspolitik dem NS-Regime angenähert und war dabei radikaler vorgegangen als die autoritären Regime in Ungarn, Rumänien und Polen.31 Neue Studien zur italienischen Kolonialherrschaft in Nordafrika zeigen, daß die sexuellen Kontakte zwischen italienischen Soldaten und afrikanischen Frauen die Vorstellung der Faschisten verstärkten, das »italienische Blut« könne möglicherweise »verseucht« werden. Das Mussolini-Regime installierte daraufhin eine scharfe Rassentrennung in den Kolonien und verfügte 1936 die »rassische« Segregation der Italiener von den Afrikanern. 1937 wurden dann Konkubinate für die italienischen Partner mit Strafen belegt, und 1939 wurde schließlich eine Kampagne gegen »Mischlinge« geführt, die das Ansehen der italienischen »Rasse« sichern sollte.32 Mit der Entgrenzung der Kriegsgewalt gewann der Rassismus in der politischen Praxis des Mussolini-Regimes zunehmend an Bedeutung. So wurden in Äthiopien ganze Dörfer niedergebrannt, Lazarette bombardiert und Giftgas eingesetzt.33 Darüber hinaus zeigt die 2003 publizierte Arbeit von Davide Rodogno zur italienischen Okkupationspolitik in Albanien, Kroatien, Südfrankreich und Griechenland, daß diese ebenfalls deutlich rassistische Züge trug.34 In dieser Pionierstudie hat Rodogno anhand von Akten der italienischen Armee, des italienischen Außenministeriums, der Bank von Italien und des Internationalen Roten Kreuzes die wirtschaftliche Ausbeutung, die Versuche zur »Italianisierung«, die lokale Kollaboration, die 30 Am prononciertesten von Michael Burleigh/Wolfgang Wippermann, The Racial State. Germany 1933-1945, Cambridge 1991. 31 Rolf Wörsdörfer, Krisenherd Adria 1915-1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, S. 279. 32 Vgl. Angelo Del Boca, Gli italiani in Africa Orientale. La conquista dell’Impero, Rom/Bari 1979; ders. (Hg.), Le guerre coloniali del fascismo, Rom/Bari 1991; Alberto Sbacchi, Il colonialismo italiano in Ethiopia 1936-1940, Mailand 1980; Nicola Labanca, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana, Bologna 2002; Gabriele Schneider, Mussolini in Africa. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936-1941, Köln 2000; Giulia Barrera, Mussolini’s colonial race laws and state-settler relations in Africa Orientale Italiana (19351941), in: Journal of Modern Italian Studies 8 (2003), S. 425-443; Ruth Ben-Ghiat/Mia Fuller (Hg.), Italian Colonialism. A Reader, Basingstoke 2003. 33 Vgl. Aram Mattioli, Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935-1936, in: VfZ 51 (2003), S. 311-337. 34 Davide Rodogno, Il nuovo ordine mediterrraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940-1942), Torino 2003. Vgl. Brunello Mantelli, Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943, in: Dipper/Klinkhammer/Nützenadel, Sozialgeschichte (wie Anm. 16), S. 57-74. 20 editorial Unterdrückung des Widerstandes und die Behandlung der Flüchtlinge und Juden in diesen Ländern untersucht. Er kommt zu dem Schluß, daß die italienische Besatzungspolitik im Mittelmeerraum einer eigenständigen Tradition folgte und darauf abzielte, eine »Neue Ordnung« im mittelmeerischen Imperium zu erschaffen, indem man das Lebensraumprinzip (»spazio vitale«) propagierte. Diese Politik wurde nicht vom NS-Regime gesteuert, wie Rodogno beispielsweise für die freiwillige Auslieferung von Juden an die Nationalsozialisten im Kosovo durch das Mussolini-Regime nachweist. Die erzwungene Italianisierung Sloweniens, Dalmatiens und der ionischen Inseln, so Rodogno, bedeutete, die dort ansässigen Bevölkerungen zu minderwertigen Vasallen des imperialen Regimes zu machen, ohne sie jedoch umfassend vernichten zu wollen. Gleichwohl errichtete die italienische Armee Konzentrationslager, wie im Spätsommer 1942 in der neu geschaffenen »Provinz Lubiana«, wo bis zu 7.000 Slowenen ermordet wurden. Gegen Aufständische ging man mit brutaler Gewalt vor, und auch Zivilisten und Kinder wurden getötet. Die Massaker der kroatischen Ustascha gegen Juden und Serben wurden toleriert, um sie als Kollaborateure zu gewinnen. Deshalb wurden Juden bevorzugt in Gebiete abgeschoben, die unter der Kontrolle der Ustascha standen. Dabei waren die italienischen Besatzer der Ansicht, daß eine »jüdische Frage« existierte, ordneten das jeweilige Vorgehen allerdings taktischen Gesichtspunkten unter. Trotz Rodognos bahnbrechender Studie ist das folgende Urteil Enzo Collottis noch immer gültig: »Es gibt keine allgemeinen Studien zur Besatzung Jugoslawiens oder Griechenlands, es gibt keine Geschichte der Annexion Albaniens, keine Darstellung über die Vorgänge in Albanien als Teil des italienischen ›Kaiserreichs‹ zwischen 1939 und 1943. Über die Okkupationspolitik in Frankreich fehlt es ebenfalls an Studien«.35 In den letzten Jahren sind einige neue Arbeiten zur Tradition des Rassismus in einigen Wissenschaftszweigen Italiens erschienen, die das Bild einer primär vom Staatsdenken beherrschten Wissenschaftslandschaft für die Demographie und Anthropologie ins Wanken bringen. Die Forschung hat jüngst darauf hingewiesen, daß Mussolini den Rassismus als Werkzeug zur Faschisierung der italienischen Bevölkerung verstand, um durch eine rassistische Bevölkerungspolitik, die sowohl auf Verhaltensänderungen als auch auf Eugenik setzte, einen physisch wie psychisch neuen Typ von Italiener (»uomo fascista«) zu schaffen, der sich seiner römisch-italienischen Identität als disziplinierter, militärisch und männlich-entschlossener Mensch bewußt war. Mussolini bezog sich bei diesem Modell nicht nur auf die Tradition der »romanità«, sondern auch auf die Vorstellung vom nordischen »Arier«, die im »manifesto della razza« vom Juli 1938 zum Ausdruck kam, in dem das völkisch-biologistische Prinzip zum Leitgedanken eines faschistischen Rassismus erhoben wurde.36 Neben 35 Enzo Collotti (im Gespräch mit Lutz Klinkhammer), Zur Neubewertung des italienischen Faschismus, in: GG 26 (2000), S. 285-306, hier: S. 291. 36 So dezidiert Aaron Gillette, Racial Theories in Fascist Italy, London/New York 2002; Roberto Maiocchi, Scienza italiana e razzismo fascista, Florenz 1999; Giorgio Israel/Pietro Nastasi, Scienza e razza nell’Italia fascista, Bologna 1998; Alberto Burgio (Hg.), Nel nome della razza. Il razzismo nella storia d’Italia, Bologna 1999; Kai Kufecke, Rassenhygiene und Rassenpolitik 21 editorial Vertretern der Vorstellung von einer mediterranen »Rasse« wie Nicola Pende oder Giacomo Acerbo, die die italienische Bevölkerung nach Körpertypen katalogisierten, traten nunmehr auch verstärkt biologistische Vorstellungen, die von »Nordizisten« wie Guido Landra, Lidio Cipriani oder Julius Evola vertreten wurden. Wie in vielen anderen Ländern war die Vorstellung, daß die Menschheit in unterschiedliche und ungleichwertige »Rassen« unterteilt sei, unter führenden italienischen Ärzten, Demographen und Anthropologen schon länger verbreitet, wenngleich die biologistisch-nordizistische Variante bis 1938 eine eher untergeordnete Rolle spielte. Gleichwohl wurden physische mit psychischen Aspekten vermischt, und die Afrikaner rangierten auf der untersten Stufe der von den Italienern angeführten »rassischen« Hierarchie. Es war die Sorge um den Geburtenrückgang in Italien, die das Mussolini-Regime eine »Verteidigung der Rasse« und der »Rassereinheit« propagieren ließ. Mit dem »problemo demografico« verstärkte sich das Bemühen darum, die Bevölkerung statistisch zu erfassen, um die traditionell starke Auswanderung zu kontrollieren, neue Siedlungen zu gründen, wirtschaftliche Autarkie zu erreichen und eine pronatalistische Frauen- und Familienpolitik (Mutter-und-Kind-Hilfswerk) durchzusetzen. Der Verwaltung des Lebens und der Kolonisierung des Körpers widmeten sich neben den Demographen auch Staatswissenschaftler, Biologen, Statistiker, Kriminologen, Ärzte und Anthropologen, deren Wissenschaften sich in den 1930er Jahren in Italien auf breiter Front etablierten.37 Schließlich ist in den letzten Jahren auch der Antisemitismus des italienischen Faschismus vermehrt untersucht worden. Der koloniale Rassismus seit 1936 wirkte sich auch auf das Vorgehen des Mussolini-Regimes gegen Slawen, Zigeuner und Juden aus.38 Der italienische Antisemitismus radikalisierte sich, und zwar, ohne daß es eines besonderen Druckes seitens des NS-Staates bedurfte.39 Die Juden galten auch in Italien als innerer Feind, der die verhaßte »bürgerliche Sattheit« verkörpere. Der italienische Antisemitismus blieb nicht auf einige Radikale am rechten Rand des PNF wie Roberto Farinacci, Telesio Interlandi oder Giovanni Preziosi beschränkt. Schon in den Jahren zwischen 1923 und 1926 hatte es mehrere »Strafexpeditionen« gegen jüdische Stadtviertel in Tripolis, Livorno, Florenz oder Padua gegeben. 1934 und 1936 in Italien. Der Anthropologe Guido Landra als Leiter des »Amtes zum Studium des Rassenproblems«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 265-286. 37 Carl Ipsen, Dictating Demography. The Problem of Population in Fascist Italy, Cambridge 1996, sowie Victoria De Grazia, Die Radikalisierung der Bevölkerungspolitik im faschistischen Italien. Mussolinis »Rassenstaat«, in: GG 26 (2000), S. 219-254, hier: S. 220, 226-229 u. 233-239. 38 Zum Antislawismus Enzo Collotti, Sul razzismo antislavo, in: Burgio, Nel nome (wie Anm. 36), S. 33-61; Wörsdörfer, Krisenherd (wie Anm. 31), S. 274-281. Zum Antiziganismus siehe Amedeo Osti Guerrazzi, Il fascismo e gli zingari, in: Giornale di storia contemporanea 5 (2003), H. 1, S. 25-43. Zum Antisemitismus Michele Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Turin 2000. 39 Vgl. hierzu den Überblicksartikel von Thomas Schlemmer/Hans Woller, Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945, in: VfZ 53 (2005), S. 165-201. 22 editorial kam es zu weiteren antisemitischen Pogromen. Man wollte die Juden letztendlich des Landes verweisen und ihr Eigentum »arisieren«, was jedoch nicht in eine konsequente Vernichtungspolitik mündete wie beim Nationalsozialismus. Seit dem Februar 1938 begann eine antisemitische Kampagne, die dann ins »manifesto della razza« einfloß, das die Zugehörigkeit der Juden zur »italienischen Rasse« bestritt.40 Die Juden galten als Inkarnation des »Antifaschismus«. Deshalb wurde sie mit den biologistisch legitimierten Rassegesetzen zwischen September und November 1938 massiv entrechtet, enteignet und vertrieben. Auch den im Ausland geborenen Juden, die ihre Staatsbürgerschaft nach 1919 erhalten hatten, wurde diese wieder aberkannt. Jüdischen Kindern wurden der Schulbesuch und der Umgang mit »Ariern« untersagt. »Mischehen« wurden verboten. Konvertierten Juden, die in der katholischen Kirche geheiratet hatten, sprach man den Ehestatus ab. Juden wurden aus dem PNF, der Bürokratie, der Armee, den Berufsverbänden und kulturellen Einrichtungen ausgeschlossen. Sie durften keine »arischen« Bediensteten beschäftigen, kein größeres Unternehmen führen und nicht mehr als 50 Hektar Land besitzen. Der antisemitische Kurs verschärfte sich dann schrittweise. In den Jahren 1940 bis 1943 kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf Juden – etwa in Ferrara, Triest, im kroatischen Split oder in den nordafrikanischen Kolonien. Bis 1943 kamen immer wieder neue und verschärfte Gesetze und Verordnungen hinzu. Die Handhabung der Definition »des Juden« war gleichwohl weniger rigoros als in Deutschland, es gab zahlreiche Ausnahmen für Kriegsveteranen und ihre Familien oder für diejenigen, die früh dem PNF beigetreten waren.41 Im Mai 1942 schließlich wurden Juden im Alter von 18-55 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet. Als die Deutschen Italien besetzten, wurden etwa 9.000 Juden in Konzentrationslager deportiert.42 In der sogenannten Republik von Salò (Repubblica Sociale Italiana) wurde der Sturz Mussolinis den Juden angelastet, es kam zu Verhaftungsaktionen, Deportationen und Massakern.43 Strukturell vollzog sich in Italien eine Radikalisierung des Antisemitismus, ohne daß dort ein solches Ausmaß des Massenmordes erreicht wurde wie im deutschbeherrschten Europa. Die Initiative zum Holocaust war vom NS-Staat ausgegangen, was eine wesentliche Differenz zum faschistischen Italien ausmachte. 40 Michele Sarfatti, Mussolini contro gli ebrei. Cronaca dell’elaborazione delle leggi del 1938, Turin 1994; Fabio Levi (Hg.), L’ebreo in oggetto. L’applicazione della normative antiebraica a Torino 1938-1943, Turin 1991; Enzo Collotti (Hg.), La persecuzione contro gli ebrei in Toscana (1938-1943), 2 Bde., Rom 1999, sowie Angelo Ventura, La svolta antiebraica nella storia del fascismo italiano, in: Rivista storica italiana 113 (2001), S. 38-65. 41 Dazu Schlemmer/Woller, Faschismus (wie Anm. 39), S. 179-187. 42 Enzo Collotti, Il Fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Bari/Rom 2003, S. 112-117, sowie Jonathan Steinberg, Deutsche, Italiener und Juden. Der italienische Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen 1992. 43 Schlemmer/Woller, Faschismus (wie Anm. 39), S. 192-196. 23 editorial 5. Krieg und Gewalt, Konsens und Loyalität »Violence and war were at the core of the Fascist and Nazi projects. Both ideologies and both regimes glorified war; both launched wars; and both met their ends in war« schreibt Richard Bessel zum Vergleich der faschistischen Regime in Deutschland und Italien.44 Die gewaltsame Qualität des italienischen Faschismus zeigte sich in den Kriegs- und Vernichtungspraktiken, die aus Massenumsiedlungen, Repressalien, Konzentrationslager, dem kalkulierten Einsatz von Hungersnöten oder dem Giftgaseinsatz bestanden. So kamen von 100.000 Menschen, die 1930 in Lager deportiert wurden, um einem Aufstand in der libyschen Kolonie, der Cyrenaika, die Basis zu entziehen, bis 1933 rund 40.000 um. Für Abessinien schätzen Thomas Schlemmer und Hans Woller, daß von 1935 bis 1941 zwischen 350.000 und 760.000 der rund zehn Millionen Einwohner dieses Landes den Folgen von Krieg und Besatzungsherrschaft zum Opfer fielen.45 Neuere Studien zu den italienischen Konzentrations- und Internierungslagern haben zudem gezeigt, wie repressiv das faschistische Regime auch nach innen war.46 Krieg und Gewalt haben den Faschismus in unerhörter Weise geprägt – nicht nur im Sinne eines Vernichtungskriegs nach außen und eines Unterdrückungsapparates nach innen. Vielmehr verschränkten sich Außen- und Innenpolitik wechselseitig.47 Der Krieg und die militarisierte Kriegsgesellschaft schufen insofern die Bedingungen, durch die sich beide Regime radikalisierten. Den Krieg der »Achse« untersucht Thomas Schlemmer in seinem Aufsatz anhand des sowjetischen Kriegsschauplatzes. Der Autor betont, daß für die italienische Entscheidung, in den Krieg gegen die Sowjetunion einzugreifen, ideologische Motive ebenso von ausschlaggebender Bedeutung waren wie bündnispolitische Erwägungen und die Hoffnung auf reiche Beute. Er zeigt zudem, daß es zwar aus den italienischen Stäben an der Front durchaus Kritik am rassenideologisch motivierten Ansatz der deutschen Besatzungspolitik gegeben hat, daß man sich aber in der Praxis darum bemühte, den Anordnungen und Wünschen der deutschen Führung zu entsprechen. Die Einstellungen der an der Ostfront eingesetzten Soldaten des königlichen Heeres zeigt wiederum eine starke Verrohung und zum Teil auch eine rassistische Färbung, die die deutschen und die italienischen Streitkräfte enger zusammenrückt, als bisher vermutet. Im faschistischen Italien und im NS-Staat war Gewaltsamkeit in besonderer Art und Weise mit der Popularität der Regime verbunden. Das Changieren, die Verschränkung und Kombination von nationalistischem Populismus, erzwungener Akklamation, militaristischer Mobilisierung und haßerfüllter Gewaltsamkeit bezeichnen insofern einen zentralen Herrschaftsmechanismus der faschistischen Regime. Wie Klaus-Michael 44 Richard Bessel, Introduction, in: Ders., Fascist Italy (wie Anm. 21), S. 9. 45 Schlemmer/Woller, Faschismus (wie Anm. 39), S. 199. 46 Vgl. nur Costantino Di Sante (Hg.), I campi di concentramento in Italia. Dell’internamento della deportazione (1940-1945), Mailand 2001, sowie Carlo Spartaco Capogreco, I campi del duce. L’internamento civile nell’Italia fascista (1940-1943), Turin 2004. 47 Vgl. Knox, Destiny (wie Anm. 21), S. 109. 24 editorial Mallmann und Gerhard Paul gezeigt haben, wurde das terroristische Vorgehen der Polizeiapparate gegen Regimegegner im NS-Staat von weiten Gruppen der Gesellschaft unterstützt, wobei vor allem die institutionelle Zuarbeit durch die staatlichen Verwaltungen sowie durch die Partei und ihre Vorfeldorganisationen hervorzuheben sind. Der Terror gegen Juden, »Asoziale«, Sinti und Roma und Homosexuelle, so formulierten Mallmann und Paul seinerzeit, habe »plebiszitäre Züge« getragen.48 Ein Gradmesser für diese Hypothese ist die Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung. Für die Gestapo-Tätigkeit geht man davon aus, daß zwischen sechzig und achtzig Prozent der polizeilichen Ermittlungen auf eine Denunziation zurückzuführen sind. Die Anzeigebereitschaft weiter Teile der deutschen Bevölkerung war in politischer Hinsicht zweifellos systemstützend. Robert Gellately hat sie in Anschluß an Michel Foucaults Überlegungen zur modernen Diziplinargesellschaft als gesellschaftliche Selbstüberwachung der »Volksgemeinschaft« interpretiert.49 Wie Michael Ebner im vorliegenden Band nachweist, gab es im faschistischen Italien einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Terror und plebiszitärer Akklamation. Allerdings legt Ebner seinen Akzent stärker auf die Rolle der Angehörigen von PNF und der faschistischen Miliz, die sich seit dem Ende der 1920er Jahre stärker im Feld der sozialen Kontrolle der italienischen Bevölkerung engagierten und zu diesem Zweck mit dem Polizeiapparat kooperierten. Ebner rückt den Repressionsapparat des italienischen Faschismus näher an die »Gegnerverfolgung« des NS-Staates heran, als das viele Autoren vor ihm taten, arbeitet aber die Unterschiede ebenfalls deutlich heraus. Stärker als Gellately, Mallmann und Paul betont er die persönlichen und privaten Interessen, die den Denunziationen »ganz normaler Italiener« zugrunde lagen und die dazu beitrugen, die italienische Gesellschaft von ihren »Gegnern« zu säubern. Die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zu den terroristischen Maßnahmen beider Regime war nur ein Bestandteil des Konsenses. Darüber hinaus trugen Nationalismus, Militarismus, die charismatischen Führerschaften Mussolinis und Hitlers und die vielfältigen sozialen, kulturellen und materiellen Vergünstigungen, die beide Regime gewährten, zu deren Akzeptanz bei. Weitere Forschungen zu Italien und zum NS-Staat werden zu zeigen haben, in welchen sozialen Gruppen welche Motive für ihre konsensuale Unterstützung dominierten. 48 Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im »Dritten Reich«, Bonn 1991, S. 320. 49 Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945, 2., unveränd. Aufl., Paderborn 1993; Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart 2002. Vgl. Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995; dies. (Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, Darmstadt 2000, mit weiterführender Literatur. Für Italien: Mimmo Franzinelli, Delatori. Spie e confidenti anonimi. L’arma segreta del regime fascista, Mailand 2002, sowie Mauro Canali, Le Spie del Regime, Bologna 2004. Zu diesem theoretischen Ansatz siehe Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I und II. Vorlesung am Collège de France 1977-1979, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004. 25 editorial Eine wichtige Rolle als innenpolitisches Mobilisierungsinstrument spielte die Verbindung aus Propaganda, sozialpolitischen Maßnahmen und Gewaltpolitik. So weist Petra Terhoeven im vorliegenden Band nach, daß sich in den Spendenkampagnen beider Länder – bei allen Unterschieden hinsichtlich Frequenz und ökonomischer Bedeutung der Sammlungen in Italien und Deutschland – repressive Elemente, Propaganda und genuiner Partizipationswille der Bevölkerung auf charakteristische Weise mischten. Die hohen Erträge der Kampagnen sind weder durch den Verweis auf offenen und verdeckten Zwang noch durch die Faszinationskraft faschistischer Rituale allein zu erklären, sondern vielmehr aus dem Zusammenwirken beider Faktoren. Die beiden Regime sicherten sich auch, wie Waltraud Sennebogen im vorliegenden Band demonstriert, den Zugriff auf die Institutionen scheinbar politikferner Bereiche wie der wirtschaftlichen Werbung und versuchten, diese in eine »Propaganda von unten« zu transformieren. Der Austausch von Fachleuten und die Intensivierung der Zusammenarbeit in den »Werbebeziehungen« des faschistischen Italien und NSDeutschlands seit dem »Stahlpakt« von 1939 folgten daher stets propagandistischen Interessen und waren geprägt vom Bemühen, sich dem jeweiligen Partner möglichst positiv zu präsentieren. Der repressive Charakter des italienischen Faschismus in diesem Spannungsfeld von Konsens und Gewalt ist oftmals unterschätzt worden. Dagegen zeigt der Aufsatz von Amadeo Osti Guerrazzi und Costantino di Sante, daß das faschistische Italien seit 1939/40 insgesamt 51 Konzentrations- und Internierungslager errichten ließ, deren rechtliche Grundlagen noch aus der vorfaschistischen Ära stammten. Eine Vorreiterrolle spielte das Lager von Pisticci, das im April 1939 in Betrieb genommen wurde und dessen Insassen man dazu zwang, ein insgesamt 25 Quadratkilometer großes Sumpfgebiet trockenzulegen. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden dann neben den »Antifaschisten« auch Juden, »feindliche Ausländer« und Zigeuner interniert, so daß das faschistische Konzentrationslagersystem expandierte. Keinen Zweifel lassen die Autoren daran, daß die Lebensumstände, die dort herrschten, besser waren als in den Konzentrationslagern, die der NS-Staat seit 1933 aufgebaut hatte. Das Ausmaß an Brutalität und Willkür, das bis zum Zweiten Weltkrieg in den Konzentrationslagern innerhalb des Deutschen Reiches herrschte, wurde in Italien nicht erreicht. Aber immerhin läßt sich anhand der Internierung von Juden, Ausländern und Zigeunern nachweisen, wie repressiv auch das Mussolini-Regime gegen sogenannte Gegner vorging. Paul Corner hat die Diskussion um das Verhältnis von Konsens und Gewalt in einem Aufsatz aus dem Jahre 2002 pointiert zusammengefaßt: »Repression and consensus are, to use a metaphor, two halves of the same apple; what is not controlled by repression and prevention is controlled by active choice […]. It is not so much made up of repression, terror, and the thought police as it is of the control of most of the essential elements of ordinary life«.50 Die Kontrolle durch die faschistischen Parteien und deren Wohlfahrtorganisationen, die materiellen Zuwendungen und Besserstel50 Paul Corner, Italian Fascism: Whatever Happened to Dictatorship?, in: JMH 74 (2002), S. 325-351, hier: S. 349. 26 editorial lungen durch die Regime nach Maßgabe der Arbeitsfähigkeit und den politischen Einstellungen, führten zu einem weitverbreiteten Einverständnis, wobei nicht vergessen werden darf, daß einige soziale Gruppen von vornherein aus den beiden Gesellschaften ausgeschlossen wurden. Das gezielte Aufgreifen von Bedürfnissen und Ressentiments der italienischen wie der deutschen Bevölkerung durch die beiden Regime und ihre Verstärkung durch repressive Maßnahmen zählen somit zu zentralen Elementen des Faschismus.51 In Zukunft wird es darauf ankommen, Ähnlichkeiten und Differenzen beider Regime noch intensiver herauszuarbeiten. Wie Timothy W. Mason betonte, bedarf es dazu eines empirisch gesättigten Vergleichs. Seine Ansicht, daß dieser auch ohne Verwendung des Faschismusbegriffs durchgeführt werden kann,52 teilen wir allerdings nicht. Wenn man Faschismus als einen Begriff »mittlerer Reichweite« versteht, kann man die beiden Regime, nicht zuletzt aufgrund ihrer dynamischen Entwicklung, weit besser miteinander vergleichen, als wenn man die statische Totalitarismustheorie zum Ausgangspunkt nimmt. Die Überlegenheit des Faschismusmodells zeigt sich genau darin, daß es Möglichkeiten eröffnet, die »kumulative Radikalisierung«53 des faschistischen Italien und des NS-Staates während des Zweiten Weltkrieges miteinander in Beziehung zu setzen und vergleichend zu analysieren. Die Herausgeber 51 Vgl. Karl-Heinz Roth, Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft, in: Sozial.Geschichte 19 (2004), S. 31-52, hier: S. 33, 37 u. 42. 52 Mason, Whatever (wie Anm. 1), S. 323-331, hier: S. 329 ff. 53 Der Begriff stammt von Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, Mannheim/Wien/Zürich 1976, S. 785-790, und ist bisher nur auf den NS-Staat angewandt worden. Zu diesem Modell, das uns für Italien anschlußfähig erscheint, siehe Ian Kershaw, »Cumulative Radicalisation« and the Uniqueness of National Socialism, in: Jansen/Niethammer/Weisbrod, Aufgabe (wie Anm. 22), S. 323-336. 27 Wolfgang Schieder Faschismus im politischen Transfer Giuseppe Renzetti als faschistischer Propagandist und Geheimagent in Berlin 1922-1941 1. Renzettis politische Anfänge Niemals zuvor war Italien in Deutschland politisch so populär, beschäftigte sich die deutsche Öffentlichkeit so intensiv mit dem politischen System dieses Landes wie in der Zeit des Faschismus.1 Das neuartige charismatische Diktatursystem Mussolinis mit seinen vermeintlichen verfassungspolitischen, sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Errungenschaften avancierte in der Krisenzeit der Weimarer Republik bei der politischen Rechten, aber auch in den bürgerlichen Parteien und innerhalb des politischen Katholizismus aus unterschiedlichen Gründen zum vielfach bewunderten Vorbild und einer möglichen politischen Alternative zum ungeliebten demokratischen Parteienstaat. Das läßt sich an einer ganzen Flut von Büchern, Broschüren und Zeitschriftenaufsätzen über den italienischen Faschismus ebenso ablesen wie an der ungewöhnlich dichten Berichterstattung in fast allen wichtigen deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften. Einzelne Journalisten und Wissenschaftler taten sich dabei in besonderer Weise als Multiplikatoren hervor. Sie betrieben einen gezielten Transfer faschistischen Gedankenguts, der sich jeweils am Erwartungshorizont einer bestimmten politischen Klientel in Deutschland orientierte. Es wäre jedoch verfehlt, die ideologische Aneignung des Faschismus in Deutschland als einen eindimensionalen Prozeß anzusehen, bei dem der Faschismus in Deutschland lediglich rezipiert wurde. Zwar behauptete Mussolini lange Zeit, daß sein Faschismus kein »Exportartikel« sei.2 Das hatte jedoch lediglich taktische Gründe. Mussolini mußte mit seinen expansionistischen Ideen vorsichtig sein, seitdem er nach seiner ersten imperialistischen Attacke im Jahre 1923 in Europa mit Mißtrauen beobachtet wurde. Eine internationalistische Attitüde hätte ihm außenpolitisch nur geschadet.3 Daß er jedoch spätestens seit 1925 durchaus an eine Ausbreitung des Faschismus dachte, ist nicht zu bezweifeln. Dafür spricht besonders auch, daß er seit seinem Staatsstreich vom 3.1.1925 panfaschistische Ideologen keineswegs bremste, sondern sie vielmehr gewähren ließ, teilweise sogar unterstützte.4 1 Vgl. dazu und zum folgenden Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: HZ 262 (1996), S. 73-125. 2 Vgl. dazu das allerdings reichlich flüchtig geschriebene Buch von Michael A. Ledeen, Universal Fascism. The theory and practize of the Fascist International, New York 1972. 3 Enzo Collotti, Fascismo e politica di potenza. Politica estera 1922-1939, Mailand 2000. 4 Vgl. dazu die Dissertation von Beate Scholz, Italienischer Faschismus als ›Exportartikel‹. Ideologische und organisatorische Ansätze zur Verbreitung des Faschismus im Ausland, Trier 2001 (Microfiche). 28