Inhaltsverzeichnis 1 Materialien zu „Pädagogik“, 5. Auflage Inhaltsverzeichnis Zu Kapitel 1: Pädagogik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zu Kapitel 2: Die Möglichkeit und Notwendigkeit von Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zu Kapitel 3: Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Zu Kapitel 4: Grundlagen und Aufgaben der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zu Kapitel 5: Erziehung aus Sicht der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Zu Kapitel 6: Lernen im Erziehungsprozess: die Konditionierungstheorien . . . . . . . . . . . . 28 Zu Kapitel 7: Lernen im Erziehungsprozess: kognitive Lerntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Zu Kapitel 8: Ziele in der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Zu Kapitel 9: Erzieherverhalten und Erziehungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Zu Kapitel 10: Maßnahmen in der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Zu Kapitel 11: Erziehung durch Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Zu Kapitel 12: Erziehung in pädagogischen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Zu Kapitel 13: Erziehung außerhalb von Familie und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Zu Kapitel 14: Erziehung unter besonderen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zu Kapitel 15: Mensch und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Zu Kapitel 16: Alternative pädagogische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Bildquellen: V. Yakobchuk/fotolia.com: S. 13 (in Schema) Deutsche Bundespost, Berlin 1954: S. 22 Bildungsverlag EINS, Köln/Cornelia Kurtz, Boppard: S. 28, 29, 62 2 Kapitel 1 Materialien Kapitel 1 1. Empirische (erfahrungswissenschaftliche) Methoden der Pädagogik 5 10 15 Die Beobachtung Der Test Sieht man die Pädagogik als Erfahrungswissenschaft, so ist sie zur Gewinnung von Erkenntnissen auf die Beobachtung angewiesen. Jedes erfahrungswissenschaftlich gewonnene Wissen geht auf eine Beobachtung irgendeiner Art zurück. Insofern können alle anderen Methoden als eine besondere Form der Beobachtung gelten. Mithilfe eines Tests will man bestimmte psychische Merkmale erfassen und feststellen, in welchem Maße diese Merkmale bei einem Menschen ausgeprägt sind. So will zum Beispiel ein Intelligenztest die Intelligenz (= psychisches Merkmal) eines Menschen erfassen und feststellen, wie ausgeprägt sie bei einem Menschen ist. Ein Intelligenztest misst also die Intelligenz eines Menschen. Beobachtung als wissenschaftliche Methode meint die geplante, gezielte und systematische Wahrnehmung eines bestimmten Teilbereiches der Wirklichkeit mit dem Ziel, diesen Bereich möglichst genau zu erfassen und festzuhalten. Dabei bedient man sich in der Regel geeigneter technischer Hilfsmittel wie beispielsweise Beobachtungsbogen. Das Experiment 20 25 30 35 40 Das Experiment ist eine bestimmte Form der Beobachtung: Während sich eine Beobachtung auf eine bereits vorhandene Situation beschränkt, wird beim Experiment die Situation absichtlich herbeigeführt. Wenn ein Forscher beispielsweise in Schulklassen geht und wissen will, wie sich die Lehrer und wie sich in Abhängigkeit davon die Schüler verhalten, so handelt es sich um eine Beobachtung. Gibt nun der Forscher dem Lehrer genau vor, wie er sich zu verhalten hat, um dann das Schülerverhalten als Reaktion auf das Lehrerverhalten beobachten zu können, so handelt es sich um ein Experiment. Unter einem Experiment versteht man das absichtliche und planmäßige Herbeiführen eines Vorganges, um ihn gezielt beobachten zu können. Vorteile des Experiments gegenüber der Beobachtung ergeben sich aus der Möglichkeit, dass der Forscher die Situation selbst bestimmen und ihre Bedingungen verändern, variieren sowie eine experimentelle Untersuchung beliebig oft wiederholen kann. Test ist die Bezeichnung für ein Messverfahren, mit dessen Hilfe die individuelle Ausprägung eines oder mehrerer psychischer Merkmale eines Menschen festgestellt werden kann. 45 50 55 Die Befragung bzw. das Interview Die Befragung ist eine sehr weit verbreitete Technik zur Gewinnung von bestimmten Daten. Dabei werden an bestimmte Personen bzw. Personengruppen Fragen gestellt, die diese beantworten. Die Befragung ist eine Technik zur Erfassung von Daten mithilfe der Beantwortung von Fragen, die einem bestimmten Personenkreis gestellt werden. Eine Befragung kann schriftlich oder aber auch mündlich stattfinden. Eine mündliche Befragung wird gewöhnlich „Interview“ genannt. Interview ist eine mündliche zweckgerichtete Befragung, um bestimmte Daten zu erhalten. Sehr häufig wird eine Befragung in der Sozialen Arbeit eingesetzt, wo sie meist als „Exploration“ bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um ein Gespräch, in welchem versucht wird, persönliche Probleme eines Menschen zu erhellen. 60 65 70 75 Quelle: Hobmair, 2010, S. 169–175, gekürzt und verändert 80 Kapitel 1 3 2. Handlungs- bzw. Aktionsforschung 5 10 15 20 25 30 Handlungs- oder auch Aktionsforschung zielt darauf ab, als Forschung und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozess in die pädagogische Praxis verändernd einzugreifen. (…) Ein Konzept von Handlungsforschung geht davon aus, Praxisrelevanz und kritische Intentionen zu verbinden und empirische Forschung als eingreifende Praxis zu entwerfen, und wird von drei alternativen Grundannahmen charakterisiert: − Erstens ist Handlungsforschung in ihrem Erkenntnisinteresse und damit in ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. pädagogische Praxis bezogen, sie will zur Lösung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme beitragen. − Zweitens greift Handlungsforschung unmittelbar in die Praxis ein, und sie muss sich daher für Rückwirkungen aus dieser von ihr selbst mitbeeinflussten Praxis auf die Fragestellungen und die Forschungsmethoden im Forschungsprozess selbst offen halten. − Drittens hebt Handlungsforschung in irgendeinem Grade bewusst und gezielt die Scheidung zwischen Forscher und pädagogischem Praktiker auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungsund Forschungsprozess. Pädagogische Handlungsforschung wird im Kontext Kritischer Erziehungswissenschaft1 somit als Innovationsforschung verstanden, als Forschung im Zusammenhang mit und zum Zwecke von Reformen im Erziehungsund Bildungswesen. (…) Da Handlungsforschung auf das Prinzip der kommunikativen Beteiligung der Betroffenen an Forschungsprozessen setzt und zugleich die Komplexität des jeweiligen Forschungsfeldes umfassend untersuchen will, werden kommunikationsfördernde, qualitative Forschungsmethoden, wie z. B. Gruppendiskussionsverfahren oder teilnehmende Beobachtung, in Aktionsforschungsprojekten bevorzugt. (…) 35 40 45 Quelle: Krüger, 20095, S. 192 f., leicht verändert Dabei wird in der Tradition der Kritischen Erziehungswissenschaft Handlungsforschung durch zwei Merkmale bestimmt: − Handlungsforschung zielt primär nicht auf Erkenntnis, sondern auf die Lösung praktischer Probleme. (…) − Handlungsforschung beansprucht, das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen Forscher und Forschungsobjekt (den Versuchspersonen) in ein Subjekt-SubjektVerhältnis umzuwandeln. (…) 50 55 Quelle: König/Zedler, 20073, S. 132 f. 3. Geisteswissenschaftliche Methoden Die Hermeneutik 5 Ein wissenschaftliches Verfahren, das auf eine rationale und überprüfbare Auslegung und Interpretation der Wirklichkeit – hier der Erziehungswirklichkeit – abzielt, wird hermeneutisches2 Verfahren genannt. Meist wird es auf Textauslegung und Sprachanalyse beschränkt, doch es bezieht sich auch auf die 1 2 siehe Abschnitt 1.3.2 herme-neúein (griech.): auslegen, aussagen Wirklichkeit als Praxisfeld. Mit Interpretation und Auslegung ist das methodische Vorgehen gemeint, mit welchem der Wissenschaftler die Wirklichkeit in ihrem Sinngehalt erfassen will (vgl. Gudjons, 200810, S. 32). Hermeneutische Verfahren dienen also dazu, die Bedeutung, den Sinn der Wirklichkeit zu erfassen und zu verstehen. 10 15 4 Kapitel 1 „Weil das erzieherische Verhältnis von einer spezifischen Qualität ist, ist es letztlich in dieser Qualität nur hermeneutisch zugänglich; insofern wird verständlich, warum der ‚pädagogische Bezug’ ein entscheidender Grundbegriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik geworden ist.“ (Danner, 20065, S. 108) 20 25 30 Hermeneutik ist die Bezeichnung für alle methodischen Verfahren der rationalen und überprüfbaren Auslegung und Interpretation der Wirklichkeit mit dem Ziel, Sinn- und Bedeutungszusammenhänge dieser zu erfassen und zu verstehen. Die Phänomenologie 35 40 45 50 55 60 Ausgangspunkt der Phänomenologie1, die auf den Philosophen Edmund Husserl (1859– 1938) zurückgeht, ist das Gegebene, wie es dem Bewusstsein erscheint. Dabei geht es nicht um die Realität, wie die Welt „an sich“ ist, sondern um die Wirklichkeit, wie sie uns erscheint. Mit Phänomenologie ist also eine „Lehre der Erscheinungen und ihrer Zusammenhänge“ gemeint, die als Methode die Erscheinungen der Welt erforscht. Damit grenzt sich Husserl von der empirischen Vorgehensweise ab, weil sie sich nicht an „der Sache selbst“ orientiert. Die Phänomenologie ist also die Beschreibung von Sachverhalten der Welt, wie sie uns erscheinen. Dadurch ist es möglich, zu dem Wesen des jeweils Gegebenen vorzudringen, dessen Wesen zu erfassen. Die Phänomenologie bleibt also nicht bei der reinen Beschreibung stehen, sondern stellt das allgemeine Wesen, die Eigenart des zu Erfassenden heraus. In diesem Sinne ist Phänomenologie auf eine umfassende Wesensschau von Bewusstseins-Gegebenheiten ausgerichtet. So versuchen beispielsweise Neurowissenschaftler allein aufgrund der Erforschung von neurologischen Vorgängen im Gehirn das „Menschsein“ zu begreifen. Damit reduzieren sie aber den Menschen lediglich auf physikali- 1 2 phainómenon (griech.): das Erscheinende dialektike-́ (griech.): Kunst der Gesprächsführung sche und chemische Prozesse. Entscheidend ist jedoch, den Menschen in seinem Wesen und seiner Ganzheit zu erfassen. Verstehen setzt erst ein, wenn der Sachverhalt in seinem Wesen genau erfasst ist. Dies gilt auch für historische Gegebenheiten. Phänomenologie als geisteswissenschaftliche Methode ist also darauf gerichtet, Bewusstseinsgegebenheiten – so wie sie uns erscheinen – zu beschreiben und dadurch in ihrem Wesen zu erfassen. 65 70 Die Dialektik Die Dialektik2 als geisteswissenschaftliche Methode dient der Erkenntnisgewinnung durch das Aufdecken von Widersprüchen und Gegensätzen. Widerspruch und Gegensatz drängen nach einer Auflösung. Diese besteht in der Aufhebung des Gegensatzes. Aufheben besagt einmal ein Beseitigen des Gegensätzlichen und Widersprüchlichen und zum anderen ein Festhalten am Gemeinsamen, Übereinstimmenden. Auf diese Weise ist es möglich, das Wesen der Dinge zu erhellen und zu Erkenntnissen zu kommen. Die Schule beispielsweise soll den Einzelnen optimal fördern (= These), zugleich hat sie eine Auslesefunktion (= Antithese), weil die Gesellschaft auf qualifizierten Nachwuchs angewiesen ist. Beide Positionen erweisen sich als zutreffend und notwendig, sind aber widersprüchlich. Dieser anfängliche Widerspruch geht in eine Synthese über, bis sich dieser „Widerspruch“ als nur scheinbar auflöst. Ähnlich verhält es sich mit der heute sehr intensiv diskutierten Frage, ob Erziehung von der Familie (= These) oder von öffentlichen Erziehungseinrichtungen wie Kindertagesstätten (= Antithese) übernommen werden soll. Dieser Widerspruch verlangt als Synthese nach einer Lösung, die diesen aufhebt. Dialektik ist eine geisteswissenschaftliche Methode der Erkenntnisgewinnung durch das Aufdecken und Aufheben von Widersprüchen und Gegensätzen. 75 80 85 90 95 100 105 Kapitel 1 Dialektik These Antithese Synthese neue These 110 Der erste methodische Schritt der Dialektik besteht im Setzen einer These, die durch eine Antithese verneint wird. Diese Verneinung kann ein Widerspruch oder ein Gegensatz sein und ist inhaltlich an die These gebunden, die sie „aufzuheben“ versucht. Der zweite Schritt will die Aufhebung des Gegensatzes in der Synthese, die ein Beseitigen des Gegensätzlichen und Widersprüchlichen sowie ein Bewahren des Übereinstimmenden darstellt und einen neuen, der Erkenntnisgewinnung näheren Zusammenhang eröffnet. Der Prozess setzt sich fort, indem die Synthese zu einer neuen These wird, die wiederum durch eine Antithese verneint wird und in einer erneuten Synthese endet. Auf diese Weise kommt man der Erkenntnisgewinnung immer näher. Karl Marx geht in seiner Theorie des Historischen Materialismus1 ebenfalls dialektisch vor: Dieser beginnt bei der ursprünglichen Einheit der Menschheit (= These) und entwickelt sich hin zu einem Zustand der Entfremdung – die Menschheit befindet sich in einem Gegensatz zur Natur (= Antithese). Daraus entfaltet sich dann auf einer höheren Ebene die Synthese des Sozialismus als Übergangsstadium zum Kommunismus. 5 115 120 125 130 Quelle: Hobmair, 20084, S. 73 ff., verändert 4. Qualitative Forschung 5 10 15 Qualitative2 Methoden zielen darauf ab, Lebenswelten3, soziales Handeln oder Lebensgeschichten in den verschiedensten Bereichen von Erziehung und Bildung zu untersuchen. (…) Kennzeichen qualitativ-empirischer Forschung ist vielmehr, dass sie sich am Ziel einer möglichst gegenstandsnahen Erfassung der ganzheitlichen Eigenschaften (qualia) sozialer Felder orientiert. Charakteristisch für qualitative empirische Forschung ist zudem, dass sie versucht, durch einen möglichst unvoreingenommenen, unmittelbaren Zugang zum jeweiligen sozialen Feld und unter Berücksichtigung der Weltsicht der dort Handelnden, ausgehend von dieser unmittelbaren Erfahrung, 1 2 3 4 Beschreibungen, Rekonstruktionen oder Strukturgeneralisierungen vorzunehmen. Das bedeutet auch, dass sie im Gegensatz zu dem streng theorie- und hypothesengeleiteten Vorgehen der quantitativen empirischen Forschung bemüht ist, Abstraktionen aus Erfahrung zu generieren und dabei einen Rückbezug auf diese Erfahrungen kontinuierlich aufrechtzuerhalten. (…) Es wird unterschieden zwischen Gegenstandsannahmen, daraus resultierenden forschungsmethodischen Konsequenzen sowie Vorstellungen über den pragmatischen4 Nutzen qualitativer Methoden (…). Qualitative Forschung geht von einem Gegenstandsver- Nach der Theorie des Historischen Materialismus, der auf Karl Marx (1818–1883) zurückgeht, wird das Leben durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, insbesondere durch die private Verfügung über die Produktionsmittel, wodurch die Mehrheit der Bevölkerung gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. qualitas (lat.): die Beschaffenheit, die Eigenschaft Lebenswelt ist derjenige Ort, an dem das Individuum handelt und ihm gesellschaftliche Verhältnisse widerfahren (vgl. Kapitel 13.1.3). pragmatisch (griech., pragmatikós): auf das Handeln bezogen, der Praxis dienend 20 25 30 6 Kapitel 1 35 40 45 50 ständnis aus, das die soziale Welt als eine durch interaktives1 Handeln konstituierte2 Welt begreift, die für den Einzelnen, aber auch für Kollektive3 sinnhaft strukturiert ist. Wenn die soziale Welt als sinnhaft strukturierte, immer schon als gedeutete erlebt wird, so ist es im Rahmen von Sozialforschung, die sich am Handeln der Menschen orientiert, zunächst wichtig, die soziale Welt aus der Perspektive der Handelnden selbst zu sehen, d. h. subjektive Sinnstrukturen nachzuzeichnen. Manche Formen qualitativer Forschung beschränken sich hierauf, andere wiederum überschreiten die Ebene dieses Nachvollzuges, indem sie Regeln, Muster oder Strukturen zu erkennen suchen, die die Ebene des subjektiven Sinns überschreiten und insofern dem Handelnden nicht mehr bewusst sind, gleichwohl aber folgenreiche Bedeutung für sein Handeln haben. (…) 1 Zielt der qualitative Forschungsansatz auf eine möglichst authentische und komplexe4 Erfassung der Perspektiven der Handelnden, so ist zweitens die Offenheit des Feldzuganges eine zentrale Voraussetzung. Qualitative Forschung will dem jeweiligen Gegenstandsbereich keine vorab formulierten Theoriekonzepte überstülpen, sondern Verallgemeinerungen und Modelle aus der möglichst unverstellten Erfahrung des Forschers im Untersuchungsfeld selbst gewinnen. Der Forschungsprozess ist zwar durch Fragestellungen angeleitet, diese werden jedoch im Verlauf des Untersuchungsprozesses ständig modifiziert und erweitert. Theorien sind aus dem Erfahrungsprozess, aus dem Material sich entwickelnde Konstruktionen und somit gegenstandsbezogene Theorien. (…) Quelle: Krüger, 20095, S. 204 ff. interaktiv (lat., interactio): aufeinander bezogenes Handeln zwischen zwei oder mehreren Personen 2 konstituiert (lat., constituere: aufstellen, einsetzen): gegründet, ins Leben gerufen 3 Kollektiv (lat., collectivus: angesammelt): Gruppe, in der Menschen zusammenleben und zusammenarbeiten 4 authentisch (lat., authenticus: zuverlässig verbürgt): echt, stimmig; komplex (lat., complexus: das Umfassen): vielschichtig, viele verschiedene Dinge umfassend 55 60 65 Kapitel 2 7 Materialien Kapitel 2 1. Umweltabhängige Modifikation1 neuronaler Reifungsprozesse 5 10 15 20 25 Der Ausdruck „neuronale Plastizität“ ist fast zu einem Modewort geworden (…). Unter Plastizität wird die Formbarkeit oder Veränderbarkeit von neuronalem Gewebe in Abhängigkeit von Reifeprozessen und – noch mehr – Umwelteinflüssen verstanden. Wie ein Muskel sich durch Training oder fehlende Benutzung vergrößert oder verkleinert, so ändern sich Nervenzellen im Ausmaß ihrer Verästelungen. (…) Was die Verschränktheit von Hirnentwicklung und Verhaltensausprägung betrifft, konnte man nachweisen, dass Menschen mit besonderen Begabungen (die sie zumindest teilweise auch trainierten) auch besondere Ausprägungen auf Hirnebene zeigen, die diesen Begabungen entsprechen. (…) Diese Erkenntnisse betonen einmal mehr die Verschränktheit von Natur und Kultur oder Biologie und Psychologie. Allerdings muss man auch die andere Seite funktioneller Plastizität hervorheben, die dazu führen kann, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen anfälliger sind gegenüber umweltinduzierten2 negativen Erfahrungen, beispielsweise der Trennung von der Mutter oder zu wenig Schlaf. (…) Wir haben eine Reihe derartiger Patienten intensiv mit neuropsychologischen Tests und funktionellen bildgebenden Verfahren untersucht: In nahezu allen Fällen ließen sich massive Probleme in der kindlichen und jugendlichen Entwicklung nachweisen, was uns in Übereinstimmung mit einer ähnlichen These zur Entstehung von Depressionen zu der Auffassung bringt, dass negative frühkindliche Erfahrungen zu einer Art „biologischer Wunde“ führen, wenn das Individuum keine adäquaten Schutzmechanismen aufbauen konnte: zu einer Veränderung in der Arbeitsweise von Überträgerstoffen auf der Hirnebene und damit zu einer Fehlverarbeitung, die zu Gedächtnisstörungen im Abruf autobiografischer Erinnerungen führt. (…) Plastizität stellt ein januskopfartiges Gebilde dar: Sie kann schädliche Einwirkungen verringern, aber auch verstärken. Wichtig, was die Konsequenzen betrifft, sind die Art der Einwirkungen und der Zustand des Organismus zum Zeitpunkt der Einwirkungen. 30 35 40 45 50 Quelle: Markowitsch/Welzer, 20062, S. 109–113, stark gekürzt 2. Arnold Gehlen: Der Mensch und seine zweite Natur 5 10 Infolge seiner organischen Primitivität und Mittellosigkeit ist der Mensch in jeder wirklich natürlichen und urwüchsigen Natursphäre lebensunfähig. Er hat also den Ausfall der ihm organisch versagten Mittel selbst einzuholen, und dies geschieht, indem er die Welt tätig ins Lebensdienliche umarbeitet. Er muss die ihm organisch versagten Schutz- und Angriffswaffen ebenso wie seine in keiner Weise natürlich zu Gebote stehende Nahrung sich selbst 1 2 „präparieren“, muss zu diesem Zweck Sacherfahrungen machen und Techniken der objektiven, sachentsprechenden Behandlung entwickeln. Er muss für Witterungsschutz sorgen, seine abnorm lange unentwickelten Kinder ernähren und großziehen und bedarf schon aus dieser elementaren Nötigung heraus der Zusammenarbeit, also der Verständigung. Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur hin ge- Modifikation (lat., modificatio: das Abmessen, das Abwägen): Abänderung, Veränderung induziert (lat., inducere: hineinführen): bewirkt, hervorgerufen, ausgelöst – hier: von der Umwelt hervorgerufen, bewirkt 15 20 8 Kapitel 2 25 30 35 40 baut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin: Er ist handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist, und also der natürlich angepassten Umwelt entbehrt. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt. Es gibt für ihn keine Existenzmöglichkeit in der unveränderten, in der nicht „entgifteten“ Natur, und es gibt keinen „Naturmenschen“ im strengen Sinne: d. h. keine menschliche Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation. Die Kultur ist also die „zweite Natur“ – will sagen: die menschliche, die selbsttätig bearbeitete, innerhalb deren er allein leben kann – und die „unnatürliche“ Kultur ist die Auswirkung eines einmaligen, selbst „unnatürlichen“, d. h. im Gegensatz zum Tier konstruierten Wesens in der Welt. An genau der Stelle, wo beim Tier die „Umwelt“ steht, steht daher beim Menschen die Kulturwelt, d. h. der Aus- schnitt der von ihm bewältigten und zu Lebenshilfen umgeschaffenen Natur. Schon deswegen ist es grundfalsch, von einer Umwelt des Menschen – im biologisch definierten Sinne – zu reden. Beim Menschen entspricht der Unspezialisiertheit seines Baues die Weltoffenheit und der Mittellosigkeit seiner Physis die von ihm selbst geschaffene „zweite Natur“. Hierin liegt übrigens der Grund, warum der Mensch im Gegensatz zu fast allen Tierarten nicht geografisch natürlich und unüberschreitbare Daseinsbereiche hat. Fast jede Tierart ist eingepasst in ihr klimatisch, ökologisch usw. konstantes „Milieu“, der Mensch allein überall auf der Erde lebensfähig, unter dem Pol und dem Äquator, auf dem Wasser und dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe. Er ist dann lebensfähig, wenn er dort Möglichkeiten erzeugen kann, sich eine zweite Natur zurechtzumachen, in der er dann statt in der „Natur“ existiert. 45 50 55 60 Quelle: Gehlen, 200915, S. 37 f. 3. Die Bindungstheorie a) Bindungstypen 5 10 15 20 Mary Ainsworth untersuchte zusammen mit Barbara Wittig in der berühmt gewordenen Baltimore-Studie unterschiedliche Bindungsverhaltensweisen zwischen Bezugsperson und Kleinkind und ihre Auswirkungen auf es. Sie gingen der Frage nach, ob und wie ein Kleinkind seine Bezugsperson – in den Versuchen die Mutter – nach einer kurzen Trennung beim Wiedersehen als Sicherheitsbasis sieht, um zu einer ausgeglichenen Gefühlslage zurückzufinden. Mary Ainsworth (1913–1999) war US-amerikanische Entwicklungspsychologin und arbeitete in London mit John Bowlby, dem Pionier der Bindungsforschung, zusammen. Auf sie geht das Konzept der Feinfühligkeit zurück und sie untersuchte über längere Zeiträume hinweg das Interaktionsverhalten zwischen Mutter und Säugling. Bekannt wurde Ainsworth durch ihre Untersuchungen in Baltimore – deshalb Baltimore-Studien –, in denen 1 es um die Reaktionen von Kleinkindern auf die Trennung von der Bezugsperson geht. Ainsworth und Wittig ermittelten vier Bindungstypen (vgl. Grossmann/Grossmann, 20064, S. 136 ff.; Brisch, 201010, S. 52 f.): − Die sicher gebundenen Kinder, die ein deutliches Bindungsverhalten zeigen und bei ihrer Rückkehr zu ihrer Mutter laufen, sich freuen, ihr die Arme hinstrecken, auf den Arm genommen und getröstet werden wollen; sie beruhigen sich aber dann nach kurzer Zeit und wenden sich erneut dem Spielen zu. − Die unsicher-vermeidend gebundenen Kinder, die kein deutliches Bindungsverhalten zeigen und ihre Mutter beim Wiedersehen ignorieren; sie wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet werden, sie wenden sich eher von ihr ab. − Die unsicher-ambivalent1 gebundenen Kinder, die einerseits Kontakt mit der Mutter ambivalent (lat. ambi-: von zwei Seiten, valens: stark, mächtig):): in sich widersprüchlich, zwiespältig 25 30 35 40 Kapitel 2 9 Bindungstypen sicher gebundene Kinder 45 50 55 60 unsichervermeidend gebundene Kinder haben wollen, ihn aber zugleich wieder ablehnen und sich ärgerlich zeigen (Strampeln mit den Beinen, Schlagen, Stoßen oder Wegwollen); sie können auch wenig beruhigt werden und benötigen längere Zeit, um wieder in einen emotional stabilen Zustand zu kommen. − Die (unsicher-)desorganisiert gebundenen Kinder, die erkennen lassen, dass sie ihre Mutter nur wenig sicherheitsgebend empfinden und sich auch nicht von ihr trösten und beruhigen lassen; sie zeigen Unterbrechungen, Zurückweichen oder Vermeidung vermischt mit Ärger und Verzweiflung (zum Beispiel auf den Boden schlagen) während der Annäherung zur Mutter, aggressives Verhalten gegenüber Gegenständen oder auch gegenüber der Bezugsperson (sich schreiend verstecken, brüllend neben der Mutter sitzen ohne Kontakt aufnehmen zu wollen). „Während der desorganisierte Bindungstyp heute die volle Aufmerksamkeit in der Klinischen Praxis für gestörte Mutter-Kind-Beziehungen erhält, gehören die restlichen drei Bindungstypen zur normalen Bandbreite der Bindungsbeziehungen, die ein Kind zu seiner Mutter entwickelt.“ (Ahnert, 2010, S. 53) 65 70 b) Die Postulate der Bindungstheorie 75 Die Grundannahmen heben die Bindungstheorie als eine Theorie der normalen und patho1 unsicherambivalent gebundene Kinder unsicherdesorganisiert gebundene Kinder logisch abweichenden Entwicklung von anderen Theorien der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie ab. Die fünf wichtigsten Postulate sind: 1. Für die seelische Gesundheit des sich entwickelnden Kindes ist kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge1 von herausragender Bedeutung. 2. Es besteht die biologische Notwendigkeit, mindestens eine Bindung aufzubauen, deren Funktion es ist, Sicherheit zu geben und gegen Stress zu schützen. Eine Bindung wird zu einer erwachsenen Person aufgebaut, die als stärker und weiser empfunden wird, sodass sie Schutz und Versorgung gewährleisten kann. Das Verhaltenssystem, das der Bindung dient, existiert gleichrangig und nicht etwa nachgeordnet mit den Verhaltenssystemen, die der Ernährung, der Sexualität und der Aggression dienen. 3. Eine Bindungsbeziehung unterscheidet sich von anderen Beziehungen besonders darin, dass bei Angst das Bindungsverhaltenssystem aktiviert und die Nähe der Bindungsperson aufgesucht wird, wobei Erkundungsverhalten aufhört (das Explorationsverhaltenssytem wird deaktiviert). Andererseits hört bei Wohlbefinden die Aktivität des Bindungsverhaltenssystems auf und Erkundungen sowie Spiel setzen wieder ein. 4. Individuelle Unterschiede in Qualitäten von Bindungen kann man an dem Ausmaß unterscheiden, in dem sie Sicherheit vermitteln. Die Feinfühligkeit bildet nach Grossmann/Grossmann die wesentliche Grundlage und besteht darin, dass die Bezugsperson in der Lage ist, die kindlichen Signale wie zum Beispiel Weinen wahrzunehmen, sie richtig zu deuten und zu interpretieren sowie angemessen und prompt darauf zu reagieren. 80 85 90 95 100 105 110 10 Kapitel 2 115 120 5. Mithilfe der kognitiven Psychologie erklärt die Bindungstheorie, wie früh erlebte Bindungserfahrungen geistig verarbeitet und zu inneren Modellvorstellungen (Arbeitsmodellen) von sich und anderen werden. Obwohl die Bindungsforschung zunächst nur das Verhalten kleiner Kinder bei Trennung untersuchte, wurde sie im Laufe der Zeit, wie die Theorie es vorsieht, auf die ganze Lebensspanne „von der Wiege bis zum Grabe“ ausgeweitet. (…) Die Bindungstheorie erweist sich stets dort als tragfähig, wo eine schwächere Person unabhängig von ihrem Alter den Schutz und die Fürsorge einer vertrauten stärkeren Person braucht (Bowlby). (…) Im höheren Alter wird jedoch das Bindungsverhalten wahrscheinlich an Jüngere gerichtet werden, die dann als stärker und weiser empfunden werden. 125 130 Quelle: Grossmann/Grossmann, 20064, S. 67 f. 4. Wie schlechte Förderung die kindliche Hirnentwicklung beeinflusst Interview von Miriam Hoffmeyer mit Anna Katharina Braun1 SZ: Die Bildungsforscher richten ihre Aufmerksamkeit in letzter Zeit verstärkt auf den Kindergarten und die Grundschule. Ist das aus Ihrer Sicht richtig? Braun: Absolut richtig! Erfahrungen und Lernprozesse hinterlassen im kindlichen Gehirn viel massivere und dauerhaftere Spuren als bei Erwachsenen. In den ersten vier bis sechs Lebensjahren entwickelt sich sozusagen die Architektur des Gehirns. Damit wird die emotionale und kognitive Leistungsfähigkeit im späteren Leben vorgeprägt. Man könnte das mit der Formatierung einer Festplatte vergleichen. Damit kommt der vorschulischen und der frühen schulischen Bildung eine viel größere Bedeutung zu als früher angenommen. Eltern, Erzieher und Lehrer müssen sich darüber im Klaren sein, dass ihr Tun organische Veränderungen im kindlichen Gehirn auslöst. 5 10 15 20 SZ: Ist der Aufbau des Gehirns denn nicht genetisch festgelegt? Braun: Der grobe Schaltplan schon. Aber viele Bereiche des Gehirns werden in ihrer Funktion erst nach und nach perfektioniert, darunter auch das limbische System und der präfrontale Cortex. Diese Hirnregionen sind für die Wahrnehmung und Steuerung von 25 1 Emotionen zuständig und außerdem auch für Lernen und Gedächtnisleistung. Schon vor der Geburt beginnen die Nervenzellen damit, Kontakte zu anderen Nervenzellen auszubilden, die sogenannten Synapsen. Indem das Kind Sinneseindrücke verarbeitet, Erfahrungen macht, etwas lernt, entstehen nach und nach komplexe neuronale Netzwerke. Im Alter von etwa vier Jahren ist die Zahl der Synapsen im Gehirn am Höchsten, danach sinkt sie wieder. Denn Synapsen, die nur selten genutzt werden, verkümmern und werden schließlich abgebaut. Das geht nach dem Motto: Use it or lose it. SZ: Welchen biologischen Sinn hat das? Braun: Das Gehirn jedes Menschen passt sich auf diese Weise an seine Umwelt an. Das bietet natürlich Vorteile. Ein Kind, das in der afrikanischen Wüste aufwächst, muss andere Verhaltensweisen und Fertigkeiten erlernen als ein Großstadtkind und entwickelt deshalb auch andere Nervennetzwerke. Leider passt sich das junge Gehirn aber auch perfekt an ungünstige Umweltbedingungen an. Defizitäre Elternhäuser und mangelhafte Bildungssysteme wirken sich zwangsläufig auf die Hirnentwicklung aus. Wenn ein Kind in den ersten Jahren emotional vernachlässigt wird, Anna Katharina Braun erforscht die biologischen Grundlagen des Lernens. Die Professorin für Zoologie und Entwicklungsbiologie an der Universität Magdeburg versucht herauszufinden, wie Umweltreize auf die Gehirnentwicklung wirken. 30 35 40 45 50 55 Kapitel 2 60 65 70 75 80 85 90 kann das zu hirnorganischen Schäden führen. So wurde bei einer Adoptionsstudie an rumänischen Waisenkindern eine dauerhaft verminderte Aktivität der Zellen im Präfrontalcortex nachgewiesen. Leider sind solche Fehlentwicklungen bisher so gut wie irreversibel. SZ: Wie könnte man die Hirnentwicklung denn z. B. im Kindergarten optimal fördern? Momentan wird viel diskutiert, ob den Kindern mehr Programm geboten werden sollte oder ob sie beim Freispiel am meisten lernen. Braun: Eigentlich sucht sich das kindliche Gehirn seine Anregungen selbst. Auch scheinbar sinnloses Spiel wird später in sinnvolle Zusammenhänge einbezogen. Deshalb sollten die Erzieherinnen zwar ab und zu etwas anbieten, aber kein ununterbrochenes Animationsprogramm veranstalten. Das Hauptproblem liegt woanders: Die Erzieherinnen sind in Deutschland zu schlecht ausgebildet, und sie sind für viel zu viele Kinder zuständig. Sie müssen viel besser auf das einzelne Kind eingehen können. Wenn Erzieherinnen darin geschult würden, Kinder gezielt zu beobachten, könnten sie frühzeitig Defizite etwa beim Spracherwerb oder im emotionalen-sozialen Bereich erkennen. Dann könnte man diese Kinder präventiv fördern, noch bevor sie in die Schule kommen, wo eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Verhaltensprobleme heute normalerweise erst entdeckt werden. Die frühzeitige Förderung ist so essenziell, weil sie innerhalb der Zeitfenster stattfindet, in denen die synaptischen Netzwerke noch gut formbar sind. Deshalb wäre es auch sehr wichtig, schon im Kinder- garten auf die besonderen Talente jedes Kindes einzugehen. SZ: Wichtig für die Hirnentwicklung? Braun: Ja. Im Tierexperiment konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass Lernerfolge zu einem Glücksgefühl führen, welches über die Ausschüttung körpereigener „Glücksdrogen“ wie zum Beispiel Dopamin vermittelt wird. Auch dieses körpereigene Belohnungssystem entwickelt sich in den ersten Lebensjahren. Es wirkt als Lernmotivation für das ganze Leben. Deshalb brauchen Kinder das Selbstbewusstsein, dass sie irgendetwas besonders gut können. Wenn Kinder ständig nur auf ihre Schwächen hingewiesen werden, kann die Ausbildung des Belohnungssystems im Hirn gestört werden. Diese Kinder könnten sich längerfristig zu Lernversagern entwickeln. SZ: Und wenn die Motivation stimmt – wie lernt das Gehirn am effektivsten? Braun: Durch Üben und Wiederholen. Hausaufgaben sind nützlich! Das kann man sehr gut mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen. Ein neuer Gedächtnisinhalt ist zunächst noch instabil. Wenn das Gelernte nicht innerhalb von 24 Stunden wiederholt wird, ist die Gefahr groß, dass es im Gedächtnis sozusagen überschrieben wird. Wenn ein Schüler also am Nachmittag Fernsehsendungen oder Computerspiele konsumiert, die in keinem Zusammenhang mit den Lerninhalten des Schulvormittages stehen, ist es recht wahrscheinlich, dass er das Gelernte gleich wieder vergisst. Das ist übrigens ein gutes Argument für die Ganztagsschule. Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr. 139, 20.06.2006, S. 45 11 95 100 105 110 115 120 125 130 12 Kapitel 3 Materialien Kapitel 3 1. Bereiche der Umwelt Bezüglich der Umwelteinflüsse lassen sich vier erzieherisch bedeutsame Bereiche unterscheiden: die natürliche, die kulturelle, die ökonomische und die soziale Umwelt. 5 10 15 20 − Mit natürlicher Umwelt bezeichnet man die belebte und unbelebte Natur, in der der Mensch lebt, zum Beispiel die Art der Landschaft, das Klima, die Ernährung sowie tages- und jahreszeitliche Rhythmen. − Die kulturelle Umwelt meint die vom Menschen geschaffene bzw. veränderte Welt. Dazu gehören beispielsweise Formen der Verständigung wie die Sprache, Wert- und Normvorstellungen, Sitte und Brauchtum, Weltanschauungen und Überzeugungen, Massenmedien, Zeitgeist, Trends, Spielzeug oder Bücher. − Die ökonomische Umwelt bezeichnet die wirtschaftlichen Gegebenheiten wie etwa Wohnverhältnisse, Wohnbezirk, Wohn- raum, Wohneinrichtung, Vermögensverhältnisse und Einkommen. − Die soziale Umwelt umfasst den Menschen in seinen verschiedenen Organisationsformen und Beziehungen wie beispielsweise in der Familie mit ihren Verhältnissen (etwa vollständige oder unvollständige Familie, Geschwisterkonstellation) im Bekannten- und Freundeskreis, in bestimmten Einrichtungen (zum Beispiel im Kindergarten, im Jugendzentrum, in der Schule), in der Gemeinde, im Stadtteil und in der Gesellschaft. Diese genannten Umweltbereiche überschneiden sich zum Teil und sind ständig Veränderungen unterworfen. Häufig werden die kulturellen und sozialen Faktoren zusammengenommen und als soziokulturelle Faktoren bezeichnet. 25 30 35 Umwelt bedeutet alle Einflüsse, denen ein Lebewesen von der Befruchtung der Eizelle bis zu seinem Tod von außen her ausgesetzt ist natürliche Umwelt umfasst die belebte und unbelebte Natur, in der der Mensch lebt kulturelle Umwelt umfasst die vom Menschen geschaffene bzw. veränderte Welt ökonomische Umwelt umfasst die wirtschaftlichen Gegebenheiten soziale Umwelt umfasst den Menschen in seinen verschiedenen Organisationsformen und Beziehungen 2. Der kleine Unterschied 5 (…) Was nach Klärung verlangt, ist nichts anderes als die alte, große Frage Simone de Beauvoirs: „Was ist eine Frau?“ Ist sie ein biologisch geformtes, von tief verwurzelten Verhaltensprogrammen getriebenes Geschöpf? Oder ist das Geschlecht überhaupt ein Konstrukt, das Ergebnis gesellschaftlicher Zuschrei- bungen? Was genau unterscheidet die Frau im Kern vom Manne? „Lange nicht so viel, wie alle immer denken“, sagt Lutz Jäncke – und das klingt ziemlich lapidar angesichts der Tragweite dieses kleinen Halbsatzes. 10 Kapitel 3 15 20 25 30 35 40 Denn der Neuropsychologe von der Universität Zürich hat, gemeinsam mit vielen Fachkollegen, eine (…) dem Laienpublikum weitgehend unbemerkte Revolution losgetreten. Die Forscher legen unter der dicken Makulatur der Stereotype ein neues Bild frei von Mann und Frau. Ihre Erkenntnis, inzwischen wissenschaftlich wohl belegt: Mann und Frau unterscheiden sich kaum. Dort, wo sich Andersartigkeit messen lässt, spielt sie entweder keine Rolle für den Lebensalltag oder ist unbedeutend klein. Vor allem aber gibt es gute Gründe, sie nicht als Ergebnis biologischer Bestimmung zu sehen. Zwar wird der Mensch als Adam oder Eva geboren; im Mutterleib dirigiert durchaus noch die alte Biologie. Von diesem Moment an aber gewinnt eine andere, zutiefst menschliche Entwicklung rapide an Bedeutung: die Kultur. Nun entscheidet vor allem, was die Mädels und Jungs erleben, darüber, wie sie in Zukunft schwatzen, raufen, rechnen oder einparken werden. „Wir kommen mit einer zartrosa und hellblauen Tönung auf die Welt“, sagt Kirsten Jordan, Hirnforscherin an der Universität Göt- tingen. „Erst unsere Erfahrungen, die Kultur, in der wir leben, vertiefen sie dann zu satten Farben.“ Nicht politische Korrektheit oder feministischer Eifer treibt die neuen Gleichmacher unter den Forschern – das macht sie glaubwürdig. Denn all jene Biologen, Neuropsychologen, Anatomen, die jetzt die Gleichheit der Geschlechter ausrufen, begannen einst als hauptamtliche Fahnder nach der biologischen Differenz von Mann und Frau. Aber sie konnten den großen Unterschied nicht finden. Beim besten Willen nicht. „Ich bin als Löwe gestartet und als Bettvorleger geendet“, konstatiert Jäncke. Und so sahen er und die anderen sich gezwungen, die jahrhundertealte Grundannahme über Bord zu schmeißen. Schon in der Gehirnanatomie lassen sich nur wenige Geschlechtsunterschiede zweifelsfrei nachweisen. Viele Befunde, längst für sicher gehalten, mussten revidiert werden (siehe Grafik). Die Zweigleisigkeit weiblichen Denkens zum Beispiel findet nicht statt; der Balken im Hirn ist auch nicht dicker. Selbst wenn eine Region kleiner oder größer ist bei den Geschlechtern: „Was bedeutet es wirklich für das Verhal- Der kleine Unterschied Abweichungen im Hirn von Mann ( ) und Frau ( ) – und neue Forschungsergebnisse Hirngröße auch im Verhältnis zur Körpergröße rund 9 % mehr Volumen Neuronen sind dichter gepackt, daher gleiche Anzahl von Nervenzellen wie beim Mann Graue und weiße Substanz mehr weiße Substanz (Fasern, Verbindungen) mehr graue Substanz (Körper der Neuronen, Verbindungen) neu: die alten Messergebnisse werden inzwischen angezweifelt Hypothalamus zwei Kerne darin doppelt so groß wie bei der Frau: hat Auswirkungen auf sexuelle Orientierung neu: Zerstörung des Areals bei Ratten zeigte keine Auswirkungen auf deren Sexualverhalten Amygdala zuständig für Angst, Wut, Aggression größer und voller Testosteronrezeptoren: höheres Aggressionspotenzial neu: keine deutlichen Größenunterschiede, Rezeptorenbalance und Verteilungsmuster ändern sich innerhalb kürzester Zeit. Balken Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften größer, daher bessere Verknüpfung der beiden Hemisphären neu: Metastudie ergab keine deutlichen Größenunterschiede Hippocampus beteiligt an der Entstehung von Gefühlen und Erinnerungen größer, daher merken sich Frauen leichter emotional gefärbte Erlebnisse neu: keine deutlichen Größenunterschiede Zentrum für Sprache und Hören rund 11 % mehr Neuronen neu: keine signifikanten Unterschiede der Mikrostruktur 13 45 50 55 60 65 14 Kapitel 3 70 75 80 85 90 95 100 105 110 ten?“, fragt Katrin Amunts, Neuroanatomin an der Universität Aachen. Und was die unterschiedlichen Talente von Männern und Frauen betrifft, hat Janen Hyde, Psychologieprofessorin an der University of Wisconsin, sich die Mühe gemacht, alle wichtigen Übersichtsuntersuchungen zusammenzutragen, in denen die Differenz zwischen den Geschlechtern kalkuliert worden war. (…) Hyde war selbst überrascht vom Ergebnis: In knapp 80 Prozent der untersuchten Eigenschaften gleichen sich die Geschlechter sehr, unter anderem in den weitaus meisten Gebieten, die mit Sprache zu tun haben – unversehens verschwindet das Klischee vom Plapperweib und dem wortkargen Eigenbrötler. (…) „Der Mensch hat sich weitgehend von der Lenkung durch seine Hormone befreit“, sagt auch Lutz Jäncke. Genau das unterscheide ihn fundamental vom Tier. „Solange die Fortpflanzung gewährleistet bleibt, tun wir, was wir gelernt haben, was wir sehen, was uns begegnet im Leben.“ Ohnehin wackelt inzwischen das gesamte Theoriegebäude, das die These vom großen Unterschied auf die Steinzeitfamilie stützen soll. Denn die Haushaltsführung in paläolithischen Höhlen ist vor allem – Spekulation. (…) Außerdem: „Selbst wenn sich Unterschiede im Gehirn entdecken lassen, heißt dies nicht, dass sie angeboren sind“, sagt Melissa Hines. Mindestens ebenso plausibel erscheint es, dass erst das Leben nach dem Eva-Prinzip das Mädelgehirn formt, allein die Existenz als Kerl den männlichen Denkapparat. Allzu leicht vergessen die Verfechter naturgegebener Geschlechterrollen nämlich, wie mächtig der Alltag Form und Funktion des Gehirns beeinflusst. Verblüffend leicht vermag sich das menschliche Denkorgan umzumodeln. „Denken Sie an Knetmasse“, sagt Lutz Jäncke. So lässt sich an der Größe einer bestimmten Hirnregion von Taxifahrern able- sen, wie viel Lebenszeit sie damit verbracht haben, durch die Stadt zu kutschieren. Umgekehrt verkümmern nie genutzte Schaltkreise. Wozu noch investieren in Zellen und Synapsen, die Sudokukästchen blitzgeschwind ausfüllen helfen, wenn der Besitzer des Gehirns sein Denkorgan jeden Abend in Bier und die Bedeutungslosigkeit von Comedy-Shows tunkt? Jäncke ist sogar überzeugt davon, dass in genau dieser Veränderlichkeit des Hirns die spezifische evolutionäre Strategie des Homo sapiens bestehe. Anders als andere Tiere gestalte er durch Kulturtechniken selbst seine Lebenswelt. Ebendeshalb habe sich im Laufe der Evolution ein Denkorgan herausgebildet, das sich einstellen kann auf die jeweils aktuelle Situation – ein Gehirn, bereit für lebenslanges Lernen. Daher überrascht es Jäncke nicht, dass die kognitive Grundausstattung von Mann und Frau so ähnlich ist. (…) Deshalb spielen die Erwartungen, die Erzieher und Eltern an ein Kind stellen, eine ausschlaggebende Rolle. Das hat die Wissenschaftlerin Barbara Barres am eigenen Leib erlebt, als sie am Massachusetts Institute of Technology studierte. „Ich war die einzige Person in einer großen Klasse von fast nur Männern, die ein schwieriges mathematisches Problem lösen konnte – nur um mir dann vom Professor sagen zu lassen, dass mein Freund es für mich gelöst haben müsse.“ (…) Denn wenn es stimmt, dass der Mensch im Laufe der Evolution die Fesseln seiner Hormone weitgehend abgeschüttelt hat, wenn letztlich das Steinzeiterbe entlarvt ist als schlichter Abdruck von Stereotypen im Gehirn, könnte der Mensch sich endlich emanzipieren vom Glauben an die Biologie als letztgültiger Chefin seines Schicksals. So wie die Aufklärung ihn vom Wohlwollen eines mächtigen Gottes unabhängig machte. (…) 115 120 125 130 135 140 145 150 Quelle: Bredow, 2007, S. 142–149, stark gekürzt 3. Der freie Wille eines Menschen Selbststeuerung darf nicht mit Selbstbestimmung gleichgesetzt werden. Selbststeuerung sagt aus, dass das Individuum „von sich aus“ seine Entwicklung beeinflusst, unabhängig davon, ob die Selbststeuerung ein Produkt von Anlage- und Umweltfaktoren ist oder ob in ihr auch ein freier Wille zur Geltung kommt. Es kann beispielsweise möglich sein, 5 Kapitel 3 10 15 dass der Mensch seine eigene Entwicklung von sich aus so und nicht anders beeinflusst, weil er aufgrund seiner Anlagen und den gemachten Umwelterfahrungen gar nicht anders kann. Demnach wäre die Selbststeuerung eine Funktion von Anlage und Umwelt. In diesem Fall liegt keine Selbstbestimmung vor, die als subjektiv erlebte Freiheit wäre Illusion. In der Entwicklung eines Menschen kann aber auch ein freier Wille vorhanden sein. Diese Annahme wird als Selbstbestimmung bezeichnet im Sinne von freier Entscheidung gegenüber äußeren und inneren Einflüssen eines Menschen. Anlage und Umwelt würden also nicht festlegen, wie der Einzelne seine Entwicklung beeinflusst, die Selbststeuerung wäre eine Funktion des freien Willens. 15 20 25 Selbststeuerung kann eine Funktion sein von Anlage und Umwelt 30 35 40 45 50 oder Die Frage der Selbstbestimmung wird in jüngster Zeit – wieder – heftig diskutiert. Wie in Abschnitt 3.1.2 angemerkt, vertreten einige Neurowissenschaftler die These, dass der Mensch ein biologisch festgelegtes Wesen ist, dessen Gehirn alle Entscheidungen trifft. Der Mensch verfüge nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über keinen freien Willen, Handlungen würden von Hirnarealen gesteuert, deren Impulse nicht bewusst kontrollierbar seien (vgl. Saß, 2009, S. 38). Dabei wird aus der Beobachtung, dass nicht der „freie Wille“ die neuronale Aktivierung einleitet, sondern umgekehrt diese Aktivierung vor dem Willensakt stattfindet, geschlossen, das menschliche Handeln sei durch Verschaltungen im Gehirn vorherbestimmt. Diese These ist jedoch nicht unumstritten und die meisten Psychologen sind sich darüber einig, dass sich eine solche Frage nicht allein auf der Grundlage der Erforschung der natürlichen Funktionsweisen des Gehirns beantworten lässt. Man wird dem Menschen in seinem Wesen und seiner Ganzheit nicht gerecht, würde man ihn lediglich auf physikalische und chemische Prozesse reduzieren. Und: Es ist nicht das Gehirn, das denkt und ent- des freien Willens, der Selbstbestimmung scheidet, es ist der Mensch. Zudem können Individuum und sein Hirn nicht als zwei getrennte Einheiten betrachtet werden. Dies wäre ein Rückfall auf einen schon überwunden geglaubten Leib-Seele-Dualismus. Ob das Hirn unser Handeln oder das Handeln unser Gehirn beeinflusst, dürfte aus ganzheitlicher Sicht zweitrangig und unerheblich sein. „Der Mensch ist ein Bioautomat, zwar hoch komplex und niemals ganz zu erfassen, doch es gibt in diesem System prinzipiell keinen Zufall, keinen Einbruch irgendeines nicht durch Naturgesetze erklärbaren Prinzips.“ (Caspary, 2010, S. 42 f.) Der freie Wille eines Menschen muss in einer Gesellschaft vorausgesetzt werden, auch wenn er nicht beweisbar ist. Ansonsten würden Phänomene wie Verantwortung und Schuld ihren Sinn verlieren. Ein Mensch wäre dann für seine Handlungen nicht verantwortlich, ein Straftäter wie zum Beispiel ein Mörder könnte dann rechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden. 55 60 65 70 75 16 Kapitel 3 4. Begünstigende und einschränkende Bedingungen der Erziehbarkeit 5 Erziehung ist unterschiedlichen Umweltfaktoren ausgesetzt, die sie unterstützen oder ihr entgegenwirken können. Solche Bedingungen liegen jedoch nicht nur in der Umwelt, sie sind auch beim Erzieher und beim zu Erziehenden zu suchen. Letzlich ist es auch die Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem, die die Erziehbarkeit begünstigen oder einschränken kann. begünstigende Bedingungen der Erziehbarkeit einschränkende Bedingungen der Erziehbarkeit Umweltfaktoren günstige Familienverhältnisse: harmonische Familienatmosphäre gute ökonomische Verhältnisse günstige Wohngegend kindgerechter Wohnbezirk und -raum anregender Einfluss der Bezugsgruppe günstige gesellschaftliche Verhältnisse ungünstige Familienverhältnisse: spannungsgeladene Familienatmosphäre schlechte ökonomische Verhältnisse ungünstige Wohngegend kinderfeindlicher Wohnbezirk und -raum negativer Einfluss der Bezugsgruppe ungünstige gesellschaftliche Verhältnisse Erzieher positive Einstellung zum Kind realistische Einstellung zur Erziehung („pädagogischer Realismus“) negative Einstellung zum Kind pessimistische Einstellung zur Erziehung („pädagogischer Pessimismus“) zu Erziehender gute anlagemäßige Disposition besondere Begabungen Gesundheit positive Einstellung zu sich und der Welt („optimistische Lebensgrundeinstellung“) starke Vitalität, Willensstärke begrenzte anlagemäßige Disposition geistige und/oder körperliche Behinderungen Krankheit negative Einstellung zu sich und der Welt („pessimistische Lebensgrundeinstellung“) schwache Vitalität, Willensstärke Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem positive emotionale Beziehung: emotionale Wärme und Geborgenheit, hohe Wertschätzung und Verständnis viele Anregungen und Lernhilfen negative emotionale Beziehung: emotionale Kälte, Geringschätzung und Verständnislosigkeit, Ablehnung und Vernachlässigung wenig Anregung und Lernhilfen Kapitel 4 17 Materialien Kapitel 4 1. Der Begriff „Erziehung“ nach Wolfgang Brezinka 5 10 15 20 25 30 35 40 Als Erziehung werden jene Sozialen Handlungen bezeichnet, durch die versucht wird, das psychische Dispositionsgefüge anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder (hinsichtlich jener Bestandteile, die als wertvoll angesehen werden, aber gefährdet sind) zu erhalten. Die neu eingeführten Merkmale dieser vorläufigen Begriffsbestimmung müssen (...) einzeln erläutert werden. − Die Sozialen Handlungen, die als Erziehung bezeichnet werden, zielen auf die psychischen Dispositionen anderer Menschen. Wer erzieht, will (...) die Persönlichkeit des Educanden in irgendeiner Hinsicht ändern. (...) Es wird nicht an aktuelle seelische Erlebnisse oder Verhaltensweisen gedacht, (...), sondern an das Gefüge relativ dauerhafter psychischer Bereitschaften eines Menschen, die wir als seinem Erleben und Verhalten zugrunde liegend denken. Eine solche aus dem wahrnehmbaren Verhalten erschlossene Bereitschaft zum Vollzug bestimmter Erlebnisse oder Verhaltensweisen wird „psychische Disposition“ genannt. Kenntnisse, Haltungen, Einstellungen, Handlungsbereitschaften, Gefühlsbereitschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Interessen usw. müssen als Dispositionen angesehen werden. (...) Es ist (...) von großer Wichtigkeit, einzusehen, dass sie nicht auf das flüchtige Erleben und (oder) Verhalten, sondern auf Bereitschaften zum Erleben und (oder) Verhalten abzielt. (...) − Die Sozialen Handlungen, die als „Erziehung“ bezeichnet werden, zielen darauf ab, in anderen Menschen psychische Dispositionen zu schaffen, vorhandene Dispositionen zu ändern oder (unter bestimmten Umständen) zu erhalten und den Erwerb unerwünschter Dispositionen zu verhüten. (...) − Die Sozialen Handlungen, die als „Erziehung“ bezeichnet werden, sind Versuche, das psychische Dispositionsgefüge anderer Menschen zu ändern oder (unter bestimmten Umständen) einige seiner Komponenten zu erhalten. Es ist (...) von größter Bedeutung, schon in die Begriffsbestimmung das Merkmal aufzunehmen, dass mit Erziehung ein Versuch gemeint ist: eine Handlung, durch die der Handelnde versucht, die Persönlichkeit des Educanden zu ändern. (...) Ob er mit seinem Handeln tatsächlich eine Änderung bewirken wird, ist zum Zeitpunkt dieses Handelns ungewiss. (...) Es gibt unbeabsichtigte Wirkungen der Erziehung, ja sogar unerwünschte Wirkungen oder Nebenwirkungen, die (...) als schädlich oder nachteilig für den Educanden zu werten sind. (...) − Die Sozialen Handlungen, die „Erziehung“ genannt werden, sind durch die Absicht gekennzeichnet, die Persönlichkeit anderer Menschen zu fördern, sei es, sie zu verbessern, sei es, ihre wertvollen Komponenten zu erhalten. (...) Sein Dispositionsgefüge soll nicht bloß irgendwie verändert, sondern in seinem Wert gesteigert werden. (...) Erziehen heißt in der Absicht handeln, die Persönlichkeit des Educanden zu fördern. (...) 45 50 55 60 65 70 − Die Adressaten der Erziehung können Menschen in jedem Lebensalter sein. − Erzieher kann jeder Mensch sein, der imstande ist, Soziale Handlungen zu vollbringen, die den Zweck haben, die Persönlichkeit anderer Menschen zu verbessern (bzw. sie in ihren wertvollen Komponenten zu erhalten). Quelle: Brezinka, 19905, S. 79–95, gekürzt 75 80 18 Kapitel 4 2. Lob der Disziplin1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Das Wechselspiel von Disziplin und Selbstdisziplin begleitet den Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Mit Recht ist die Spannung zwischen Disziplin und Selbstdisziplin, zwischen Zwang und Freiheit ein zentrales Thema aller Erziehung. (…) Disziplin heißt Unterordnung. Ein disziplinierter Mensch ist bereit, seine Triebe und seine Wünsche zugunsten eines höheren Zwecks zu zügeln. Dafür übt er sich in Tugenden, die deswegen Sekundärtugenden genannt werden, weil sie ihren Wert erst durch den Zweck erhalten, dem sie dienen. Disziplin beginnt immer fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt enden, aus Disziplin soll immer Selbstdisziplin werden. Sekundärtugenden bilden das Fundament aller Kultur, der Kultur des Alltags wie der großen Meisterwerke eines Volkes. Ordnungssinn, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß – niemand kann leugnen, dass ohne solche Tugenden das Zusammenleben der Menschen unerträglich wird und keine schöpferische Leistung zustande kommt. Die Gründe, warum Disziplin in Verruf gekommen ist, liegen in unserer Geschichte und sind jedermann bekannt. Die Zeit scheint gekommen zu sein, dass wir wieder beginnen können, selbstverständlich über Autorität, Disziplin und Ordnung zu sprechen. (…) Das Thema „Autorität, Disziplin und Ordnung“ ist seit den siebziger Jahren selten aufgegriffen worden. Wer es tat, galt als konservativ, was bei aufgeklärten Pädagogen so viel hieß wie rückwärtsgewandt, undifferenziert, flach in der Argumentation. Ich bekenne mich zu dieser konservativen Haltung. Sie beruht auf der Auffassung, dass Erziehung Führung heißt, dass Autorität und Disziplin das Fundament aller Erziehung bilden und dass es vor allem darauf ankommt, welchem Menschenbild die Erziehenden folgen. Mein Menschenbild ist christlich inspiriert: Der Mensch ist nicht gut von Natur – wer kann an die Güte des Menschen überhaupt noch ernsthaft glauben nach den Erfahrungen des 1 2 20. Jahrhunderts, einem Jahrhundert, dem die Aufklärung voranging? –, wir sind eine „gefallene“ Natur, beschädigt von Geburt an und bedürfen der Erziehung, um „kultiviert“ zu werden, um zu menschlichen Menschen heranzuwachsen. Gut und Böse schlummern in der menschlichen Natur. Durch Erziehung sollen wir junge Menschen stärken, das Gute in sich zu wecken und das Böse zu zügeln. Erziehung bleibt immer eine Gratwanderung zwischen Disziplin und Liebe. Liebe muss das Movens2 jeder Erziehung sein, denn Disziplin rechtfertigt sich nur durch Liebe zu Kindern. Aber Liebe allein genügt nicht. Heranwachsende Kinder und Jugendliche bedürfen der Disziplin, das heißt, sie müssen sich einem äußeren Zwang unterordnen, um in die Kultur ihres Volkes und dessen Moral hineinzuwachsen. Erziehung bedeutet dann auch Gewöhnung, unendliche Wiederholung und Einübung. Damit es nicht zu Dressur abgleitet, müssen die Erziehenden sich als höchstes Ziel setzen, die jungen Menschen zu Selbstdisziplin zu führen. (…) Eltern sollten Kinder und Jugendliche selbstverständlich verpflichten, Konzerte mit ihnen zu besuchen, Wanderungen zu machen, aber auch Pflichten in Haus und Garten zu übernehmen. Ebenso sollten wir in Schulen und Internaten Schüler außerhalb des Unterrichts verpflichten, an Schulkonzerten, Theateraufführungen und Vorträgen teilzunehmen. (…) Dieses „Erziehungsmuster“, dass ein Verhalten angeordnet wird und dann zu einer neuen Einstellung gegenüber der zunächst erzwungenen Tätigkeit führt, gilt nach meiner Auffassung für die Einführung in Kultur jeder Art: Musik lernt man kennen und schätzen durch Üben und durch angeordnete Besuche von Konzerten, Zugang zur bildenden Kunst durch fürsorglich „erzwungene“ Besuche in Museen, Nächstenliebe durch die Verpflichtung, anderen zu helfen. (…) Junge Menschen können aber nur erfolgreich Verantwortung übernehmen, wenn ihre Der ehemalige langjährige Leiter der Schule „Schloss Salem“ am Bodensee hat mit seinem Buch „Lob der Disziplin“ (Bernhard Bueb: Lob der Disziplin: Eine Streitschrift, Berlin, List Verlag, 2006) heftige Diskussionen ausgelöst. movere (lat.): bewegen 50 55 60 65 70 75 80 85 90 Kapitel 4 95 Hauptaufgabe nicht darin besteht, täglich Ordnung und Disziplin herzustellen. Wir haben auch in Salem unsere Schüler in den letzten Jahrzehnten überfordert, weil die Übernahme von Verantwortung in zu hohem Maß die Herstellung von Disziplin und Ordnung bedeutete. Außerdem mangelte es ihnen selbst an Disziplin. Denn die Fähigkeit, Disziplin und Selbstdisziplin zu üben, hing zu sehr von der persönlichen Biografie ab. (…) Auch Salem wird sein Ziel nur erreichen können, wenn die Sekundärtugenden wieder selbstverständlich anerkannt werden. Die Wiederentdeckung der Disziplin wird es vielen pädagogischen Einrichtungen erst ermöglichen, ihre Ziele zu verwirklichen. 19 100 105 Quelle: Bueb, 2007, S. 11–14, gekürzt 3. Soziologische Theorien der Sozialisation 5 10 15 20 25 30 a) Die struktur-funktionale Theorie Bei der struktur-funktionalen Theorie (…) werden Strukturen (statischer Teil des Systems) und Funktionen (dynamischer Teil des Systems) in ihrer Bedeutung für die Stabilität des Gesamtsystems betrachtet. Es interessieren hier Abläufe in Subsystemen und der Austausch zwischen ihnen im Hinblick auf Funktionieren oder Gefährden des Systems. Der Bestand einer Gesellschaft hängt nach Parsons maßgeblich vom Normensystem als Grundlage des Miteinanders der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ab. Danach sind sowohl die Grundwerte (…) als auch spezielle Normen, wie z. B. Rücksichtnahme gegenüber alten Menschen, Halten von Ordnung. Es geht also beim Sozialisationsprozess darum, dass die nachwachsende Generation das Normensystem übernimmt (internalisiert) und nach und nach zu Motiven eigenen Handelns macht. Der Sozialisationsprozess bringt die Übernahme von unterschiedlichen Rollen mit sich. Hierdurch verinnerlicht der Mensch gesellschaftliche Normen und Werte. Aber: Rollen als Erwartungen der Gesellschaft werden nicht einfach im Sinne eines Musters für das eigene Handeln übernommen! Sie werden vielmehr – auch wegen ihrer Unschärfe, interpretiert. Der mit der Fähigkeit zur Reflexivität ausgestattete Mensch, der sich selbst zum Objekt eigener Überlegungen machen kann, modifiziert daher natürlicherweise nach eigenem Verständnis die an ihn herangetragenen 1 2 Normen und Erwartungen. Ggf. distanziert er sich auch von ihnen. Was bedeutet dieser Ansatz Parsons für das pädagogische Handeln? Eine solche Theorie bezeichnet z. B. Verhaltensauffälligkeiten eines Jugendlichen als dysfunktionale Erscheinungen1. Ihnen muss durch entsprechende Maßnahmen und evtl. durch besondere Institutionen (z. B. Heime der stationären Jugendhilfe) entgegengewirkt werden. 35 b) Der symbolische Interaktionismus Beim Ansatz des symbolischen Interaktionismus2 (…) steht die alltägliche, zumeist über Sprache (d. h. über Symbole der Verständigung) vermittelte Interaktion im Mittelpunkt. Ausgangspunkt ist hier also die Mikroebene mit den Kontakten und Austauschprozessen von Menschen. Ihrem Handeln gilt das besondere Interesse. Welche Bedeutung Situationen, Verhaltensweisen, ja auch Gegenstände und Strukturen haben, das wird in Interaktions- und Kommunikationsprozessen wahrgenommen, definiert, bestritten und ausgehandelt. Diese Prozesse beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung und machen sinnbezogenes Handeln erst möglich. Beim symbolischen Interaktionismus geht es auch darum, dass menschliches Handeln maßgeblich an die Übernahme von Rollen gebunden ist; im Zusammenhang mit diesen Rollen entwickelt sich das menschliche Selbst. Als forschungstheoretisch wichtigeres Thema gilt aber: Der Prozess des Aufbaus von Identität 45 Dysfunktionale Erscheinungen sind unangemessene, nicht realitätsgerechte, selbstschädigende und nicht zielführende Erscheinungen. siehe auch Abschnitt 4.1.2 40 50 55 60 65 20 Kapitel 4 70 75 80 85 90 des Individuums geschieht über symbolische Interaktionen. Hierbei wird nicht von einer schematischen Übernahme von Rollen, verbunden mit bestimmten Wertmaßstäben ausgegangen, sondern von einem Prozess mit produktiven Leistungen des Individuums. Bei der Interaktion gilt die Aufmerksamkeit maßgeblich den Motiven des jeweils anderen. Der Einzelne stellt sich hierbei als „Ich“ dar, das von der Situation geprägt wird („me“), aber auch selbst die auf die Situation prägend wirkt („I“). Zudem sind Interaktionen stets eingelagert in spezifische Lebenswelten, die eigene Strukturmerkmale (z. B. Erwartungen, Deutungsmuster, Muster des Handelns) aufweisen. c) Die Kritische Gesellschaftstheorie Die Kritische Gesellschaftstheorie (…) hat vor allem im Blick, wie durch Fördern einer zwangfreien Kommunikationsgemeinschaft aller, die sich über umfassende Lebenswerte verständigt, eine Auffassung überwunden werden kann, welche Umwelt und Mitwelt nur (sozial) technokratisch begreifen kann. Habermas betont die Entwicklung des sprachlich handelnden Subjekts, das unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen Ich-Identität, kommunikative Kompetenz sowie Einfühlungsvermögen (Empathie) erwerben muss. Er schließt damit an die Kernüberlegungen des symbolischen Interaktionismus an. Nach seiner Auffassung ist davon auszugehen, dass nur derjenige, der seine Lebensgeschichte in die eigene Hand nimmt, die Verwirklichung seiner selbst schaffen kann. (…) Die Persönlichkeitsentwicklung in kritischer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich bewirkten Lebensbedingungen setzt bestimmte Grundqualifikationen voraus, die erworben werden müssen: Frustrationstoleranz, Unklarheiten und Mehrseitigkeiten von Rollenerwartungen (Ambiguität1) ertragen können, ein reflektierendes Verhältnis gegenüber den Rollen gewinnen, verbunden mit der Fähigkeit zur Distanz von einer Rolle. 95 100 105 110 Quelle: Knapp, 20034, S. 153 ff. 4. Nicht das Leben, nur die Bildung bildet 5 10 15 20 Über unsere Ausgangsfrage, was man lernen müsse, wenn man künftige Anforderungen nicht hinreichend voraussehen kann, hat man nämlich schon im frühen 19. Jahrhundert nachgedacht, als die moderne Industriegesellschaft sich gegen die alte Ordnung durchzusetzen begann und deshalb die Zukunft ungewiss wurde. Die Antwort – vorgetragen vor allem von Wilhelm von Humboldt – lautete: Bildung. (…) Sie beruht auf einer simplen Einsicht: Wenn man, wie bis dahin üblich, den Menschen lediglich für seine künftig erwarteten spezifischen Funktionen – etwa als Bauer, Handwerker, Geschäftsmann – ausbildet, dann läuft er Gefahr, Veränderungen in seinem Beruf nicht mehr gewachsen zu sein. Erteilt man ihm jedoch eine grundlegende Bildung im Sinne einer „Allgemeinbildung“, wird er in den Stand gesetzt, auf Veränderungen flexibel zu reagieren. Er verfügt dann über das dafür erforderliche geistige Potenzial. Allgemeinbildung kann ein Mensch in sei1 ner Lebensumwelt allein jedoch nicht erwerben. Sie ergibt sich nicht aus der Summe dessen, was jemand für seine alltäglichen Funktionen lernt – nicht aus den Erfahrungen der „Lebenswelt“, wie man heute sagen würde. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, umso mehr kommt dies auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute. (...) Fazit: Die Schule kann sich nicht allein danach richten, was etwa die Wirtschaft von ihren Absolventen erwartet; denn auch die Unternehmen müssen sich auf ihre gegenwärtige Einschätzung verlassen und können künftige Entwicklungen nicht hinreichend voraussehen. Nicht vom täglichen Leben aus, sondern in Distanz dazu sollen also die allgemeinen Fähigkeiten des Menschen, die die Grundlage für die Erfüllung aller einzelnen Lebensanforderungen bilden, entwickelt werden, und das kann nur durch einen Unterricht geschehen, der dazu anleitet, angemessene Vorstellun- Ambiguität (lat., ambiguitas): Mehr-, Doppeldeutigkeit 25 30 35 40 Kapitel 4 45 50 55 60 65 70 75 gen über die Welt zu entwickeln. Das ist die grundlegende didaktische Idee der Bildung. Der Schüler soll sich durch einen „allgemein bildenden“ Unterricht einerseits die Grundlagen der natürlichen und kulturellen Welt zu eigen machen und andererseits dabei seine wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen lassen. Das ist nur möglich, wenn der Schüler in Distanz tritt zu seinen lebensaktuellen Rollen und Erwartungen, also nicht darauf fixiert bleibt. Nicht das Leben bildet, sondern nur die Bildung bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt – erforscht durch die Wissenschaften – in ihrem Zusammenhang vorzustellen und anzueignen. (...) Es geht um grundsätzlich gleichberechtigte Teilnahme an allem, was die Gesellschaft zu bieten hat – keineswegs nur um berufliche Qualifizierung. (...) Wenn sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich als Jugendlicher oder Erwachsener bewegen wird, entsteht eine eigentümliche Unschärfe. Das Bildungsangebot für alle Kinder muss dann nämlich relativ abstrakt entworfen werden, denn es zielt – zumindest am Anfang – auf den künftigen Philosophieprofessor ebenso wie auf den ungelernten Arbeiter, (...). Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine demokratisierte Bildung zu zahlen ist. (…) Wie also kann ein Schulunterricht aussehen, der solche Wahlmöglichkeiten nicht der Willkür oder dem Zufall überlässt? Damit ist die Frage nach der Werteerziehung unter den Bedingungen des Pluralismus aufgeworfen. Dafür ist offensichtlich gerade die Distanz des Bildungskonzeptes zum aktuellen Leben von großer Bedeutung, weil sie gleichsam eine Vogelperspektive schafft, von der aus die Optionen gesichtet, überprüft und erörtert werden können. (...) Bildend ist ein Unterricht also nur dann, wenn er sich nicht auf abfragbares Wissen beschränkt (...). Vielmehr geht es darum, den Schülern eine Aneignung zu ermöglichen, die ihrer inneren Vorstellungswelt zugute kommt. Der bildende Unterricht muss also Zeit, Nachdenklichkeit und Gelassenheit zulassen. Daran mangelt es durchweg, weil die Lehrpläne von der Stofffülle her entworfen werden, als komme es nur darauf an, sich eine bestimmte Menge davon in einer bestimmten Stundenzahl einzuverleiben. Bildender Unterricht wird andererseits aber auch verfehlt, wenn die Orientierung am Schüler übertrieben wird, als könne nur er selbst herausfinden, was für ihn zu lernen wichtig sei. (...) Quelle: Giesecke, 1999, S. 54–59, gekürzt 21 80 85 90 95 100 22 Kapitel 5 Materialien Kapitel 5 1. Der klinische Fall der Anna O. 5 10 15 20 25 „Als das erste Mal durch ein zufälliges, unprovoziertes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen, und die Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund abgeben zu können, war es ihr plötzlich unmöglich geworden zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber sowie es die Lippen berührte, stieß sie es weg wie ein Hydrophobischer. (…) Als das etwa sechs Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal in der Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheues, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei und dass deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus einem Glase getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wolle höflich sein. Nachdem sie ihrem steckengebliebenen Ärger noch energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne Hemmung eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen. Die Störung war damit für immer verschwunden.“ Quelle: Josef Breuer1, 20076 30 Später stellte sich (...) heraus, dass die Geschichte der Anna O. gar nicht so verlaufen war wie in den „Studien über Hysterie“ dargestellt. Als Freud von „einer glücklichen Heilung“ sprach und behauptete, Anna sei „gesund und effizient“ daraus hervorgegangen, hatte er nicht die Wahrheit gesagt. Bertha Pappenheim war nicht geheilt, sie erlitt Rückfälle und musste sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden. Später jedoch wurde sie auf dem Gebiet der Sozialarbeit sehr aktiv und engagierte sich insbesondere in der Frauenfrage. Als Frauenrechtlerin wurde sie so berühmt, dass die Bundesrepublik Deutschland 1954 ihr zu Ehren eine dunkelblaue Sondermarke mit ihrem Porträt herausbrachte. Ideengeschichtlich gesehen ist der Fall Anna O. recht beunruhigend und wirft starke Schatten auf die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse. (...) Sollen wir nun empört sein? Angefangen von Ptolemäus über Galilei und Gregor Mendel, den Begründer der Genetik, bis zum Nobelpreisträger David Baltimore hat es immer wieder Wissenschaftler gegeben, die „geschummelt“ haben. Dafür prägte Richard Westfall, der über einige unbekümmerte Operationen von Isaac Newton berichtet, den Begriff „fudge factor“: ein Faktor, den man in die Berechnungen einfügt, damit sie stimmen. Bei Newton spielte dieser Faktor eine entscheidende Rolle. Aufgrund rein spekulativer Theorien „wusste“ er, wie die Ergebnisse aussehen mussten, folglich änderte er den Wert der fraglichen Parameter solange, bis er das gewünschte Resultat erhielt. Auf diese Weise berechnete er die Schallgeschwindigkeit. 35 40 45 50 55 60 65 Quelle: Speziale-Bagliacca, 2000, S. 44 ff. 2. Bruder Eichmann – Auszug aus der 5. Szene des gleichnamigen Schauspiels von Heinar Kipphardt Adolf Eichmann (1906–1962) war SS-Obersturmbannführer und Leiter des Referats für die Organisation der Vertreibung und Depor1 tation der Juden. Er war als zentrale Figur mitverantwortlich für die Ermordung der Juden im weitgehend besetzten Europa. 1960 Josef Breuer (1842–1925) war ein österreichischer Arzt und Philosoph. Neben Sigmund Freud gilt er als Mitbegründer der Psychoanalyse. 5 Kapitel 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 wurde er von israelischen Agenten aus Argentinien entführt und nach Israel gebracht. Ein Jahr später wurde er zum Tode verurteilt und durch den Strang hingerichtet. Heinar Kipphardt schrieb 1982 ein Schauspiel über den Prozess von Adolf Eichmann, welches 1983 uraufgeführt wurde. Eichmanns Zelle. Eichmann und die Psychiaterin Frieda Schilch. Bewachung wie beschrieben. EICHMANN: Von der Kinderstube angefangen, war bei mir der Gehorsam etwas Unumstößliches, etwas nicht aus der Welt zu Schaffendes. SCHILCH: Warum? EICHMANN: Aus meiner Erziehung, strenge Erziehung, Frau Doktor, von meinem seligen Vater. Trotz liebevollster Zuneigung und Freude an mir, war er sehr streng gewesen, gab es keine Widerworte, musste gehorcht werden. SCHILCH: Erinnern Sie sich an bestimmte Sachen? EICHMANN: Bei den Mahlzeiten, zum Beispiel, Tischgebet, Reichen der Speisen, hieß es von Anfang an, was auf den Tisch kam, musste gegessen werden. Wer etwas nicht aß, bekam es bei der nächsten Mahlzeit wieder, bis er es aufgegessen hatte. So lernten wir Genügsamkeit. SCHILCH: Konnten Sie Wünsche äußern, was Sie gern aßen? EICHMANN: Nein. Wir waren ja acht Kinder, sieben Söhne, eine Tochter. Es war den Kindern nicht erlaubt, während des Essens zu sprechen, nur wenn ein Kind direkt etwas gefragt wurde, durfte es antworten. Wegen schlechter Haltung, um die Arme anzulegen, aß ich eine Zeit mit Kochlöffeln zwischen den Armen und dem Oberkörper. (…) (…) Der Vater war immer die bestimmende Figur gewesen, auch in der zweiten Ehe, und stets von großem Ansehen begleitet. Sehr prinzipienfest und willensstark. SCHILCH: War es für Sie schwer, seinen Erwartungen zu genügen? EICHMANN: Wie ich noch ganz klein war, hatte ich eine Kinderlähmung, Polio, und ich musste neu gehen lernen. Einmal in der Woche prüfte er meine Fortschritte. Ich war sehr bedrückt, wenn er fand, dass ich nicht genug geübt hatte. Das ist meine erste Erinnerung, ziemlich meine erste. Auch in der Schule, lernen, lernen, hat es mich oft gequält, dass ich ihm nicht entspreche, als einziger der Söhne, die Matura nicht erreichte, das Abitur. SCHILCH: Was für Strafen gab es? EICHMANN: Schuhputzen, Strafarbeiten, Ausgangssperre, Taschengeldentzug, Stubenarrest –. Das Schlimme für mich war nicht, wenn er schimpfte, sondern von seiner Enttäuschung sprach. (…) SCHILCH: – Wurden Sie strenger als Ihre Geschwister erzogen? EICHMANN: Strenger. Obwohl ich kein schwer erziehbares Kind gewesen sein soll, sondern das gerade Gegenteil davon, leicht lenkbar und folgsam. Weil ich der Älteste war vielleicht, der Vornamensträger, Adolf oder – ist mir nicht klar warum. SCHILCH: Fanden Sie das ungerecht? EICHMANN: Glaub ich nicht. Ich anerkannte meinen Vater als absolute Autorität, wie ich später auch meine Lehrer und Vorgesetzten als Autorität anerkannte. Als ich zur Truppe kam, schien mir das Gehorchen keinen Deut schwerer als das Gehorchen der Kinderstube. Auch in der Schule, auch in den Berufsjahren, auch da. SCHILCH: Wenn Sie sich von jemandem ungerecht behandelt fühlten, wie haben Sie da reagiert? EICHMANN: Ich möchte als ein Beispiel erwähnen, was ich später oft den mir unterstellten Offizieren und Unteroffizieren erzählte. Das war in Kloster Lechfeld gewesen, Truppenübungsplatz damals, da war irgendein Vorkommnis gewesen in der Kompanie, das Bataillon wollte es herauskriegen und fing mit Strafexerzieren an, mit Strafexerzieren und, wie das so üblich war, war es das Robben. SCHILCH: Robben? EICHMANN: Robben. SCHILCH: Von der Robbe? EICHMANN: Robben, das später verboten wurde. Er macht es vor. Vorwärtsbewegung nur auf den Ellbogen, in diesem harten, schilfähnlichen Gewächs dort, Kieselsteine, nur Kieselsteine – eine ehemalige Moräne gewesen scheint‘s, und schon nach 23 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 24 Kapitel 5 110 115 120 125 130 135 140 den ersten Übungen hatten sich die ersten Leute zum Revier gemeldet, sich d. u. schreiben lassen. SCHILCH: Was ist d. u.? EICHMANN: Dienstunfähig, dienstunfähig, schon nach ein, zwei Stunden, war sehr hart gewesen. Ich hatte damals vor Ingrimm und Zorn – weil ich glaubte, es geschähe uns Unrecht – habe ich verbissen weitergerobbt, gleichgültig, ob ich der Letzte war, denn der Letzte musste immer wieder noch mal ran, und so hatte ich mir meine Ellbogen durchgerobbt, hatte auf Verbinden verzichtet, und mich nach der Mittagspause habe ich mich wieder gemeldet, nachmittags wieder Strafexerzieren. Kaum hatten wir die ersten Robbereien gemacht, waren meine notdürftigen Pflästerchen, die ich drauf hatte, wieder weggerobbt, und die beiden Ellbogen waren frei von Haut, lief das Blut heraus. Kurz und gut, ich blieb hier stur und robbte in meinem Zorn weiter, und so war‘s, da fiel man auf, und da avancierte ich dann nachher. SCHILCH: Wenn ich Sie recht verstehe, Sie wehrten sich gegen ein Unrecht, indem Sie rücksichtslos gehorchten? EICHMANN: Es wäre denkbar gewesen, dass das berühmte Kamel durch das Nadelöhr geht, aber undenkbar, dass ich mir gegebenen Befehlen nicht gehorcht hätte, damals. (…) SCHILCH: Gaben Sie denn so nicht klein bei? (…) EICHMANN: Nein, denn ich machte ja immer so weiter. (…) Ich wurde in dieser Zeit Unter- scharführer, bekam ein Sternchen, Unteroffizier also. SCHILCH: Wollten Sie das damit erreichen? EICHMANN: Nein, nein, nein, ich hatte einen solchen Zorn – SCHILCH: Wenn ich Ihre Haltung einmal zu klären versuche, da war erstens, dass sie, trotz aller Wut, gehorchten, das heißt, Sie zeigten der Autorität, dass Sie sie anerkennen – so sehr, dass Sie ihr sogar gehorchten, wenn sie im Unrecht ist, selbst wenn das Sie vernichten würde. Sie signalisierten mit Ihrer rückhaltlosen Unterwerfung gleichzeitig, dass Sie einen Anspruch darauf hätten, von ihr erhoben zu werden, zu avancieren, ein Teil der Autorität zu werden. Kann man das so sagen? EICHMANN: Ich bin da nicht der nötige Fachmann, Frau Doktor, der diese Sachen erklären kann. Ich habe damals stur meinen Befehlen eben Gehorsam geleistet, und darin habe ich – meine Erfüllung gefunden. SCHILCH: Auch wenn Ihnen ein Befehl ganz falsch oder Sie in Gewissenskonflikte brachte? EICHMANN: Hatte ich ihn nicht zu deuten, hatte ich ihn auszuführen, denn die Verantwortung, das Gewissen, muss ja der Befehlsgeber haben, letztlich also die Staatsspitze. Wenn man mir um jene Zeit, in diesem, wie es hieß, Schicksalskampf des deutschen Volkes gesagt hätte: Dein Vater ist ein Verräter, also mein eigener Vater ist ein Verräter, und ich hätte ihn zu töten, hätte ich das auch getan. (…) 145 150 155 160 165 170 Quelle: Kipphardt, 1983, S. 29–34, gekürzt 3. Narzissmus 5 10 a) Die Allergrößten (…) Als narzisstisch gelten Menschen, die besonderen Wert darauf legen, vor anderen als überlegen, großartig und unerreichbar dazustehen. Sie reden fast ausschließlich von sich, ihren Ideen und Erfolgen. Dagegen bringen sie dem, was andere zu berichten haben, wenig Interesse oder sogar offene Geringschätzung entgegen. Weil sie sich offensichtlich für etwas Besseres halten – und das andere auch gerne spüren lassen –, werden sie oft als „arrogant“, „überheblich“ oder „eingebildet“ angesehen. (…) Die American Psychiatric Association (APA) hat in ihrem Diagnostischen Manual DSM-IV festgelegt, welche Verhaltensmerkmale eines Menschen die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung begründen: 1. ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit 2. eine starke Beschäftigung mit Fantasien von Erfolg, Macht, Schönheit 3. der Glaube, „besonders“ zu sein und nur mit „ebenbürtigen“ Personen verkehren zu können 15 20 25 Kapitel 5 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 4. ein Verlangen nach übermäßiger Bewunderung 5. eine Anspruchshaltung, etwa auf bevorzugte Behandlung 6. eine ausbeuterische, manipulative Beziehungsgestaltung 7. mangelndes Einfühlungsvermögen 8. häufige Neidgefühle oder die Überzeugung, andere seien neidisch 9. ein arrogantes, überhebliches Auftreten. Beide Erklärungsansätze sind reine Hypothesen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nach den strengen Kriterien der empirischen Psychologie nur schwer zugänglich. Mehrere Beobachtungen sprechen jedoch dafür, dass ohne ein erhebliches Ausmaß von Schädigung keine ausgewachsene narzisstische Persönlichkeitsstörung entstehen kann. (…) Durch diese Kategorien wird ein Typ Mensch beschrieben, der in der Realität nur selten in voller Ausprägung anzutreffen ist. Für die Diagnose genügt es daher, wenn mehr als die Hälfte der Merkmale, also mindestens fünf vorhanden sind. (…) Was die Ursachen dieser Störung betrifft, so konkurrieren im Wesentlichen zwei Theorien miteinander: Die eine besagt, die betroffenen Personen seien in der Kindheit verhätschelt und von den Eltern vor den Einschränkungen und Enttäuschungen des täglichen Lebens bewahrt worden. Daher richteten sie auch als Erwachsene noch entsprechende Erwartungen an ihre Umwelt: Sie haben schlicht keine Erfahrung mit solchen Situationen, in denen es einmal nicht nach ihrer Nase geht. Wie selbstverständlich fordern sie daher – aus Gewohnheit – Sonderrechte für sich. Die andere Theorie der Narzissmusentstehung betont dagegen die Abwehrfunktion des arroganten Verhaltens: Kinder haben ein starkes, natürliches Bedürfnis, von den Eltern wahrgenommen und anerkannt zu werden. Ob die Eltern diesem Bedürfnis in hinreichender Weise entsprechen, ist von zentraler Bedeutung für eine gesunde Selbstwertentwicklung. Wer jedoch in dieser Hinsicht geschädigt wurde, etwa durch andauernde Kränkung, Zurücksetzung und Missachtung, der kann sich unter bestimmten Umständen die Strategie aneignen, sich mit Gewalt Achtung zu verschaffen. Der Betroffene dreht gewissermaßen den Spieß um: Anstatt sich minderwertig, schwach und unterlegen zu fühlen, mobilisiert er enorme Kräfte, um zu beweisen, dass er Anerkennung verdient, mithalten kann, vielleicht sogar anderen überlegen ist. Nach dieser Auffassung handelt es sich um eine Überlebensstrategie im Umgang mit einem sehr fragilen Gefühl für den eigenen Wert. b) Das Zeitalter der Narzissten Folgt man etwa Christopher Lasch und seinem Buch „Das Zeitalter des Narzissmus“ (1999), dann soll der dominierende Typus unserer Zeit der narzisstische Charakter sein. Er entstand, weil im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Modernisierung die Menschen aus den direkten Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie – entlassen und in ein Netz institutionalisierter Gesundheits- und Wohlfahrtsinstitutionen übergeben wurden. Die damit erzeugten bürokratischen Abhängigkeiten, „die Aushöhlung des Selbstvertrauens und der normalen bürgerlichen Fähigkeiten durch das Anwachsen gigantischer Körperschaften und der Staatsbürokratie“ (Lasch, 1999, S. 284) führten zu einem kalten, selbstbezogenen Charakter, ohne emotionale, moralische oder soziale Bindungen. Dazu Lasch (1999, S. 288) selbst: „Unsere Gesellschaft ist also in doppeltem Sinne narzisstisch. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstruktur spielen (...) in der zeitgenössischen Wirklichkeit eine auffällige Rolle und bringen es häufig zu beträchtlichem beruflichem Ansehen (...). Die moderne kapitalistische Gesellschaft (...) kitzelt auch bei jedermann narzisstische Züge heraus und gibt ihnen Nahrung.“ Unter solchen Lebensumständen müssen sich auf Dauer ausgeprägt ichbezogene Persönlichkeiten entwickeln, ökonomische und organisatorische Veränderungen fordern geradezu die Entstehung dessen, was in der Psychologie als narzisstische Persönlichkeit beschrieben wird. Übernehmen wir diese Zeitdiagnose für den Moment und behaupten also: Der Narzisst ist der neue Sozialcharakter, seine Emotionalität prägt die Gefühlskultur der Gegenwart. Auch nach Berichten von Therapeuten und Unter- 25 80 85 Quelle: Leising, 2004, S. 30 ff. 90 95 100 105 110 115 120 125 26 Kapitel 5 130 nehmensberatern nehmen narzisstische Störungen in der klinischen Praxis gegenwärtig zu. (…) Der Narzisst also als neuer Sozialcharakter? Eher nicht, denn diesen Typus hatte ja schon Wilhelm Hauff im Sinn, seine Eigenschaften beschreiben präzise den Charakter des Peter Munk nach seiner Herztransplantation. Der Narzisst ist der Sozialcharakter der industriellen Gesellschaft. 135 Quelle: Winterhoff-Spurk, 2005, S. 34 ff. 4. Kritische Würdigung der Psychoanalyse 5 10 15 20 25 Sigmund Freud hat nicht nur die Psychologie insgesamt und vor allem den Bereich der Entwicklung der Persönlichkeit sehr stark beeinflusst, sondern auch das intellektuelle Leben in unserer Kultur. Für die damalige Zeit waren seine Ideen erschreckend und zugleich aufrüttelnd. Viele andere Theorien wurden zumindest teilweise als Reaktion auf die Psychoanalyse entwickelt. Es ist Sigmund Freuds großes Verdienst, die Erkenntnis von unbewussten Prozessen und inneren Kräften für die Entstehung und das Verständnis von psychischen Fehlentwicklungen ausgewertet zu haben. Die Psychoanalyse besitzt einen hohen Erklärungswert, sie ist eine umfassende Theorie, die das komplexe menschliche Erleben und Verhalten erschöpfend beschreiben und erklären kann. Sie stellt eine systematische und umfassende Konzeption dar, die sich zur Analyse von psychischen Vorgängen hervorragend bewährt hat. Zudem hat sie mit ihren Erkenntnissen über die Veränderung von seelischen Zuständen und Fehlentwicklungen einen großen Einfluss auf die Pädagogik und insbesondere auf die Therapie ausgeübt. Doch die Psychoanalyse ist auch vielen Kritiken ausgesetzt, welche ihren Erklärungswert einschränken: 30 35 − Sie sieht den Menschen als reines Triebwesen. Diese Sichtweise ist jedoch zu sehr verengt; die heutige Psychologie weiß, dass der Organismus nicht nur deshalb aktiv wird, um Triebwünsche möglichst umfassend zu befriedigen und innere Spannungen zu vermindern. − Sehr umstritten ist die Annahme eines Todestriebes mit seinen aggressiven Äuße- rungsformen, zumal Freud keine innere organische Quelle bzw. keine psychische Energie für diesen angeben konnte. Modernere Untersuchungen weisen darauf hin, dass Aggressionen insbesondere auf Erfahrungen zurückgehen. − Die Annahme, dass jedes Erleben und Verhalten determiniert ist, ist nicht nachweisbar und auch sehr umstritten. Zudem wird dem Menschen durch das Festgelegtsein seines Verhaltens so gut wie keine Selbststeuerung und Autonomie zugestanden. − Dem Ich wird in der Psychoanalyse eine schwache Position zugestanden. Das Ich ist, wie es August Flammer (20094, S. 87 f.) formuliert, „wie ein schwacher Politiker, der dauernd Kompromisse eingehen muss, um zu überleben.“ Heutige Psychoanalytiker haben diesen Punkt aufgegriffen und die Freud‘sche Theorie um eine „Ich-Psychologie“ erweitert. Auch das ursprünglich psychoanalytische Grundverständnis vom Kind als einem passiven, hilflosen Wesen hat sich gewandelt hin zu einem aktiven Individuum. − Die ursprüngliche Psychoanalyse geht von der primären Feindseligkeit der Menschen untereinander aus. Schon der Säugling sei unsozial, potenziell gefährdet und ausschließlich von Trieben gesteuert. Indem die Umwelt, die ja die Feindschaft verbietet, Beschränkungen auferlegt und Sanktionen ausübt, lernt man als Reaktion auf die frustrierenden Einwirkungen der Umwelt, sich sozial zu verhalten. Freud vertritt das Bild eines Kampfplatzes, auf welchem sich Triebe und gesellschaftliche Werte attackieren. Erst heutige Psychoanalytiker korrigieren das Bild vom Menschen als „asoziales“ Wesen. 40 45 50 55 60 65 70 75 Kapitel 5 „Homo homini lupus1; wer hat nach all den Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? (…) Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. (…) Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, (…).“ 80 85 (Freud, 1994, S. 102) 90 95 100 105 110 115 120 − Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Freuds nicht haltbare Ansichten über Frauen und die weibliche Sexualität. Er führt beispielsweise die „Minderwertigkeit“ der Frau gegenüber dem Mann auf die Penislosigkeit zurück und sieht Persönlichkeitseigenschaften wie Abhängigkeit von anderen, Unterwürfigkeit und dergleichen als typisch „weibliche“ Eigenschaften an, die sich aufgrund von biologischen Einflüssen und des Erlebens der Penislosigkeit entwickeln. − Für viele Wissenschaftler sind die Aussagen der Psychoanalyse zum Teil nicht wissenschaftlich fundiert: Es wird angeführt, dass sich zum einen aus dem Studium von nur sehr wenigen klinischen Fällen und zum anderen aus den Beobachtungen an einer sehr eng umschriebenen Gruppe von Menschen keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten für das normale Verhalten ableiten lassen. Ihre Aussagen beruhen größtenteils auf Einzelbeobachtungen und gehen mit ihren spekulativen Annahmen weit über den Einzelfall hinaus, ohne dafür Belege zu erbringen (vgl. Hautzinger/Thies, 2009, S. 6). Zudem sind viele Aussagen nicht nachweisbar, sondern lassen sich lediglich durch Interpretation und Deutungen von Berichten erschließen, die nicht überprüfbar sind. Viele Prozesse gehen unbewusst vor sich, sodass wissenschaftlich nicht festgestellt werden kann, ob es sie tatsächlich gibt. Es lässt sich neben der Annahme eines Todestriebes mit seinen aggressiven Äuße1 2 rungsformen auch das Festgelegtsein sämtlicher Verhaltensweisen durch seelische Prozesse nicht belegen. Vor allem die Libidoentwicklung wird wegen ihrer offenkundigen Schwächen zunehmend auch von heutigen Psychoanalytikern abgelehnt wie etwa die orale Befriedigung durch Nahrungsaufnahme, der Säugling als passives und asoziales Wesen, das ausschließliche Erlernen der Thematik des Hergebens und Festhaltens im übertragenen Sinne, die Kastrationsangst, der Penisneid oder der Ödipuskonflikt bzw. -komplex. Freuds Lehre wurde immer wieder kritisiert und sie ist auch heftig umstritten. Doch neuere Untersuchungen der Hirnforschung bestätigen viele Aussagen der Psychoanalyse. Das Vorhandensein von unbewussten Prozessen und der Verdrängung sowie vieles, was Freud über den Traum und die Traumdeutung geschrieben hat, findet heute wissenschaftliche Bestätigung. Aufgrund neurobiologischer Erkenntnisse der jüngsten Zeit leugnet heute kein Wissenschaftler mehr die prägende Rolle der Kindheit oder die Existenz des Unbewussten; Gedächtnisforscher arbeiten derzeit ebenso wie Freud mit dem Begriff der Verdrängung, und auch die schon tot geglaubte Annahme, Wünsche sind die Quelle der Träume, hat wissenschaftliche Bestätigung gefunden. Heutige Psychoanalytiker betonen mehr die Entwicklung der Ich-Funktionen, die Entwicklung des Selbstbildes und die Rolle früher Beziehungen, vor allem zu den Eltern bzw. anderen Bezugspersonen (Objektbeziehungen). Zudem rücken sie den sozialen Gedanken mehr in den Vordergrund.2 „Die Psychoanalyse ist eine umfassende und komplexe Theorie. Wenn Teile daraus (…) als wahrscheinlich unzutreffend erkannt werden, heißt das noch lange nicht, dass die ganze Theorie zu verwer(Flammer, 20094, S. 92) fen ist.“ Quelle: Hobmair, Band 1, 20113, S. 229 ff., verändert lat.: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf; diese Aussage geht auf den englischen Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) zurück. Mit dieser neuen Entwicklung nähern sich Psychoanalytiker der Individualpsychologie von Alfred Adler an, der sich gerade wegen dieser kritisierten Punkte von Freud trennte. 27 125 130 135 140 145 150 155 160 165 28 Kapitel 6 Materialien Kapitel 6 1. Die Geschichte vom kleinen Albert und der weißen Ratte1 5 10 15 20 25 Von Albert wird berichtet, dass er von Geburt an gesund und eines der am besten entwickelten Kinder war, die je an diesem Hospital untersucht wurden. Zu Beginn der Untersuchung war er neun Monate alt und emotional sehr stabil, weswegen man ihn auch für diese Untersuchung ausgewählt hatte. Bei zahlreichen Tests, bei denen er mit einer weißen Ratte, einem Kaninchen, einem Hund, einem Affen, Masken mit und ohne Haar, Baumwolle usw. konfrontiert wurde, zeigte er niemals Angst. Es wird berichtet, dass das Kind praktisch nie schrie. Lediglich durch laute Geräusche und plötzliches Wegziehen der Unterlage konnte Angst ausgelöst werden. Das laute Geräusch wurde erzeugt, indem man mit einem Hammer auf eine hängende Eisenstange schlug. (…) Im Alter von elf Monaten wurde dem kleinen Albert eine weiße Ratte gezeigt. In dem Augenblick, als das Kind mit der linken Hand nach der Ratte greifen wollte, wurde hinter seinem Rücken auf die Eisenstange geschlagen. Das Kind zuckte heftig zusammen, fiel nach vorn und verbarg sein Gesicht in der Ma- tratze. Als später die rechte Hand die Ratte berührte, wurde wieder auf die Eisenstange geschlagen. Das Kind erschrak wieder sehr und begann zu wimmern. Nach einer Woche wurde eine ähnliche Versuchsserie durchgeführt, an deren Ende Albert sofort zu schreien begann, sobald die Ratte nur gezeigt wurde. (…) Nach fünf Tagen entwickelte Albert ähnliche (teilweise schwächere) Angstreaktionen auch beim Anblick eines Kaninchens, eines Hundes, eines Pelzmantels, bei Baumwolle usw. Die Reaktion konnte wohlgemerkt ausgelöst werden, ohne dass in diesem Versuchsdurchgang auf die Eisenstange geschlagen wurde. (…) Nach einem Monat wurde Albert noch einmal untersucht. Dabei konnte man feststellen, dass sich die bedingten emotionalen Reaktionen erhalten hatten. Lediglich war die Stärke mancher Reaktionen etwas geringer geworden. (…) Albert wurde aus dem Hospital genommen. Deswegen konnte ein Abbau nicht ausprobiert werden. 30 35 40 45 Quelle: Edelmann, 20006, S. 57 f., gekürzt 2. Verhaltenstherapeutische Techniken 5 10 Psychotherapeutische Techniken können nur von ausgebildeten Fachleuten angewandt werden. Der verantwortungsvolle Umgang mit solchen Techniken erfordert eine fundierte psychologische Ausbildung. Gegenkonditionierung Nicht erwünschte emotionale Reaktionen und Verhaltensweisen können abgebaut bzw. erwünschte aufgebaut werden, indem Personen, Objekte oder Situationen, die diese unangenehme bzw. nicht erwünschte Reaktion auslösen, mit einem Reiz verbunden werden, der eine Reaktion auslöst, die mit der unange1 nehmen bzw. unerwünschten emotionalen Verhaltensweise unvereinbar ist. Zahnarztpraxis Dr. Kiefer „Ich will meinem Sohn einfach die Angst vorm Bohrer nehmen!“ Dieses Experiment wurde 1920 von den beiden Psychologen John B. Watson und Rosalie Rayner durchgeführt. 15 Kapitel 6 Peter, ein dreijähriger Junge, hatte Angst vor pelzartigen Gegenständen wie zum Beispiel einem Kaninchen. Um ihm diese Angst zu nehmen, wurde er in einen hohen Stuhl gesetzt und bekam Süßigkeiten, über die er sich sehr freute. Gleichzeitig wurde ihm ein Kaninchen gezeigt. Hatte Peter anfangs noch Angst, wenn das Kaninchen im Raum war, so konnte er dieses am Schluss auf den Schoß und sogar in die Hände nehmen. 20 25 30 35 40 55 60 65 Die Psychologie bezeichnet diese Vorgehensweise als Gegenkonditionierung. Von einer solchen spricht man, indem man mehrmals zeitlich und räumlich gleichzeitig den Reiz, der eine unerwünschte Reaktion zur Folge hat, mit einem Reiz koppelt, dessen Wirkung mit dieser nicht erwünschten Reaktion unvereinbar ist. Desensibilisierung Um die erwünschte Reaktion zu erhalten, hat es sich als sinnvoll erwiesen, den Reiz, der die unerwünschte Reaktion zur Folge hat, schrittweise an den neuen Reiz anzunähern, der eine Reaktion erzeugt, die mit diesen unerwünschten Emotionen unvereinbar ist. So wird Peter immer dann, wenn er Süßigkeiten erhält, ein Kaninchen schrittweise nähergebracht: Befindet sich das Kaninchen anfangs noch am anderen Raumende, so wird es ihm bei Erhalt von Süßigkeiten allmählich immer nähergebracht, bis er dieses am Schluss auf den Schoß und sogar in die Hände nehmen kann. 45 50 Eine solche Therapie kann sowohl in der Realität als auch mithilfe von Medien in einer sogenannten virtuellen Realität durchgeführt werden. Eine Spinnenphobie1 kann beispielsweise geheilt werden, indem man dem Klienten in einer Reihe von Sitzungen zunehmend besser erkennbare Bilder von Spinnen zeigt, die zunächst weiter weg und sehr klein, dann aber immer näher und größer abgebildet sind. 29 Diese Vorgehensweise wird als systematische Desensibilisierung bezeichnet und bedeutet die schrittweise Annäherung eines Reizes, der das nicht erwünschte Verhalten bzw. Erleben zur Folge hat, an den Reiz, dessen Reaktion mit dem unerwünschten Verhalten bzw. Erleben unvereinbar ist. Gegenkonditionierung und systematische Desensibilisierung bedingen sich gegenseitig und werden in der Therapie grundsätzlich miteinander angewandt. 1 2 Spinnenphobie: Angst vor Spinnen Klient (lat.: cliens): der Hilfesuchende „Lassen Sie uns allein! Ich bin Verhaltenstherapeut und helfe meinem Patienten, seine Höhenangst zu überwinden!“ Reizüberflutung Eine in letzter Zeit sehr häufig benutzte Vorgehensweise zum Abbau unerwünschter emotionaler Reaktionen ist die Reizüberflutung. Hierbei geht der Therapeut im Vergleich zum systematischen Desensibilisieren den umgekehrten Weg. Man konfrontiert den Klienten2 gleich zu Beginn der Behandlung mit stark Angst auslösenden Reizen und lässt ihn dabei die Erfahrung machen, dass seine Befürchtungen unbegründet sind und nicht eintreten. Die Behandlung kann mithilfe einer gedanklichen Konfrontation mit den jeweiligen Angstreizen erfolgen oder indem der Klient diesen in der Realität gegenübertritt. Ein Mann, der Angst hat, über Brücken zu gehen, weil er befürchtet, diese würden einstürzen, muss sich immer wieder unter therapeutischer Anleitung lange auf Brücken aufhalten, bis sich die Erfahrung ihrer Ungefährlichkeit fest in ihm verankert und er die Angst vor ihnen verloren hat. 70 75 80 85 90 30 Kapitel 6 95 100 Verhaltensformung Bei komplexen Verhaltensweisen ist es für ein Kind unmöglich, diese schon beim ersten Versuch perfekt auszuführen. Deshalb sollte man jedes Verhalten, das auch nur annähernd in die gewünschte Richtung geht, positiv verstärken. Eine solche Verstärkung kleiner Teilschritte bezeichnet man als Verhaltensformung bzw. shaping und bedeutet den schrittweisen Aufbau eines Verhaltens, indem man bereits kleine Schritte in Richtung des erwünschten Endverhaltens systematisch verstärkt. Verhaltensformung lässt sich folgendermaßen durchführen: 105 − Nach der Formulierung des gewünschten (End-)Verhaltens wird jedes Verhalten, das dem gewünschten Endverhalten irgendwie ähnelt, sofort und regelmäßig verstärkt. Soll das Kind als Endverhalten das Schuhebinden beherrschen, dann wird es bereits verstärkt, wenn es mit jeder Hand ein Schuhband halten kann. 110 115 − Wird allmählich das erwünschte Verhalten verstärkt gezeigt, das innerhalb der gewünschten Verhaltenssequenz einen Schritt bedeutet, so wir es sofort verstärkt. Kann das Kind die Schuhbänder zu einer Schleife übereinanderlegen, erfolgt eine erneute Verstärkung. 120 − Nun werden die Verhaltensweisen verstärkt, die der letztlich erwünschten nahezu entsprechen, bis schließlich das Endverhalten gezeigt wird. Das Kind kann die Schleife allein binden. − Dabei werden die Teilschritte und letztlich das Endverhalten so lange regelmäßig – also immer – verstärkt (kontinuierliche Verstärkung1), bis das jeweils gewünschte Verhalten gezeigt wird. Anschließend wird zu seiner Festigung zu einer gelegentlichen Verstärkung übergegangen (intermittierende Verstärkung1), bis sie schließlich ganz überflüssig wird und das Verhalten aufgrund von Gewöhnung gezeigt wird. Das Kind beherrscht schließlich irgendwann, unterstützt von den jeweiligen Verstärkungen, das Schuhebinden. Ab diesem Zeitpunkt wird es nur noch nach jedem zweiten, dritten oder vierten Mal für seine Leistung verstärkt. Nach und nach wird das Schuhebinden für das Kind keine besondere Handlung mehr, sondern Routine geworden sein. Nun verzichtet der Erzieher ganz auf die Verstärkung. − Die Teilschritte und das erwünschte Endverhalten werden durch Übung und Wiederholung gefestigt.2 Kinder können die einzelnen Teilschritte, die sie für das Schuhebinden benötigen, trainieren, indem sie zum Beispiel die 24 Säckchen bei einem Adventskalender zuschnüren, nachdem sie in jedes der Säckchen eine kleine Aufmerksamkeit gegeben haben. Manche Kindergärten verfügen über sogenannte Schnürrahmen, mit denen sich das Binden einer Schleife ebenfalls üben und wiederholen lässt. 125 130 135 140 145 150 155 3. Schöne neue Welt 5 Päppler blieb im Entkorkungszimmer zurück, als der BUND und die Studenten mit dem nächstgelegenen Aufzug ins fünfte Stockwerk fuhren. KLEINKINDERBEWAHRANSTALT. NEO-PAWLOWSCHE NORMUNGSSÄLE, verkündete ein Schild an der Tür. Der Direktor öffnete. Sie betraten einen großen kahlen 1 2 vgl. Abschnitt 6.2.5 vgl. Frequenzgesetz in Abschnitt 6.2.1 Raum, sehr hell und sonnig; die ganze Südwand war ein einziges Fenster. Sechs Pflegerinnen (…) waren soeben dabei, Schalen voller Rosen in langer Reihe auf den Boden zu stellen (…). Die Pflegerinnen standen stramm, als der BUND eintrat. 10 Kapitel 6 15 20 25 30 35 40 45 50 „Stellen Sie die Bücher auf!“, befahl er kurz. Schweigend gehorchten sie. Zwischen die Rosenschalen wurden Bücher gestellt, eine Reihe Kinderbücher (…). „Nun bringen Sie die Kinder!“ Die Pflegerinnen eilten hinaus und kehrten nach ein paar Minuten zurück; jede schob so etwas wie einen hohen stummen Diener vor sich her, dessen vier drahtvergitterte Fächer mit acht Monate alten Kindern beladen waren (…). „Setzen Sie sie auf den Boden!“ Die Kinder wurden abgeladen. „Nun wenden Sie sie so, dass sie die Blumen und Bücher sehn können!“ Kaum war das geschehen, als die Kinder verstummten und auf die seidig schimmernden Farbklumpen, die bunt leuchtenden Bilder auf den weißen Buchseiten loszukrabbeln begannen. (…) Aus den Reihen der krabbelnden Kinder ertönten kleine aufgeregte Schreie, freudiges Lallen und Zwitschern. (…) Der Direktor wartete, bis alle seelenvergnügt beschäftigt waren. „Und nun passen Sie auf!“, sagte er und gab mit erhobener Hand ein Zeichen. Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des Saals vor einem Schaltbrett stand, drückte einen kleinen Hebel nieder. Ein heftiger Knall. Gellendes und immer gellenderes Sirenengeheul. Rasendes Schrillen von Alarmklingeln. Die Kinder erschraken und schrien auf, die Gesichtchen von Entsetzen verzerrt. „Und jetzt“, brüllte der Direktor, denn der Lärm war ohrenbetäubend, „werden wir die Lektion mittels eines elektrischen Schlägelchens einbläuen.“ Er winkte abermals, die Oberpflegerin drückte einen zweiten Hebel nieder. Das Plärren der Kinder hörte sich plötzlich anders an. Verzweiflung, fast Wahnsinn klang aus diesen durchdringenden Schreikrämpfen. Ihre Körperchen wanden und steiften sich, ihre Glieder zuckten wie von unsichtbaren Drähten gezogen. „Wir können durch diesen ganzen Streifen des Fußbodens elektrischen Strom schicken“, brüllte der Direktor erklärend. „Aber jetzt genug!“, bedeutete er der Pflegerin. Die Detonationen hörten auf, die Klingeln verstummten, das Sirenengeheul erstarb Ton für Ton. Die zuckenden Kinderleiber lösten sich aus ihrem Krampf, das irre Stöhnen und Schreien ebbte zu einem gewöhnlichen Angstgeplärr ab. „Geben Sie ihnen nochmals die Blumen und Bücher!“ Die Pflegerinnen gehorchten, aber bei der leisesten Annäherung der Rosen, beim bloßen Anblick der bunten Miezekatzen, Hottehüpferdchen und Bählämmer wichen die Kinder schaudernd zurück; ihr Geplärr schwoll sogleich wieder zu Entsetzensgeschrei an. „Beachten Sie das, meine Herren“, sagte der Direktor triumphierend, „beachten Sie das wohl!“ Bücher und Getöse, Blumen und elektrische Schläge – schon im kindlichen Geist waren diese Begriffspaare nun zwanghaft verknüpft, und nach zweihundert Wiederholungen dieser oder ähnlicher Lektionen waren sie untrennbar. Was der Mensch zusammenfügt, das kann Natur nicht scheiden. „So wachsen sie mit einem, wie die Psychologen zu sagen pflegten, ‚instinktiven‘ Hass gegen Bücher und Blumen auf. Wir normen ihnen unausrottbare Reflexe an. Ihr ganzes Leben lang sind sie gegen Druckerschwärze und Wiesengrün gefeit.“ Der Direktor wandte sich an die Pflegerin. „Schaffen Sie sie hinaus!“ 31 55 60 65 70 75 80 85 90 Quelle: Huxley, 200966, S. 35 ff., gekürzt 4. Kritische Würdigung der Konditionierungstheorien Die Forschungsansätze des klassischen und operanten Konditionierens werden dem Behaviorismus1, einer von mehreren psychologischen Schulen, zugerechnet. Dieser hat 1 die Psychologie insgesamt und vor allem den Bereich des Lernens nachhaltig beeinflusst. Die Konditionierungstheorien können ein großes Spektrum von Verhaltensweisen er- behavior (engl.): das Verhalten; Anhänger des Behaviorismus erforschen ausschließlich das Verhalten. 5 32 Kapitel 6 10 klären und besitzen eine große Bedeutung für die Erziehung, die Beratung und die Therapie. Das Menschenbild des Behaviorismus 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Der Mensch erscheint nach „reiner“ behavioristischer Auffassung als ein Wesen, das nahezu ausschließlich von Umweltreizen beherrscht wird. Einerseits „wartet“ der Mensch, bis er mit Reizen konfrontiert wird, auf die er dann entsprechend reagiert; andererseits richtet er sein Verhalten nach Belohnungen und Bestrafungen, die aus der Umwelt kommen. Aus dieser Sichtweise ist der Mensch von Natur aus ein „faules Wesen“, das erst durch bestimmte Anreize aktiviert wird (vgl. Mietzel, 20016, S. 323). Dementsprechend findet eine einseitige Betonung der Bedeutung von Umweltfaktoren für die Entwicklung statt. Damit berücksichtigt der Behaviorismus nicht die Möglichkeit, dass der Mensch eine aktive Selbststeuerung besitzt, die ihn aus der passiven Haltung der Umwelt gegenüber herausführt in den Bereich der aktiven Auseinandersetzung mit ihr. Die Behavioristen haben eine eher mechanistische Vorstellung vom menschlichen Verhalten, welches grundsätzlich mit dem „ReizReaktions-Schema“ erklärt werden kann: Der Mensch „funktioniert“ reaktiv, durch Reize ausgelöst oder auf Verstärkung hin fixiert, ohne sich selbst einbringen zu können. Sinn, Wille und Motiv als Handlungsgründe des Menschen werden geleugnet. Skinner ging deshalb auch davon aus, dass Menschen keinen freien Willen besitzen und dieser nur Illusion sei. Dieses Menschenbild brachte der Verhaltenstherapie oft die Kritik ein, sie gleiche einer „Dressur“, in der der Mensch wie ein Tier mit Lob und Strafe konditioniert werde. „Die Ratschläge an den Erzieher, die man aus dem von der ‚Lerntheorie‘ entworfenen Bild des Menschen ableiten kann, laufen unmittelbar und zwingend auf eine Ehrenrettung des alt überlieferten Grundsatzes von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ hinaus. Dass man neuerdings aufgrund von schlechten Erfahrungen (auch an Tieren) das Zuckerbrot der Peit- sche vorzieht (...), versüßt (...) zwar das Leben, aber es ändert nichts daran, dass nach diesem Grundsatz manipuliert (...) wird.“ (Metzger, 19763, S. 21) Es muss jedoch erwähnt werden, dass sich die Konditionierungstheorien weiterentwickelt haben und dem Menschen auch kognitive Prozesse zugebilligt werden. In jüngster Zeit gehen auch die Lerntheoretiker davon aus, dass Menschen einen kognitiven Zusammenhang zwischen Reizgegebenheiten und dem eigenen Verhalten bilden (vgl. Reinecker, 20053, S. 91). Nahezu jegliches Verhalten ist nach behavioristischer Ansicht erlernt und kann wieder verlernt werden. Burrhus F. Skinner beschreibt in seinem Buch „Jenseits von Freiheit und Würde“ (1982, S. 220) seine Vision einer Gesellschaft, in der die Umweltbedingungen so manipuliert sind, dass sie das menschliche Verhalten formen. Damit verbunden ist eine optimistische Grundhaltung im Sinne einer weitgehenden Machbarkeit menschlichen Lebens. Entsprechend sind die Behavioristen der Auffassung, dass Umwelt und Erziehung alles vermag. „Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.“ (Watson, 1997, S. 123) Der Erklärungswert der Konditionierungstheorien Die Konditionierungstheorien haben einen großen Erklärungswert. Viele menschliche Verhaltensweisen und Emotionen sind das Ergebnis von Konditionierungen. Emotionale Reaktionen wie etwa Angst oder Furcht werden auf der Grundlage des Konditionierens erlernt. Auch die Werbung bedient sich seiner, wenn sie ein Produkt mit positiven und 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Kapitel 6 105 110 115 120 125 130 begehrenswerten Gefühlen koppelt, um einen Kaufanreiz zu schaffen. Die Bedeutung von Lob und Belohnung, Anerkennung und Erfolg wird von keiner Seite infrage gestellt. Insofern sind die Konditionierungstheorien imstande, eine große Vielfalt von Erlebens- und Verhaltensweisen erklären zu können. Der Erklärungswert des klassischen Konditionierens bleibt jedoch auf solche Lernprozesse begrenzt, bei denen das Verhalten unter der Kontrolle eines vorausgehenden Reizes steht. Alle Lernprozesse, bei denen eine auf das Verhalten folgende Konsequenz die entscheidende Rolle spielt, können nicht mithilfe des klassischen Konditionierens erklärt werden. Der Erklärungswert des operanten Konditionierens zeigt sich bei jenen Lernprozessen, bei denen die Verhaltenskonsequenzen von entscheidender Bedeutung sind. Die Konditionierungstheorien können also nur Lernprozesse aufgrund erfahrener Reize bzw. Verstärkungen erklären. Die Tatsache, dass Menschen durch Beobachtung anderer oder durch Einsicht lernen, findet im „reinen“ Behaviorismus keine Berücksichtigung. Annahmen über Gefühle, Motive oder Gedanken, die Verhalten beeinflussen, sind nicht unmittelbar beobachtbar und daher vom behavioristischen Forschungsinteresse ausgeschlossen. Diese Beschränkung auf beobachtbares Verhalten blendet jedoch Gedanken, Gefühle und Motive menschlichen Handelns völlig aus. Innere Vorgänge, wie etwa Gedanken und Gefühle bleiben „im Dunkeln“ verborgen, wie in einer schwarzen Schachtel. Wie jedoch schon erwähnt, haben sich die Konditionierungstheorien weiterentwickelt und heute werden dem Menschen auch kognitive Prozesse zugebilligt. Eine weitere Schwäche des Behaviorismus liegt in der Vorgehensweise, die aus Tierexperimenten gewonnenen Forschungsergebnisse bedenkenlos auf das menschliche Verhalten zu übertragen. Wie jedoch anthropologische Befunde deutlich hervorheben, bestehen grundlegendste Unterschiede zwischen Mensch und Tier, die eine „Gleichsetzung“ von menschlichem und tierischem Verhalten nicht zulassen. Konsequent werden aus diesem Grund auch in der behavioristischen Schule kognitive Vorgängen wie etwa das Erkennen, Begreifen, Urteilen und Denken schwer vernachlässigt. Ein Tatbestand, der der Spezies Mensch auf keinen Fall gerecht wird. Quelle: Hobmair, Band 1, 20113, S. 158 ff., verändert 33 135 140 145 150 155 34 Kapitel 7 Materialien Kapitel 7 1. Banduras Menschenbild und seine Abgrenzung zum Behaviorismus 5 10 15 20 25 30 35 In der Zeit des radikalen Behaviorismus wurden die lerntheoretisch orientierten Ansätze mit einem ganz bestimmten „Image“ assoziiert, das ihnen in der Vorstellung vieler Menschen auch heute noch anhaftet. Wenn Lerntheoretiker die Einflüsse der Umweltgegebenheiten auf das Verhalten von (meist tierischen) Organismen studierten, begriffen sie die Umweltgegebenheiten a priori1 als „unabhängige“, dem jeweiligen Organismus unausweichlich vorgegebene Einflussfaktoren, die in ganz einseitiger Weise das Verhalten zu „konditionieren“ vermochten. Das klassische Forschungsparadigma2 war die Skinner-Box. Hier demonstrierten die Experimentatoren, dass sie das Verhalten ihrer Versuchstiere (meist Ratten oder Tauben) durch gezielte Manipulationen von Hinweisreizen und Reaktionskonsequenzen unter nahezu totale Kontrolle von außen bringen konnten. Es entstand die Vision vom Organismus als einer „Lernmarionette“. Da innerpsychische Vorgänge ebenso wie Prozesse der wechselseitigen Einflussnahme zwischen Individuen und ihrer Umwelt zunächst nahezu völlig ausgeklammert blieben, gerieten die Lerntheoretiker zunehmend in das Zwielicht eines absoluten Umweltdeterminismus. Zu diesem Image trugen vor allem Watson und Skinner durch entsprechende Manifeste und zahlreiche Buchveröffentlichungen auch selbst aktiv bei. Inzwischen ist die Forschung längst differenzierter geworden. Albert Bandura gehört zu den führenden Köpfen einer neuen Forschungsrichtung, die sich in drei wesentlichen Punkten vom herkömmlichen behavioristischen Ansatz unterscheidet: 1 2 3 1. Lernen wird an Menschen untersucht und als aktiver, kognitiv gesteuerter Verarbeitungsprozess gemachter Erfahrungen verstanden. Die hierbei wirksamen kognitiven Operationen stellen in allen ihren Einzelheiten den Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Forschungsarbeit dar. Ein besonderes Schwergewicht liegt auf der Fähigkeit der Menschen zum symbolischen Lernen und zum „stellvertretenden“ Lernen aus dem Miterleben der Erfahrungen anderer. 2. Das aktuelle Verhalten von Menschen wird nicht mehr als automatisches konditioniertes Reagieren auf determinierende Kontingenzen3 seitens der äußeren Umwelt verstanden. Das Handeln der Menschen wird vielmehr als aktiver Prozess begriffen, bei dem Motivationen, emotionale Empfindungen und komplexe Denkprozesse eine entscheidende Rolle spielen. 3. Da die Menschen nicht mehr als rein passiv formbare Marionetten äußerer Umwelteinflüsse beschrieben werden, ergibt sich ein optimistischeres Menschenbild. Bandura analysiert gewissermaßen stärker aus der Perspektive des handelnden Menschen selbst als aus der Perspektive des manipulierenden Experimentators. Dem Menschen wird vom Psychologen Albert Bandura nicht mehr die Rolle eines reinen Forschungsobjekts zugewiesen, das man nach Belieben durch Einsatz gezielter Techniken manipulieren kann, ohne sich vorher mit ihm selbst beraten zu haben. Quelle: Bandura, 1991, S. 7 f. a priori: von vornherein, ohne Erfahrungsgrundlage Forschungsparadigma heißt Forschungsbeispiel. „Determinierende Kontingenzen“ bedeutet in diesem Zusammenhang „einflussreiche Beziehungen zwischen Verhalten und den nachfolgenden Konsequenzen“. 40 45 50 55 60 65 70 Kapitel 7 35 2. Rocky: ein klassisches Experiment 5 10 15 20 25 30 35 An den Einzelversuchen nahmen je 33 Jungen und Mädchen im Alter von dreieinhalb bis sechs Jahren teil, die alle den gleichen Kindergarten besuchten. Zu Beginn des Experiments wurden die Kinder nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen mit je elf Jungen und Mädchen eingeteilt. Ein weiblicher Versuchsleiter führte alle Experimente durch. − In der ersten Phase, der Lernphase (Beobachtungsphase), sah jedes Kind einen speziell für diesen Zweck gedrehten Film, der mithilfe technischer Tricks über den Fernsehschirm ablief. Alle Kinder sahen den gleichen Film; lediglich der Ausgang des Films war für jede der drei Gruppen verschieden. Der Film enthielt vier physische und vier verbale Aggressionsäußerungen, also acht Aggressionen; diese wurden im Film zweimal wiederholt. (1 + 2) „Rocky“, die Modellperson, ging auf eine lebensgroße aufgeblasene Plastikpuppe zu, setzte sich darauf und boxte sie mehrmals auf die Nase. Die begleitende verbale Aggression dazu war: „Puh, direkt auf die Nase, bum-bum.“ (3 + 4) Rocky stellte die Puppe senkrecht auf und schlug mit einem großen Holzhammer auf ihren Kopf ein. Dazu die Worte: „Verdammt … bleib stehen.“ (5 + 6) Mit gut gezielten Fußtritten beförderte er die Puppe quer durch den Raum. Sein Kommentar dazu, in aggressivem Tonfall: „Flieg weg.“ (7 + 8) Schließlich warf Rocky Gummibälle nach der Puppe und rief lauthals bei jedem Wurf „päng“. Der Film fand, je nach experimenteller Gruppe, ein anderes Ende. • Die elf Kinder der ersten Gruppe sahen, dass Rockys Aggressionen belohnt wurden, d. h., ein Erwachsener überschüttete ihn mit Süßigkeiten und lobenden Worten („großer Held“, „starker Champion“ usw.). • Bei der zweiten Gruppe wurde Rocky bestraft: Der Erwachsene schlug ihn mit einer aufgerollten Zeitung, bezeichnete ihn als „brutalen Kerl“. • Bei der dritten Gruppe blieben Rockys Aggressionen ohne jegliche Konsequenz: Er wurde weder bewundert und gelobt noch bestraft. − In der zweiten Phase (spontane Imitationsphase) wurden die Kinder einzeln in ein Spielzimmer gebracht, in dem sich neben neutralem Spielzeug (Plastiktiere, Puppenstube usw.) auch die Gegenstände befanden, die vorher im Film zu sehen gewesen waren (lebensgroße aufblasbare Plastikpuppe, drei Gummibälle, Holzhammer). Jedem Kind wurde ausdrücklich erklärt, dass es mit allen Gegenständen spielen dürfe. Daraufhin verließ der Versuchsleiter den Raum und ließ das Kind zehn Minuten lang durch eine Einwegscheibe von einer Person beobachten, die nicht wusste, zu welcher experimentellen Gruppe das Kind gehörte. Ergebnisse kein Ansporn Mittelwert der Ausführung verschiedener Nachahmungsreaktionen positiver Ansporn 4 3 2 1 0 Jungen Mädchen belohntes Modell Jungen Mädchen bestraftes Modell Jungen Mädchen ohne Konsequenzen 40 45 50 55 60 65 70 36 Kapitel 7 75 80 − In der dritten Phase (Verstärkungsphase) forderte der Versuchsleiter das Kind ausdrücklich auf, Rockys Aggressionsverhalten zu imitieren; außerdem wurde ein motivierender Anreiz gesetzt, d. h., für jede imitative Reaktion erhielt das Kind ein hübsches Abziehbild usw. Die Befunde (= durchschnittliche Anzahl der imitierten aggressiven Verhaltensweisen) zeigen deutlich, dass in der spontanen Imitationsphase (Phase 2) weniger Aggressionen aufgetre- ten sind als in der Verstärkungsphase (Phase 3), obwohl die Kinder keine Gelegenheit gehabt hatten, den Film zwischen diesen beiden Phasen noch einmal zu sehen. Dieser Unterschied wird bei den Mädchen der zweiten Experimentalgruppe (Modellperson wird bestraft) besonders deutlich. 85 Quelle: Bredenkamp u. a., 1976, S. 9 3. Kognitive Strategien zur Entlastung des Gewissens im Rahmen der Selbstregulierung 5 10 15 20 25 30 Selbstabschreckende Konsequenzen werden im Allgemeinen dann am stärksten aktiviert, wenn die ursächliche Verbindung zwischen tadelswertem Verhalten und seinen schädlichen Auswirkungen eindeutig zutage tritt. Es gibt jedoch verschiedene Wege, wie sich kritikwürdiges Verhalten gelegentlich gegen selbstbewertende Konsequenzen abschirmen lässt. Zuallererst kann durch kognitive Umstrukturierung schuldhaften Verhaltens der Anschein der Rechtschaffenheit verliehen werden. Eine Möglichkeit, tadelnswertes Verhalten zu einem persönlich und sozial akzeptablen Verhalten umzudefinieren, besteht darin, es so darzustellen, als diene es moralischen Zwecken. Im Laufe der Zeit haben ehrenhafte, moralische Menschen namenlose Grausamkeiten im Zeichen religiöser Grundsätze, hochmoralischer Ideologien und der sozialen Ordnung verübt. Handlungen, die die Person selbst gutheißt, lassen sich auch dadurch rechtfertigen, dass man sie mit schlimmeren Vergehen gegen die Menschlichkeit vergleicht. Je übertriebener die Vergleichspraxis, umso geringfügiger werden die eigenen tadelnswerten Handlungen erscheinen. Auch euphemistische1 Ausdrucksweisen sind sehr geeignet, tadelnswerte Tätigkeiten zu maskieren oder ihnen sogar einen achtbaren Status zu verschaffen. Durch rabulistische2 Gedankenführung lässt sich aus bösartigem Verhalten wohlmeinendes machen. Wer zu die1 2 „Euphemistisch“ heißt „beschönigend“. „Rabulistisch“ heißt „haarspalterisch“. sem Mittel greift, braucht sich nicht als Urheber der Tat zu fühlen. Moralische Rechtfertigungen und beschönigende Darstellungen sind besonders wirksame Enthemmungsfaktoren, weil sie nicht nur selbstgeschaffene Abschreckungsmittel aus dem Wege räumen, sondern die Selbstbelohnung in den Dienst unmenschlichen Verhaltens stellen. Was eben noch moralisch untragbar war, wird durch solche Umdefinitionen zu einer Quelle der Selbstachtung. Es gibt noch eine weitere Gruppe von Wegen, wie man sich selbst vor Selbstkritik bewahren kann. Man kann beispielsweise die Beziehung zwischen den eigenen Handlungen und den Wirkungen, die diese hervorrufen, verschleiern oder entstellen. Menschen verhalten sich auf eine Weise, die sie normalerweise ablehnen, wenn eine gesetzliche Autorität ihr Verhalten sanktioniert und die Verantwortung für die Handlungskonsequenzen übernimmt. (…) Nach Abschiebung der Verantwortung haben Menschen das Gefühl, man könne ihnen ihre Handlungen nicht persönlich zur Last legen. Auf diese Weise umgehen sie die negative Selbstzensur. Ebenso wenig Grund zur Selbstkritik liegt vor, wenn die Verbindungen zwischen einem Verhalten und seinen sozialen Konsequenzen dadurch verschleiert werden, dass die Verantwortung für das schuldhafte Verhalten vernebelt wird. Durch Arbeitsteilung, Zersplitterung der Verantwortung und 35 40 45 50 55 60 65 Kapitel 7 70 75 80 kollektives Handeln können Menschen sich schädlich verhalten, ohne dass irgendjemand sich persönlich verantwortlich fühlen muss. Deshalb handeln sie unbedenklicher, wenn die Verantwortung durch kollektive Zweckdienlichkeit verschleiert wird. (…) Verhaltenshemmende Selbstbestrafungsreaktionen lassen sich ferner dadurch schwächen, dass man sich ein falsches Bild von den Konsequenzen seines Handelns macht. Wenn sich Menschen um des persönlichen Nutzens willen oder aus anderen Gründen für Handlungsweisen entscheiden, die sie missbilligen, neigen sie dazu, den Schaden zu verharmlosen, den sie verursachen. Solange sie sich um die schädlichen Auswirkungen ihres Verhaltens nicht kümmern, werden selbstkritische Reaktionen kaum aktiviert werden. Die Stärke von Selbstbewertungsreaktionen hängt zum Teil davon ab, welches Bild sich die Handelnden von den Menschen machen, auf die sich ihr Handeln richtet. Die Misshandlung von Menschen, die gar nicht als Menschen angesehen oder die abgewertet werden, wird weniger Selbstmissbilligung wachrufen, als wenn den Opfern Menschenwürde zugebilligt wird. Werden Menschen als minderwertige Geschöpfe wahrgenommen, werden sie für gefühllos gehalten: Sie brauchen eine grobe Behandlung, damit sie überhaupt reagieren. Die Entmenschlichung der Opfer dient also dazu, die Selbstbestrafung für grausames Handeln zu vermindern (…). 37 85 90 95 Quelle: Bandura, 1991, S. 159 f., gekürzt 4. Ein Modell menschlicher Informationsverarbeitung 5 10 15 Im Folgenden soll ein Grundmodell menschlicher Informationsverarbeitung entwickelt werden. In dem Modell werden drei Abschnitte unterschieden, die eng miteinander zusammenhängen, sich gegenseitig beeinflussen und nur analytisch voneinander getrennt werden können: − Aneignung − Speicherung − Abruf Die Phase der Aneignung, in der die Informationsaufnahme und -verarbeitung stattfinden, wird auch als Lernen im engeren Sinn, die Phase der Speicherung als Gedächtnis im engeren Sinn und die abgerufene Information als Leistung (Performanz) bezeichnet. Am Anfang dieser Sequenz steht die Wahrnehmung der Außenreize. Wahrnehmung ist kein passiver Prozess, vergleichbar einer foto- Input (Reiz) Informationsverarbeitung Aneignung grafischen Aufnahme. Wenn man von einer Organisation der Wahrnehmungsprozesse spricht, dann bedeutet dies besonders psychische Verarbeitung der Eindrücke aufgrund früherer Erfahrungen. Hierbei sind Wissen, Gefühle und Motive gleichermaßen bedeutsam. Wahrnehmung ist häufig bedürfnisgesteuert und selektiv. Auch wenn das Material nach dieser aktiven Bearbeitung (Enkodierung) im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, unterliegt es weiteren Veränderungen. Im Gedächtnis erfolgt nicht nur eine mentale Repräsentation von Sachwissen, es ist zudem die Voraussetzung für die Verhaltensregulation. Entwickelt und gespeichert werden auch Handlungskonzepte. Solche Handlungspläne beeinflussen ihrerseits wieder die Informationsaufnahme. Ein erfolgreicher Abruf (Dekodierung) der Gedächtnisinhalte nach einer mehr oder minder langen Zeitspanne hängt eng mit der Art der Verarbeitung bei der Aneignung (Enko- Informationsspeicherung Speicherung Output Leistung Abruf 20 25 30 35 40 38 Kapitel 7 45 dierung) zusammen. Da das Material sehr häufig nicht mehr in allen Einzelheiten erinnert werden kann, ist eine (aktive) Rekonstruktion notwendig. Lernen, Gedächtnis und Leistung nach dem Modell eines Videorekorders zu sehen, ist demnach völlig verfehlt. Ältere Theorien beschreiben das Gedächtnis als einen eher passiven Speicher und die heutigen Auffassungen sehen Gedächtnis als Teil der Informationsverarbeitung. Quelle: Edelmann, 20006, S. 164 f. 50 Kapitel 8 39 Materialien Kapitel 8 1. Verschiedene Sichtweisen zur Setzung von Erziehungszielen 5 10 15 20 25 30 35 40 Wie in Kapitel 1.3.2 ausgeführt, kann man kaum von der Pädagogik schlechthin sprechen, sondern allenfalls von dieser oder jener Auffassung, die uns als Richtungen bzw. Schulen der Pädagogik bekannt sind. Dies hat auch zu unterschiedlichen Sichtweisen im Hinblick auf die Setzung von Erziehungszielen geführt. 1. Erziehungsziele in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik1 Die geisteswissenschaftliche Pädagogik interessiert sich für die erzieherische Praxis und ist für sie verantwortlich. Sie soll die jeweils schon vorhandene Erziehungspraxis und ihre Ziele gemäß den Prinzipien und Regeln der Hermeneutik2 auslegen mit der Absicht, die pädagogisch wichtigen Phänomene und Zusammenhänge, auch die Erziehungsziele und Bildungsideale, besser zu verstehen und den Erziehungspraktikern zum Sinnverständnis und zur Orientierung ihres pädagogischen Handelns zu verhelfen. 2. Erziehungsziele in der erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) Pädagogik1 Die empirische Pädagogik ist eine rein beschreibende Erfahrungswissenschaft. Sie kann über ihren Forschungsgegenstand nur informieren, das heißt beschreibende, erklärende und vorhersagende Aussagen machen. Sie kann nur Tatsachen feststellen, die an der Wirklichkeit durch empirische Forschungsmethoden objektiv überprüfbar sind. Alle wertenden bzw. normativen Aussagen werden dagegen der Erziehungspraxis und der Erziehungsphilosophie überlassen bzw. zugewiesen. Dieser durch Wolfgang Brezinka vertretene Ansatz der Pädagogik kann folglich nur beschreibende (deskriptive), aber keine vorschreibenden (präskriptive) Aussagen treffen. Pädagogische Ziele und Normen können 1 2 siehe Kapitel 1.3.2 Hermeneutik: vgl. Kapitel 1, Materialien 3 damit weder verbindlich gesetzt noch begründet werden, sie sind jedoch kritisch überprüfbar. 3. Erziehungsziele in der emanzipatorischideologiekritischen Pädagogik1 Sowohl der geisteswissenschaftlichen als auch der empirischen Erziehungswissenschaft wurde vorgeworfen, dass sie bei der Bearbeitung pädagogischer Zielfragen von einseitig bejahenden Positionen ausgehen und ideologiekritische Fragestellungen unberücksichtigt lassen. Diese beiden Probleme werden von der sogenannten Kritischen Erziehungswissenschaft thematisiert. Die Hauptrepräsentanten der Kritischen Pädagogik sind zum Beispiel Wolfgang Klafki und Hermann Giesecke. Bei allen unterschiedlichen Auffassungen der Kritischen Erziehungswissenschaft lassen sich folgende Gemeinsamkeiten feststellen: − Sie wollen vorgegebene Lebens- und Erziehungsverhältnisse nicht bejahend überliefern, sondern vorrangig kritisch erneuern und dabei auch Erziehung zur Kritik, zum Ungehorsam und Widerstand einbeziehen. Im Vordergrund steht dabei aber nicht der Konsens, sondern vielmehr die Konfliktaustragung. − Sie stellen übereinstimmend eine enge Verschränkung von Gesellschaft (Wirtschaft) und Erziehung, von Politik (Macht) und Pädagogik fest. − Sie nehmen die besseren Alternativen zur Lebens- und Erziehungsrealität vorweg. Sie möchten die idealen (utopischen) Leitvorstellungen mündiger Menschen in einer mündigen Gesellschaft durch Demokratisierung verwirklichen. − Sie betrachten es als zentrale Aufgabe, Ideologien (im Sinne falschen Bewusstseins), vor allem bei den Andersdenkenden, zu entlarven. 45 50 55 60 65 70 75 80 40 Kapitel 8 85 − Sie plädieren für Emanzipation als oberstes Prinzip und Regulativ der Erziehungsvorgänge und -ziele. − Sie befassen sich vorrangig mit pädagogischen Zielfragen, dies aber nicht wertneu- tral, sondern durch eigenes wertendes Stellungnehmen und Parteiergreifen. vgl. Weber, 19998, S. 464–473, gekürzt und verändert 2. Erziehungsziele von Eltern heute Laut der vom Institut für Demoskopie Allensbach für das Bundesfamilienministerium durchgeführten Umfrage vertraten Eltern bis 10 44 Jahre in den Jahren 1991 und 2006 folgende Erziehungsziele: Kinder sollen vor allem im Elternhaus lernen … 1991 2006 sich durchsetzen, sich nicht so leicht unterkriegen lassen Höflichkeit und gutes Benehmen ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun hilfsbereit sein, sich für andere einsetzen Andersdenkende achten, tolerant sein gesunde Lebensweise Menschenkenntnis, sich die rechten Freunde und Freundinnen aussuchen Wissensdurst, den Wunsch, seinen Horizont ständig zu erweitern sparsam mit Geld umgehen Freude an Büchern haben, gern lesen Interesse für Politik, Verständnis für politische Zusammenhänge sich in eine Ordnung einfügen, sich anpassen technisches Verständnis, mit der modernen Technik umgehen können Interesse, Offenheit für Religion und Glaubensfragen bescheiden und zurückhaltend sein an Kunst Gefallen finden festen Glauben, feste religiöse Bindung 75 % 68 % 67 % – 62 % 61 % 60 % 55 % 44 % – 33 % 28 % 23 % – 18 % 13 % 13 % 75 % 89 % 80 % 79 % 74 % 65 % 64 % 71 % 69 % 46 % 42 % 41 % 39 % 37 % 26 % 15 % 25 % Deutlich wird, dass die Eltern sowohl Primärals auch Sekundärwerte vertraten. Für sie waren Persönlichkeitseigenschaften ebenso wichtig wie Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Im Gegensatz zu 1991 wurden 2006 stärker gutes Benehmen, Gewissen- haftigkeit, Toleranz, Wissensdurst und Sparsamkeit genannt. Letzteres verdeutlicht das Bemühen, die Kinder auf materiell schlechtere Zeiten vorzubereiten. 5 15 Quelle: Textor, 2010, S. 6 f. 3. Der Wandel von Erziehungszielen aufgezeigt an der „Frauenerziehung“ a) Aus „Rat an eine Dame von Stand wegen der Erziehung ihrer Tochter“ von Francois de la Salignac de Lamotte-Fénelon (1651–1715), Erzbischof: 5 „Sie (die Tochter) muss einen Abscheu haben vor der Lektüre verbotener Bücher und nicht einmal die Ursache des Verbotes ergründen wollen. Sie soll lernen, misstrauisch gegen sich selbst zu sein (…), sie mache sich zur Aufgabe, in aller Demut zu Gott zu beten, arm im Geiste zu werden, oft in sich selbst Einkehr zu halten, unwandelbar zu gehorchen, durch vernünftige und wohlwollende Leute selbst in ihren festesten Meinungen sich zurechtwei- 10 Kapitel 8 15 20 sen zu lassen und zu schweigen, indem sie die andern reden lässt. (…) Beschäftigen Sie Ihre Tochter mit einer weiblichen Arbeit, welche für das Haus von Nutzen ist und sie dran gewöhne, den gefährlichen Verkehr mit der Welt zu entbehren. (…) Das wackere Weib spinnt, schließt sich in seinen Haushalt ein, schweigt, glaubt und gehorcht.“ b) Aus „Émile“ von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): 25 30 35 40 45 50 55 60 Der Mann „muss aktiv und stark“, die Frau „passiv und schwach“ sein. „Aus diesem festgesetzten Prinzip folgt, dass die Frau eigens dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen (…). Da die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, muss sie sich dem Mann liebenswert zeigen (…). Darum ist es nicht nur von Bedeutung, dass die Frau treu ist, sondern dass sie vor ihrem Gatten, vor ihren Nächsten und vor jedermann auch als treu erscheint; sie muss bescheiden, aufmerksam und zurückhaltend sein (…). Bei der geistigen Unterschiedlichkeit der Geschlechter leitet sich aus diesen Prinzipien ein neues Motiv für Pflicht und Anstand ab, das besonders den Frauen die gewissenhafteste Achtsamkeit über ihr Verhalten, ihr Benehmen und ihre Haltung vorschreibt. Mit der allgemeinen Behauptung, die beiden Geschlechter seien gleich und ihre Pflichten die gleichen, verliert man sich in leeren Reden, womit man gar nichts sagt, solange man auf unsere Behauptungen nicht zu antworten vermag.“ c) Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767–1835) gibt die „polaristische Geschlechterphilosophie“ des deutschen Idealismus wieder: Die Selbsttätigkeit ist „das erste Kennzeichen der männlichen, Empfänglichkeit das der weiblichen Kraft. Beide Kräfte sind nicht ausschließlich auf die Geschlechter verteilt, sie müssen auch innerhalb eines Menschen wirken, wenn etwas Neues entstehen soll. ,Nur die verschiedene Richtung unterscheidet die männliche Kraft von der weiblichen. Die erstere beginnt vermöge ihrer Selbsttätigkeit mit der Einwirkung, nimmt aber vermöge ihrer Empfänglichkeit die Rückwirkung auf. Die letztere geht gerade den entgegengesetzten Weg. Mit ihrer Empfänglichkeit nimmt sie die Einwirkung auf und erwidert sie 41 mit Selbsttätigkeit’. Das männliche Prinzip ist Kraft, Tätigkeit (…) und sucht außerhalb seiner selbst Stoff zur Wirksamkeit. Das weibliche Prinzip ist Einheit in sich selbst, Fülle und unbestimmte Sehnsucht (…).“ 65 d) Friedrich Schlegel (1772–1829) zeigt in seinen Gedanken schon „Emanzipationsideen der Frauenbewegung“ auf: 70 „Was ist hässlicher als die überladene Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebene Männlichkeit, die in unseren Sitten, unseren Meinungen, ja auch in unserer besseren Kunst herrscht!“ – „ In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit, welche nach einer alten Sage in der Mitte einheimisch ist, und doch nur ein harmonisches Ganzes sein kann, welches keine Absonderung leidet. Nur sanfte Männlichkeit, nur selbstständige Weiblichkeit sei die rechte, wahre und schöne. Ist dem so, so muss man den Charakter des Geschlechts, welches doch nur eine angeborene natürliche Profession ist, keineswegs noch mehr übertreiben, sondern vielmehr durch starke Gegengewichte zu mildern suchen (…).“ 75 80 85 90 e) Helene Lange (1848–1930), eine der führenden Personen der Frauenbewegung, schreibt zu diesem Problem: „Aber noch eins unterscheidet die Frau unserer Tage von der der Vergangenheit“, in der „die Frau noch dem Berufsmenschen“ gegenübergestellt wurde. „Das ist anders geworden und wird in Zukunft noch weit mehr anders werden. Zum ersten Male stehen wir in größerer Menge innerhalb eines bestimmten Berufes. Das heißt, wir stehen nicht mehr nur dem Hause, sondern dem öffentlichen Leben verantwortlich gegenüber.“ 95 f) Gertrud Bäumer (1873–1954) legt in ihrer Abhandlung „Das Problem der Frauenbildung“ dar: 105 „Nun ist aber eines sicher: Durch keinerlei Spekulationen kann vorherbestimmt werden, welche zu irgendeiner Zeit ausschließlich von Männern ausgeübten Kulturtätigkeiten auch der Frau ,liegen’. Die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in der Kultur folgt sicherlich 100 110 42 115 120 125 130 135 140 Kapitel 8 nicht genau der spezifischen Beanlagung der Geschlechter. Sie gehorcht oft äußerem wirtschaftlichem und sozialem Druck. Es ist deshalb nicht gesagt, dass diese oder jene Arbeit der Frau nicht gemäß sei, weil sie während eines – vielleicht sogar sehr langen – geschichtlichen Zeitraums diese Arbeit nicht ausgeübt hat (…). Und deshalb ist jede Theorie, die im Voraus einen Teil der lebendigen Menschheit auf bestimmte Wirkensweisen festlegt, von Übel. Weil die Frauen in bestimmten gegebenen geschichtlichen Situationen durch diesen oder jenen geistigen Typus ihre Art am vollendetsten ausgesprochen haben (…), ist nicht gesagt, dass unter veränderten sozialen und geistigen Bedingungen der gleiche Typus zustande kommen und noch weniger, dass er wiederum den Gipfel, das Höchsterreichbare bedeuten muss. Die Konsequenz ist, dass auch der Frau prinzipiell die Bewegungsfreiheit, die innere Voraussetzungslosigkeit für das Suchen nach ihrer Kulturleistung zugestanden werden muss, die für den Mann selbstverständlich und nie in Frage gestellt sind.“ „Summa: Jeder Begriff der ,weiblichen Eigenart‘ ist ein höchst unsicherer Boden für pädagogische Theorien.“ g) Aus „Bildung des Mädchens im technischen Zeitalter“ von Anne Banaschewski (1960): 145 150 155 160 „1. Die heutige Gesellschaft bietet in Bezug auf die Rolle der Frau ein sehr heterogenes Bild: Niemand bezweifelt mehr, dass die Frauen in das Arbeitsleben einzugliedern sind. Jedes junge Mädchen nimmt nach der Schulzeit heute eine irgendwie geartete Berufsvorbereitung oder Arbeit auf. Zunehmend bleiben immer mehr verheiratete Frauen im Beruf. Durch ihre anthropologische Rolle besteht jedoch für die Frau eine noch nicht gemeisterte Doppelbelastung, die im Ganzen dahin wirkt, sie von den leitenden Positionen, ja, sogar von bescheidenen Führungsaufgaben im Betrieb auszuschließen. In die gleiche Richtung wirken traditionelle Vorstellungen vom Wesen der Frau und ihren Interessen. Beide Phänomene: Doppelbelastung und Ausschluss von Führungsaufgaben, sind heute drängende Probleme ,der‘ Frau, die zwar je nach Berufsgruppen verschieden gelagert sind, die aber grundsätzlich alle angehen (…). 2. In der sozialen Selbstdeutung der Frau finden wir gelegentlich noch den Glauben, dass es zu den Aufgaben der Frau gehöre, die Gesellschaft von den strukturellen Nachteilen der Zivilisation zu erlösen. Hier liegt eine Verkennung der Sachgesetze der Arbeitswelt und eine Nachwirkung des romantischen Frauenbildes vergangener Generationen vor, dem wir uns nur allzu gerne wohlig hingeben. Jedoch übernehmen wir uns mit einer solchen fantastischen Zielsetzung. Unsere moderne Daseinsapparatur ist geschlechtsneutral. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass nicht die Frau sie umformen wird, sondern sie die Frau. Wir sollten uns bemühen, stärker den Gewinn dieses Wandels – den wir ja unmittelbar erleben – auch in der Reflexion zu betonen und die notwendigen Konsequenzen für die Erziehung daraus zu ziehen.“ „Das aber heißt, dass das Mädchen in klarer Sicht auf alle Konsequenzen auf ihren spezifischen Doppelberuf (Ehefrau und Mutter auf der einen Seite, ,geschlechtsneutraler Berufsmensch‘ auf der anderen; d. Verf.) vorbereitet werden muss.“ 165 170 175 180 185 h) Aus „Emma“, Sonderband, Artikel von Ursula Ott (1991): Unter den 32 befragten Neuntklässlerinnen sind nur fünf, bei denen bei der Frage „Wie wünscht Ihr Euch Eure Zukunft?“ der Beruf nicht auf der Hitliste steht. Einige sind wild entschlossen, einen „Männerberuf“ zu ergreifen, eine will stramm „zur Bundeswehr und danach viel Geld verdienen, um die Zukunft abzusichern. Und vielleicht dann eine Familie“. Auf jeden Fall aber wollen die Mädchen „keine typische Hausfrau werden“, „nicht als Heimchen am Herd enden“, „nicht vom Ehemann abhängig sein“. Abhängig sein, so wie die Mutter vom Vater – das ist echt das Allerletzte. Eine 14-Jährige stellt klar: „Als Erstes möchte ich einen Beruf erlernen, damit ich nicht von einem Mann abhängig bin. Heiraten habe ich eigentlich nicht vor, weil ich dann zu viel von einem Mann abhängig bin.“ Und ihre Klassenkameradin erklärt auf die Frage nach der Zukunft kurz und bündig: „Zurzeit: Heirat erst ab 35. Kinder nur vielleicht. So viel verdienen, dass man unabhängig ist!“ „Auf jeden Fall will ich etwas dazu beitragen, dass wir mehr Gleichberechtigung bekommen“, verspricht eine aus der 9b. Denn: „Im Moment denke ich, dass ich erst 190 195 200 205 210 215 Kapitel 8 220 mal eine Art Karriere mache. Also nicht so früh Kinder zu bekommen. Ich möchte viel Geld verdienen und auch Einfluss in der Gesellschaft haben. Das möchte ich durch Arrangement und Stärke erreichen.“ Aber ja nicht durch die Frauenbewegung – „die hört sich albern an. Es sollten lieber super Frauen etwas vollbringen, was Männer noch nie geschafft haben.“ Allerdings, so hat auch die junge Su- perfrau schon gemerkt: „Man muss Selbstbeherrschung haben, wenn die Männer einen aus der Fassung bringen mit ihren Sprüchen, dass sie besser sind.“ Genau, zeig’s ihnen! 43 225 Quelle: a–g: Klafki u. a., 19702, S. III/35 ff.; Quelle: h: Ott, in: „Emma“, Sonderband: 20 Jahre Frauenbewegung, 1991, S. 40 f. 4. Möglichkeiten der Umsetzung der pädagogischen Mündigkeit Herstellen positiver emotionaler Beziehungen 5 10 15 20 Im Mittelpunkt der Erziehung muss die positive emotionale Beziehung stehen. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Kinder als Person angenommen und akzeptiert werden, dass ein liebevolles und warmherziges Verhältnis zwischen Erzieher und zu Erziehendem existiert. Raum der Freiheit und der eigenen Entscheidung gewähren Es ist wichtig, dass Eltern und Erzieher genügend Spielraum lassen, in dem die Kinder eigene Entscheidungen treffen können und vor allem lernen, die Folgen dieser Entscheidungen erleben und tragen zu können. Der Raum der Freiheit und der eigenen Entscheidungen muss für den zu Erziehenden von vornherein so groß wie möglich gegeben sein und entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand ständig erweitert werden. In diesem Raum der Freiheit muss das Kind selbstständig entscheiden, erforschen, experimentieren und sich bestätigen können. Grenzen setzen 25 30 35 Der Freiheitsraum des Kindes findet dort seine Grenzen, wo ein Schaden entstehen kann, wo die Freiheit der anderen beginnt und ein reibungsloses Zusammenleben nicht mehr gewährleistet ist. Gebote und Verbote sind wichtige Bestandteile jeder Erziehung. Freiräume allein reichen nicht aus, um Kinder verantwortungsvolles Verhalten zu lehren. Sie müssen auch Grenzen erleben und erfahren, damit ihnen die Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und den möglichen Folgen deutlich werden. Durch klare Regeln, sinnvolle Grenzen und konsequentes Erzieherverhal- ten vermitteln Eltern und andere Erzieher ihren Kindern zugleich stabile Werte, die ihnen im späteren Leben „Leitsystem“ für die (Nicht-)Richtigkeit ihres Verhaltens geben (Nuber, 2009, S. 22). 40 Begründung und Rechtfertigung der erzieherischen Einflussnahme Der Erzieher handelt nicht willkürlich („Weil ich es so will!“, „Weil ich es gesagt habe!“); seine Einflussnahme auf den zu Erziehenden lässt sich von der Sache, die Erziehung notwendig macht, und von den Ordnungen des Zusammenlebens her begründen. Erziehungsmaßnahmen sollten für das Kind nachvollziehbar begründet werden. Erst dadurch wird es für den zu Erziehenden möglich, aufgrund eigener Überlegung und Vernunft die Entscheidung des Erziehers nachzuvollziehen und zu verstehen. Beim Kleinkind muss die Einsicht erst hervorgebracht werden. Entscheidend ist zunächst, dass der Erzieher vor sich selbst seine Einflussnahme sachlich begründen kann, die er dann dem Kind – soweit möglich – nachvollziehbar macht. 45 50 55 60 Entfaltung des kindlichen Neugierdebedürfnisses Erziehung, die als Ziel pädagogische Mündigkeit anstreben will, nimmt jede Gelegenheit wahr, die kindliche Neugier und Wissbegierde sowie die Initiative des Frage- und Problemstellens zu erhalten und zu fördern. Das Kind soll lernen, Probleme der Welt wahrzunehmen und selbstständig bewältigen zu können. Es soll das Bedürfnis und den Mut aufbringen zum lebenslangen Weiter- und Umlernen. 65 70 44 Kapitel 8 75 80 85 Förderung des Zusammenlebens Entfaltung des schöpferischen Denkens Durch Erziehung soll das Kind die Fähigkeit erwerben, Absichten, Meinungen und Verhaltensweisen anderer zu verstehen und dieses Verstehen nach außen erkennbar zu machen; es soll die Fähigkeit erwerben, sich für andere einzusetzen, ihnen zu helfen, ihre Lage zu verbessern; es soll lernen, soziale Konflikte auf demokratischem Weg zu regeln und auszutragen. Dabei ist eine Lösung erforderlich, die für alle am Konflikt beteiligten Personen befriedigend ist. Im Besonderen ist damit die Erziehung zu Ideen und Einfällen gemeint, die zu neuen und originellen Problemlösungen führen, die für das Individuum, für die Gruppe oder für die Gesellschaft eine Bereicherung darstellen können. Diese Möglichkeiten sind „Leitlinien“, die es im jeweiligen Einzelfall und in der jeweiligen erzieherischen Situation unterschiedlich umzusetzen gilt. Quelle: Hobmair, Band 1, 20113, S. 133 90 95 Kapitel 9 Materialien Kapitel 9 1. Kurzfristige Auswirkungen der Führungsstile auf das Erleben und Verhalten Auswirkungen des autoritären Führungsstils Auswirkungen des demokratischen Führungsstils Auswirkungen des laissez-faire Führungsstils – Verhalten der Kinder wenig spontan, vorwiegend reaktiv auf die Initiativen des Leiters – Äußerungen der Gruppenmitglieder weitgehend uniform – wenig Individualität – sehr gespannte und konfliktträchtige Gesamtatmosphäre – Verhältnis zum Gruppenleiter einerseits apathisch, stark abhängige Anlehnung an den Leiter, Unterwürfigkeit und geringe Fähigkeit, eigene Gruppenaktionen einzuleiten – andererseits aggressives und oppositionelles Verhalten gegenüber dem Gruppenleiter, gelegentlich auch Rebellion – Zusammenhalt der Gruppenmitglieder gering, Überwiegen von gereizten, unfreundlichen und feindseligen Kontakten – häufig Dominanz und Aggression der Kinder untereinander – stark egozentrisches Sprachverhalten, zum Beispiel häufiger Gebrauch von Wörtern wie „ich“, „mein“, „mir“ und „mich“ – gelegentlich „SündenbockMechanismus“: Ein Kind wird in die Rolle des „Prügelknaben“ gedrängt, der die Funktion eines „Blitzableiters“ für jene Aggressionen ausübt, die sich infolge der gehäuften Frustrationen angestaut haben. – Feindseligkeiten entladen sich auch gegen fremde Gruppen. – hohe Quantität beim Leistungsverhalten, jedoch geringe Qualität des Geschaffenen – häufige Ermahnung der Kinder bei der Durchführung des Vorhabens zu Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit – beim Zuspätkommen des Leiters kein Beginn mit der Arbeit – wenn Leiter den Raum vorübergehend verlässt, sofortiges Sinken der Arbeitsaktivität, die nach seiner Rückkehr gleich wieder ansteigt – Verhalten der Kinder spontan, Ergreifen von eigener Initiative – Verhaltensweisen vielfältig, individuell, produktiv und konstruktiv – Atmosphäre ausgeglichen und zufrieden – Verhältnis zum Leiter positiv und frei, mehr partnerschaftlich und deshalb weniger unterwürfig und nicht aggressiv – im gruppeninternen Verhalten enger stabiler Zusammenhalt und ein Überwiegen freundlicher und hilfsbereiter Kontakte – vermehrte gegenseitige Anerkennung und konstruktive Anregung – im Sprachverhalten Bevorzugung von Äußerungen wie „wir“, „uns“ und „unser“ – keine gefährlichen Formen von Gruppenspannungen – Produktionsmenge geringer als beim autokratischen Führungsstil, jedoch hohe Qualität der Leistungen – beim Zuspätkommen des Gruppenleiters trotzdem Aufnahme der Arbeit – wenn Leiter den Raum vorübergehend verlässt, keine wesentlichen Veränderungen in der Arbeitsintensität und -leistung – gemeinsame Bewältigung von Schwierigkeiten – kein Versuch, ein einzelnes Kind für Fehler verantwortlich zu machen – Kinder unzufrieden mit der Situation und enttäuscht darüber, dass nichts Rechtes zustande kommen will – häufige Vorschläge zu gemeinsamen Gruppenaktivitäten, aber selten deren Realisierung – Unzufriedenheit mit dem Gruppenleiter, Beklagen der zu großen Freiheit – im internen Gruppenverhalten starke Gereiztheit, die sich immer wieder aggressiv entlädt – kein enger Zusammenhalt der Gruppenmitglieder – geringe Quantität und Qualität bei Leistungen – Entartung des planlosen und unproduktiven Verhaltens zu grobem Unfug – wenn der Leiter den Raum verlässt oder zu spät kommt, wird die Gruppe meist von einem Gruppenmitglied geleitet; dabei Ansteigen der Arbeitsaktivität beobachtbar – Veränderungen in der Arbeitsintensität und -leistung – gemeinsame Bewältigung von Schwierigkeiten – kein Versuch, ein einzelnes Kind für Fehler verantwortlich zu machen (vgl. Weber, 19868, S. 236–240) 45 46 Kapitel 9 2. Längerfristige Auswirkungen des Erzieherverhaltens 5 10 Wenn man Auswirkungen von Erzieherverhaltensweisen auf den zu Erziehenden betrachten will, so muss man zwischen kurz- und längerfristigen Auswirkungen unterscheiden. Mit kurzfristigen Auswirkungen sind solche gemeint, die direkt und unmittelbar als Folge erzieherischer Einwirkung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beobachten sind. Bei den von Kurt Lewin u. a. beobachteten Auswirkungen handelt es sich um solche kurzfristigen Auswirkungen. Längerfristige Auswirkungen sagen etwas über den Einfluss des Erzieherverhaltens auf die Entstehung von Persönlichkeitseigenschaften aus (zum Beispiel auf die Entstehung von Einstellungen). Die meisten Forscher, die sich mit Auswirkungen des Erzieherverhaltens befassten, konnten die Frage nach längerfristigen Auswirkungen nicht beantworten. Längerfristige Auswirkungen sind nicht direkt beobachtbar und können deshalb kaum nachgewiesen werden. Bei längerfristigen Auswirkungen kann es sich lediglich um Wahrscheinlichkeitsaussagen handeln, nicht aber – wie bei den kurzfristigen Auswirkungen – um eindeutig beobachtbare und überprüfbare Aussagen. 15 20 25 längerfristige Auswirkungen des autoritären Erziehungsverhaltens demokratischen Erziehungsverhaltens Kognition – verzerrte Wahrnehmung, der Umwelt wenig angepasst – Deutung der Reize nach einer „privaten Logik“ – einfacher Sprachstil und Grammatik, nicht sprachliche Ausdrucksweise – starres Denken – differenzierte Wahrnehmung der Umwelt – Bereitschaft zur Einstellungsänderung – anspruchsvoller und komplexer Sprachstil – flexibles und selbstständiges Denken emotional-motivationaler Bereich – Angst und Unsicherheit – Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen wenig entwickelt – Misstrauen als Lebensgrundlage – Leistung wird als „Muss“ empfunden – nicht von der Sache her motiviert – Selbstsicherheit und Selbstvertrauen werden entwickelt – emotionale Stabilität und Ausgeglichenheit – hohe Leistungsbereitschaft, von der Sache motiviert Sozialverhalten – Unselbstständigkeit und Fremdbestimmung – Geringschätzung gegenüber Mitmenschen – Streben nach Macht, Anerkennung und Sicherheit – Zuneigung von der Erfüllung persönlicher Erwartungen abhängig – Unfähigkeit, Kritik zu ertragen – große Selbstständigkeit und Selbstbestimmung – Wertschätzung und Verständnis gegenüber Mitmenschen – Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen – Fähigkeit zur Problemlösung – Zuneigung unabhängig von der Erfüllung eigener Erwartungen – Kritikfähigkeit 3. Kritik an der Erziehungsstilforschung Die Ergebnisse der Erziehungsstilforschung haben das pädagogische Denken und insbesondere das erzieherische Handeln vor allem in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. In der Erziehungspraxis sind sie auch heute noch 5 Kapitel 9 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 für viele in der Erziehung Tätige Orientierungshilfe für konkrete Situationen. Die Erziehungsstilforschung hat sicher auch tief greifend das Bewusstsein besonders hinsichtlich einer zu strengen, harten und lieblosen Erziehung zugunsten einer warmherzigen und partnerschaftlichen geändert. Erziehungsstile können Hilfsmittel sein, um tatsächliche Erzieherverhaltensweisen besser zu verstehen. Aus wissenschaftlicher Sicht müssen jedoch erhebliche Einschränkungen gemacht werden: Zum einen sind Erziehungsstile keine echten Erzieherverhaltensweisen. Es handelt sich lediglich um Annahmen darüber, wie sich ein Erzieher verhalten könnte. Die verschiedenen theoretischen Konzepte – allen voran die Führungsstile nach Kurt Lewin u. a. – sind relativ willkürlich festgelegt und im Ergebnis von der jeweiligen Forschungsmethode abhängig. Die empirischen Arbeiten des Ehepaares Tausch erlangten einen hohen Bekanntheitsund Verbreitungsgrad und haben der Erziehungsstilforschung in Deutschland wichtige Impulse gegeben. Gerade die Betonung der Wertschätzung und des Verstehens hat in der Pädagogik den Blick wieder intensiv auf die Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehenden richten lassen. Trotzdem haben die Untersuchungen wegen methodischer Nachteile nur begrenzte Aussagefähigkeit. Der bedeutendste Mangel ist dabei, dass das methodische Vorgehen weitgehend auf die Beobachtung der sprachlichen Äußerungen reduziert ist. Mimik und Gestik des Erziehers – in den Untersuchungen von Tausch/Tausch des Lehrers – werden kaum berücksichtigt. Gerade Kommunikationsforscher wie Paul Watzlawick (201112, S. 61–64) oder Friedemann Schulz von Thun (2007, S. 27 ff.) weisen darauf hin, dass es nicht nur darauf ankommt, was man sagt, sondern auch, wie man etwas sagt. Und gerade das „Wie“ charakterisiert die emotionale Beziehung, die zwischen zwei Personen herrscht – und die ist schwer messbar. Zum anderen ist der Einfluss von Erzieherverhaltensweisen auf die Entwicklung der Persönlichkeit nicht direkt beobachtbar und kann deshalb kaum nachgewiesen werden. 1 vgl. Kapitel 3.2.1 Die Ergebnisse der Erziehungsstilforschung zeigen uns zwar Auswirkungen des Erzieherverhaltens zum momentanen Zeitpunkt, doch über die Auswirkungen auf die Entstehung von Persönlichkeitseigenschaften über einen längeren Zeitraum liegen keine gesicherten Ergebnisse vor. Dies ist auch kaum möglich: Der Mensch ist in seinem Leben einer Vielfalt von Reizen ausgesetzt, sodass kaum festgestellt werden kann, welche Einflüsse nun letztlich diese oder jene Persönlichkeitseigenschaften verursacht haben. Kinder und Jugendliche sind in ihrer Entwicklung in ein vielschichtiges Geflecht von sich unterstützenden und widersprechenden Bedingungen eingebunden, die Erziehung nicht als ein davon unabhängiges Geschehen verstehen lassen. Erziehung kann demnach immer nur aus der Verflochtenheit der an der Erziehung beteiligten Personen mit der sie umgebenden Umwelt verstanden werden. Diese Sichtweise lässt Erziehung nicht als ein einfaches Ursache-Wirkungs-Prinzip erscheinen, wie es bei der Erziehungsstilforschung den Anschein hat, sondern eingebettet in eine Ganzheit: Die Entstehung von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen ist nicht Ergebnis lediglich eines bestimmten Erzieherverhaltens, sondern wird durch eine Vielzahl von Bedingungen bestimmt. Zugleich muss erwähnt werden, dass es auch darauf ankommt, was der zu Erziehende selbst aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen macht. Der Mensch ist ein aktives Wesen, das sich von vornherein aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzt und selbst erheblich zu seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung beiträgt.1 Die heutige Forschung geht davon aus, dass es keinen „allgemein wahren“ Erziehungsstil gibt und keine Aussagen darüber gemacht werden können, welche Erziehung „richtig“ und welche „falsch“ ist. Erziehung muss sich ständig an der Individualität des zu Erziehenden, an den Gegebenheiten der Gruppe, an den jeweiligen Zielen und Aufgaben sowie an der besonderen Erziehungssituation orientieren, was immer wieder ein unterschiedliches Erzieherverhalten und eine anders geartete Gewichtung erfordert. 47 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 48 Kapitel 9 4. Die Merkmale des pädagogischen Bezugs nach Herman Nohl 5 Herman Nohl (1879–1960) war deutscher Pädagoge, Philosoph und Professor zunächst an der Universität Jena, später in Göttingen. Während des Nationalsozialismus durfte er seine Professur nicht ausüben. Nohl war ein Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (vgl. Kapitel 1.3.2). Der pädagogische Bezug wird nach Herman Nohl durch sechs Merkmale bestimmt: 10 15 20 Erziehung geschieht um des zu Erziehenden willen. Kinder und Jugendliche dürfen in der Erziehung nicht zu Mitteln werden, die dem Zweck der Verwirklichung bestimmter wirtschaftlicher, politischer, persönlicher oder anderer Interessen zu dienen haben. Erziehung hat in jedem Augenblick nur dem Wohle des zu Erziehenden zu dienen, die den jungen Menschen vor Inbeschlagnahme und Manipulation zu bewahren hat; sie hat Orientierungshilfe zu sein, die dem zu Erziehenden im späteren Leben Selbstbestimmung, Verantwortung und relative Autonomie ermöglicht. Erziehung unterliegt historischem Wandel. 25 30 Was als Wohl des zu Erziehenden anzusehen ist, darüber muss unter den Eltern und anderen Erziehern immer wieder neu diskutiert werden, da sich Wert- und Normvorstellungen im Laufe der Zeit immer wieder ändern und Erziehung deshalb einem historischen Wandel unterliegt. Das pädagogische Verhältnis ist ein Verhältnis der Wechselwirkung. 35 Die Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem darf nicht als einseitiges Beein- flussungsverhältnis aufgefasst werden, in welchem der Erwachsene auf einen nur aufnehmenden, reagierenden jungen Menschen einwirkt; es ist von vornherein ein Verhältnis der Wechselwirkung. 40 Das pädagogische Verhältnis kann nicht erzwungen werden. Die Beziehung zwischen Erzieher und dem zu Erziehenden muss auf Freiwilligkeit beruhen und darf nicht durch Täuschung und Tricks oder gar mit Zwang und Gewalt herbeigeführt werden. 45 Das pädagogische Verhältnis strebt danach, sich aufzulösen und überflüssig zu machen. Erziehung hat vom ersten Tag an die Aufgabe, den jungen Menschen selbstständig zu machen. Daraus ergibt sich als Forderung, dass die Bindung des zu Erziehenden an den Erwachsenen von Anfang an als vorläufig betrachtet und auch so gestaltet werden muss, dass der junge Mensch lernt, sich aus dieser Beziehung schrittweise zu lösen sowie selbstständig und mündig zu werden. Im pädagogischen Verhältnis akzeptiert der Erzieher den zu Erziehenden und fördert ihn nach seinen Möglichkeiten. Der Erzieher muss seinen zu Erziehenden annehmen, so wie er ist, mit all seinen Schwächen und Fehlern, versucht aber alles irgendwie Mögliche zu tun, um ihn entsprechend seinen Möglichkeiten optimal zu fördern. (vgl. Klafki u. a., Band 1, 1986, S. 58–65) 50 55 60 65 Kapitel 10 49 Materialien Kapitel 10 1. Belohnung vermeiden 5 10 15 20 25 Kinder brauchen keine Bestechung, um gut zu sein. Sie wollen selber gut sein. Gutes Benehmen des Kindes resultiert aus dem Bestreben dazuzugehören, nützliche Beiträge zu leisten und mitzuarbeiten. Bezahlen wir ein Kind für gutes Betragen, zeigen wir ihm nur, dass wir seinen guten Absichten nicht trauen. Das ist aber eine Form der Entmutigung. Belohnung gibt einem Kind nicht das Gefühl des Dazugehörens. Sie kann ein Zeichen elterlicher Anerkennung sein, aber nur für einen Augenblick. Und dann? Sind Vater und Mutter immer noch mit mir einverstanden? Wenn wir an die Zahl der Augenblicke denken, haben wir bald keine Belohnung mehr zur Verfügung. Geben wir aber keine besondere Belohnung, glaubt das Kind, seine Bemühungen verschwendet zu haben. Eltern sehen sich einem ernsthaften Problem gegenüber, wenn das Kind sich weigert mitzuarbeiten, weil es auf die Frage „Was schaut für mich dabei heraus?“ keine Antwort erhält. Warum sollte es sich bemühen, wenn es nichts dafür bekommt? Und so entwickelt sich diese materielle Einstellung mehr und mehr – es wird unmöglich, den Appetit nach Bereicherung zu befriedigen. Ein völlig falscher Weg wurde festgelegt, schließlich nimmt der Jugendliche an, dass die Welt ihm alles schuldet. Wenn nicht automatisch etwas dabei herausschaut, wird er es „ihnen schon zeigen“. Das ist das Gefühl des Achtzehnjährigen, in dessen Wertsystem die Befolgung von Verkehrs- und Geschwindigkeitsregeln keinen Raum hat. Warum solle er ihnen gehorchen? Wo ist die Belohnung? Er hat seinen Wagen. Es macht Spaß, möglichst viel Aufregendes zu erlernen und zu zeigen, was für ein toller Kerl man ist, wenn man tut, was man will, und dabei nicht geschnappt wird. Und falls man gefasst und bestraft wird? Die Aufregung ist es wert. Vater wird auf jeden Fall bezahlen. Das ist die Wirkung von Belohnung und Bestrafung: „Sie haben mir dafür nichts gegeben, ich werde sie dafür bestrafen. Wenn sie mich bestrafen, werde ich mich rächen. Ich werde es ihnen schon zeigen.“ Befriedigung verschafft Beitragen und Mitwirken – ein Gefühl, das unseren Kindern im System der materiellen Belohnung verwehrt ist. Mit unseren fehlerhaften Bemühungen, Mitarbeit durch Bezahlung zu erreichen, versagen wir unseren Kindern die grundlegenden Befriedigungen des Lebens. 30 35 40 45 50 Quelle: Dreikurs/Soltz, 200816, S. 88 f. 2. Ich-Botschaften und das aktive Zuhören 5 10 Thomas Gordon (200821, S. 88) schlägt als Alternative zum Lob bzw. zur Belohnung IchBotschaften und ein aktives Zuhören vor. IchBotschaften sind Äußerungen eines Menschen, die persönliche Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse und dergleichen ausdrücken. Dadurch teilt der Erzieher dem zu Erziehenden mit, was er fühlt und denkt und welche Wirkung das Verhalten des Kindes bei ihm ausgelöst hat. Der zu Erziehende erfährt bei Ich-Botschaften, welche Wirkung sein Verhalten beim Erzieher hat, jedoch ohne sich bewertet zu fühlen; er kann sein (Fehl-)Verhal- ten selbst beurteilen und die Verantwortung dafür übernehmen. Aktives Zuhören ist nach Otto Marmet (20004, S. 93) eine Haltung, die sich in folgenden Eigenschaften äußert: − sich auf den Anderen einstellen und aufmerksam verfolgen, was er zu sagen hat − Bereitschaft zum Zuhören signalisieren, welche sich in nonverbalen Signalen wie zum Beispiel Kopfnicken, zugewandter freundlicher Blick oder das Hinwenden des Körpers ausdrückt 15 20 25 50 Kapitel 10 30 er fühlt sich besser verstanden und weiß, dass seine Gefühle akzeptiert werden. − schweigen können und abwarten, bis der Andere ausgesprochen hat, auch wenn man glaubt ihn schon verstanden zu haben − sich in seine Welt einfühlen und mit dem befassen, was er kundtun will „Ein gutes Gespräch besteht zur Hälfte aus Zuhören.“ (Ernst Ferstl1) Das Zuhören zeigt dem zu Erziehenden, welche Gefühle der Erzieher an ihm wahrnimmt; Quelle: Hobmair, 2009, S. 115 3. Die Bedeutung des Spiels aus der Sicht verschiedener Theorien psychoanalytische Theorie Verhaltenstheorien personenzentrierte Theorie Spiel als Ausdruck des Unbewussten und als Möglichkeit, Erlebtes symbolhaft darzustellen und aufzuarbeiten Spiel als Möglichkeit, das Erleben und Verhalten an die Anforderungen der Realität anzupassen Spiel als Möglichkeit, eine Kongruenz – eine stimmige Situation – zwischen dem organismischen Erleben als die „Verkörperung“ der Selbstverwirklichung und dem Selbstkonzept als die durch Erfahrung zustande gekommene Gesamtheit aller Wahrnehmungen, Meinungen, Urteilsbildungen und Bewertungen des Individuums über sich selbst und seine Umwelt Ð Ð Ð psychoanalytische Therapie Verhaltenstherapie nicht direktive Spieltherapie Im Spiel wiederholt und verarbeitet das Kind auf symbolische Weise im Unbewussten vorhandene Konflikte und Belastungen. Unangemessenes Erleben und Verhalten wird im Spiel verlernt und fehlendes, erwünschtes aufgebaut. Unangemessene Diskrepanzen zwischen dem organismischen Erleben und dem Selbstkonzept werden im Spiel abgebaut und eine Kongruenz aufgebaut. (vgl. Pausewang, 1997, S. 235, verändert) 4. Spielraumgestaltung Raumgestaltung – – – – Ziele in sozialpädagogischen Einrichtungen: vielfältige Bewegungsmöglichkeiten Anregungen zu reichhaltigen Erfahrungen und Stimmungen Rückzugsmöglichkeiten zu selbstbestimmtem, kreativem Spiel Spielmöglichkeiten in Gruppen oder allein ohne direkte Aufsicht Innenraum abgegrenzte, variable Ecken und Hochebenen Nutzung der Nebenräume Nutzung des Turnraums für eigengestaltetes Spiel unterschiedliche Bodenbeschaffenheit und Lichtquellen – wenig, weitgehend bewegliches Mobiliar – – – – – – – – – Außenraum Hecken, Mulden, Hügel, Mauern naturnahe Gestaltung und Bepflanzung vielfältiger Umgang mit Erde, Wasser, Natur zur Kreativität anregende Spielmöglichkeiten Nutzung des Außenraumes ohne direkte Aufsicht Quelle: Pausewang, 1997, S. 57 35 Kapitel 11 Materialien Kapitel 11 1. Nutzung von Medien Wichtigkeit der Medien Angaben in Prozent Basis: h = 102 – sehr wichtig/wichtig – Mädchen Jungen Musik hören 98 Internet nutzen Internet nutzen Musik hören 88 Handy nutzen 64 Radio hören 40 Computerspiele nutzen 62 Radio hören 58 Tageszeitung lesen 58 Bücher lesen 24 0 65 Handy nutzen 54 Tageszeitung lesen 71 Computerspiele nutzen 66 Bücher lesen 79 fernsehen 82 fernsehen 87 25 50 75 100 42 0 25 50 75 100 Quelle: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (JIM-Studie), 2009, S. 20 Angaben in Prozent Basis: alle Befragten, h = 1 200 Medienbeschäftigung in der Freizeit Fernseher 63 Internet 66 27 25 Handy 79 MP3-Player 9 64 Radio 19 58 Musik-CDs/Kassetten 16 47 Tageszeitung 20 27 Bücher 15 23 Computer-/Konsolenspiele (offline) 18 8 Computer (offline) 27 17 digitale Fotos machen 18 10 Zeitschriften/Magazine 23 11 DVD/Video 18 6 Tageszeitung (online) 23 9 Hörspielkassetten/-CDs 7 7 Zeitschriften (online) 5 7 ■ täglich 6 ■ mehrmals pro Woche digitale Filme/Videos machen 2 5 Kino 1 0 25 50 75 100 Quelle: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (JIM-Studie), 2009, S. 16 51 Kapitel 11 2. Jugend und Medien TV total M Les inu en te : n 23 37 Datenquelle: KIM-Studie 2008 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest M Rad inu io te : n So viel Zeit verbringen 6- bis 13-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland durchschnittlich pro Tag mit verschiedenen Medien (nach Angabe der Erziehungsberechtigten). F 91 ern M seh inu en te : n C o 40 m M pu inu te te r: n 52 Quelle: Wolf, 2010, S. 44 Jugend surft Wofür 12- bis 24-Jährige das Internet nutzen*, Angaben in Prozent *mehrmals pro Woche Textnachrichten (Instant Messaging) 69 Onlinecommunities 69 Musik/Sounddateien anhören 58 In Onlineenzyklopädien (Wikis) lesen 38 Filme/Videos anschauen 34 Weblogs lesen 8 Musik/Sounddateien einstellen 5 Weblogs verfassen 3 in Onlineenzyklopädien schreiben 2 Filme/Videos einstellen 1 Quelle: Dworschak, 2010, S.123 Kapitel 11 53 3. Was Neuntklässler mit ihrer Freizeit anfangen (Tagesdurchschnitt in Minuten) Fernsehen/ Video/DVD Computerspiele Sport treiben im Internet chatten Familienunternehmungen JUNGEN MÄDCHEN 213 201 141 56 109 77 103 113 65 79 ausgehen Bücher lesen Musik machen Einsatz für Umwelt/ Politik/Soziales 64 70 25 43 22 25 9 10 * teilweise gleichzeitige Aktivitäten; rund 4 000 Befragte; Quelle: KFN Quelle: Dahlkamp, 2009, S. 55 4. Fernsehzeiten für Kinder Im Vorschulalter höchstens eine halbe Stunde am Tag Für die täglichen Fernsehzeiten gelten folgende Empfehlungen: – bis 3 Jahre: kein Fernsehen, höchstens im Ausnahmefall; 5 – 3 bis 5 Jahre: maximal eine halbe Stunde; – 5 bis 7 Jahre: maximal 45 Minuten; – 8 bis 10 Jahre: maximal eine Stunde; – 10 bis 12 Jahre: maximal 90 Minuten; – 12 bis 14 Jahre: maximal 100 Minuten; 10 – ab 14 Jahre: maximal zwei Stunden. Was sonst noch wichtig ist: 1. Sorgen Sie für genügend Ausgleichszeiten. Faustregel: So lange wie ein Kind fernsieht, so viel Zeit sollte es auch mit Bewegung oder Spielen verbringen. 2. Kein Fernsehen morgens vor der Schule beziehungsweise vor dem Kindergarten. 3. Kinder unter 14 Jahren brauchen keinen Fernseher in ihrem Zimmer. 4. Der Fernsehraum sollte nicht dunkel sein, sondern so hell, dass bei dem Licht auch noch gelesen werden könnte. 5. Der Gebrauch des Fernsehers sollte sich unserem Tagesrhythmus anpassen, nicht umgekehrt. Quelle: Donaukurier Nr. 62, 13.03.2008, S. 45 15 20 25 54 Kapitel 12 Materialien Kapitel 12 1. Die Eingewöhnung des Kleinkindes in eine Kinderkrippe 5 10 15 20 25 30 Jedes Kleinkind benötigt eine Bezugsperson, die für es eine Sicherheitsbasis darstellt, zu der es jederzeit hingehen und die es beruhigen und trösten kann. Daher ist es wichtig, dass eine Erzieherin in der Krippe zu einer neuen Sicherheitsbasis wird. Dies erfordert eine längere Übergangszeit von der Familie zur Krippe, in der eine Erzieherin allmählich eine Bindung zum Kind aufbaut (vgl. Grossmann, 1999, S. 172 f.): − Zunächst wird die Erzieherin für das Kleinkind ein feinfühliger Spielpartner sein. − Dabei muss dem Kind zunehmend die Gelegenheit gegeben werden, die Erzieherin als Trostspenderin zu erleben. − Je mehr die Erzieherin vom Kleinkind als Sicherheitsbasis akzeptiert wird, desto länger werden die Zeiträume, in denen es von der „primären Bezugsperson“ (Vater oder Mutter) getrennt ist. Hat das Kleinkind im Laufe der Eingewöhnungszeit in einer Erzieherin eine neue Sicherheitsbasis gefunden, kann nach Karin Grossmann (1999, S. 173) davon ausgegangen werden, dass es auch eine längere Trennung von der „primären Bezugsperson“ (Eltern) bewältigen kann. Um die Qualität einer neuen Sicherheitsbasis zu bekommen, ist es für die Erzieherin wichtig, dass sie nicht allzu viele Kinder zu gleicher Zeit beaufsichtigen muss und viel Zeit für ein neu einzugewöhnendes Kind hat. Es ist wünschenswert, dass pro Erzieherin höchstens ein Kind pro Vierteljahr eingewöhnt wird, damit sie auch wirklich zur Stelle sein kann, wenn das Kleinkind Zuwendung und Trost braucht (vgl. Grossmann, 1999, S. 173). Eltern muss bewusst sein, dass sie rechtzeitig mit der Eingewöhnung beginnen müssen und das Kind nicht von heute auf morgen schutzlos in fremde Hände unter fremden Kindern und in eine fremde Umgebung geben dürfen (vgl. Grossmann, 1999, S. 173). Neben dieser wichtigen Eingewöhnungsphase hält Karin Grossmann (1999, S. 175 f.) folgende Maßnahmen für Erzieherinnen in der Kinderkrippe für wichtig: − Hilfen geben beim Lösen von Konflikten: Das Kleinkind ist noch nicht imstande, Konflikte allein zu lösen und Niederlagen zu ertragen. Neben der Vermittlung ist auch Zuneigung (zum Beispiel in den Arm genommen werden) erforderlich. − Geschütztes und konzentriertes Spielen ermöglichen: Das Kleinkind braucht die Hilfe der Erzieherin, um sich bei einem Spiel konzentrieren zu können. Sie sollte andere Kinder davon abhalten, es beim Spielen zu stören. − Führen von Gesprächen: Gespräche sind wichtig für die Entwicklung der Sprache. Je weniger Möglichkeiten ein Kleinkind zum Sprechen mit Erwachsenen hat, desto mehr wird es in seiner Sprachentwicklung zurückbleiben. 35 40 45 50 55 60 65 2. Probleme der erzieherischen Arbeit im Kindergarten Selten verläuft die pädagogische Arbeit im Kindergarten ohne Probleme. 5 − Probleme können entstehen, wenn sich die Erwartungen zwischen dem Träger des Kindergartens und den Erziehungsberechtigten widersprechen. − Probleme können auch entstehen, wenn die Weltanschauung des Personals bzw. des Träger und die der Erziehungsberechtigten stark voneinander abweichen, sodass eine sinnvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Kindes kaum mehr möglich ist. 10 Kapitel 12 15 20 25 30 35 − Das Elternengagement und das Interesse der Eltern am Kindergarten sind nicht immer befriedigend; Erzieherinnen beklagen sich oft über mangelndes Interesse der Eltern oder über nur mäßig besuchte Elternabende. Die Praxis in vielen Kindergärten belegt, dass Elternabende oder ähnliche Veranstaltungen von den Eltern besucht werden, die sich in der Regel viele Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machen. Gerade Eltern, bei deren Kindern Probleme wie zum Beispiel Sprachstörungen oder Kontaktschwierigkeiten auftreten, erscheinen nur selten. − Viele Eltern verlangen von ihren Kindern im Vorschulalter schulische Leistungen in Unkenntnis darüber, dass das freie Spiel das Kind mehr fördert als geplante Aktivitäten. Ein Spiel selbst zu gestalten, fordert und fördert das sich entwickelnde Gehirn ungleich mehr als vorgegebene Regeln zu übernehmen.1 Wissenschaftler und der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte warnen deshalb auch davor, Kindergartenkinder mit Vorschulangeboten zu überfordern. „Nichts kann das Kind in seiner Entwicklung beschleunigen. Und nichts kann das Kind in seiner Entwicklung verbessern. Alles passiert von selbst. Man kann das Rattenrennen ums Superkind getrost absagen.“ 40 (Largo, in: Kullmann, 2009, S. 47) 45 − Probleme können sich auch ergeben, wenn im Kindergarten ein anderer Erziehungsstil angewandt wird als im Elternhaus. − Mögliche Defizite, die sich aus der unterschiedlichen Herkunft der Kinder mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen ergeben können, werden Erzieherinnen in den seltensten Fällen ausgleichen können. Folglich kann bei Schuleintritt nicht von Chancengleichheit, die durch die Kindergartenerziehung kaum erreicht werden kann, gesprochen werden. − Eine weitere Grenze der pädagogischen Arbeit im Kindergarten liegt in den sehr großen Kindergartengruppen. Häufig besuchen 20 bis 25 Kinder – teils sogar mehr – eine Kindergartengruppe, die in der Regel nur von einer Erzieherin und einer Kinderpflegerin betreut wird. − Die Träger der meisten Kindergärten in der Bundesrepublik Deutschland sind die Kirchen; jedoch besuchen auch viele ausländische Kinder den Kindergarten, deren andersgläubige Grundsätze – zum Beispiel moslemische Weltanschauung – nicht mit den Grundsätzen der evangelischen und katholischen Kirche vereinbar sind. − Vor allem viele ausländische Kinder haben keine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache; es treten Sprachprobleme auf. − Verhaltensauffällige bzw. „schwierige“ Kinder überfordern häufig die Erzieher. Die Erzieher und Kinderpfleger sind jedoch verpflichtet, sich um alle Kinder ihrer Gruppe zu kümmern. Die Grenze der pädagogischen Arbeit im Kindergarten ist dort, wo sonderpädagogische Maßnahmen notwendig wären. Eine solche Arbeit kann der Kindergarten jedoch nicht leisten. 55 50 55 60 65 70 75 80 85 3. Probleme der schulischen Arbeit 5 Keine erzieherische Einrichtung zieht so viel Kritik auf sich und ist mit Problemen erzieherischer Arbeit behaftet wie gerade die Schule. Jede Schulart hat ihre spezifischen Probleme. Streitfragen wie beispielsweise die hierarchische Struktur der Schule und ihre zunehmende Bürokratisierung, „Mammutschulen“, zu wenig Lehrkräfte, zu große Klassen, zu viele 1 vgl. Kapitel 10.4.4 Hausaufgaben für die Schüler, immer mehr Unterricht am Nachmittag, mit Lerninhalten überfrachtete Lehrpläne, häufiger Stundenausfall oder unzureichende Förderung von benachteiligten Kindern sind hinlänglich bekannt. Nur auf einige Probleme kann näher eingegangen werden: 10 15 56 Kapitel 12 20 25 30 35 − Die Hauptschule hat vor allem in den Städten einen schlechten Ruf und taucht in den Medien gelegentlich mit dem Schlagwort „Restschule“ oder „Sackgasse” auf. Ungleiche Chancen vor allem von Unterschichtskindern, schlechte Zukunftsaussichten der Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt, eine mangelnde Integration von Schülern mit Migrationshintergrund oder Probleme in der Familie machen Hauptschulen zu „Brennpunktschulen“. Manche namhafte Pädagogen fordern inzwischen die „Abschaffung der Hauptschule“ – so auch die OECD1, die eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschule anmahnt – oder benennen die Hauptschule um, etwa in Mittelschule. Doch der Professor für Schultheorie und -forschung, Dr. Achim Leschinsky (2008, S. 399) meint hierzu: „Ein Ende vielleicht der Hauptschule, aber nicht des Problems“. „Keine Schule wird allein dadurch besser, dass man die Klassen mischt und am Eingang ein neues Schild aufhängt.“ (Dahlkamp, 2009, S. 145) 40 45 50 55 − Schule orientiert sich primär an der Mittelschicht, sodass diejenigen Kinder „bevorzugt“ werden, die aus diesem Milieu kommen. Kinder aus unteren Schichten haben es schwerer, vor allem in einer höheren Schule mitzukommen (vgl. Giesecke, 2009, S. 90 f.). − Auch die frühe „Qual der Schulwahl” nach der 4. Jahrgangsstufe in vielen Bundesländern wird heftig kritisiert, da Schule damit mehr und mehr zum Ausleseinstrument wird und bei den Kindern die Angst erzeugt zu versagen. Oft kann nach vier Schuljahren noch gar keine fundierte Entscheidung für den weiteren schulischen Weg des Kindes getroffen werden. 1 2 3 4 − Viele Bundesländer haben die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre verkürzt und das Abitur wird bereits nach der 12. Jahrgangsstufe abgelegt. Man spricht vom G8, welches wegen der sehr hohen Stundenzahl und der immensen Stofffülle in Kritik geraten ist. − Kritisiert wird heute mehrfach, dass Schule nicht mehr in erster Linie der Bildung, sondern lediglich noch der Ausbildung dient.2 Bildung darf jedoch nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen werden, sondern dient in erster Linie der Ausgestaltung des Menschseins, die Zeit benötigt. Diesem Gesichtspunkt muss die Schule Rechnung tragen. − Ausgelöst durch PISA3 hat sich eine inzwischen wieder aufgeflammte, unversöhnliche Diskussion um die richtige Schulform entfacht, die sehr ideologisch geführt wird und mehr an einen „Glaubenskrieg“ erinnert. Dabei steht die Art des Schulsystems im Mittelpunkt des Streits (mehrgliedriges Schulsystem auf der einen und Gesamtbzw. Einheitsschule auf der anderen Seite).4 Vertreter dieser oder jener Schulform nehmen für sich in Anspruch, Kinder in „ihrer“ Schulform am optimalsten fördern zu können und gleiche Bildungschancen zu ermöglichen. Doch solche Äußerungen sind mit Vorsicht zu genießen, da es zu diesem Thema sehr widersprüchliche, zum Teil auch methodisch fragwürdige Untersuchungen gibt. Auch die PISA-Studie gibt hierüber keine wissenschaftlich fundierte Auskunft. Generell ist nur die Aussage möglich, „dass nicht die Schulform per se eine entscheidende Determinante der Schuleffektivität ist, sondern die jeweilige Ausgestaltung der Lernkultur in jeder einzelnen Schule“ (Köller, 2005, S. 484). − Lehrer beklagen sich – wie eine Umfrage ergab –, dass sie das System „Schule“ mürbe macht. Sie können ihre Schüler auf- OECD: Organisation for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) vgl. Kapitel 4.3.2 PISA ist die Abkürzung für „Programm for International Student Assessment“ (Programm zur internationalen Schülerbewertung). Die PISA-Studien sind seit 2000 von der OECD veranstaltete internationale Schulleistungsuntersuchungen, die alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten von 15-jährigen Schülern messen. Beim jüngsten PISA-Test (2009) beteiligten sich an der Studie weltweit über 60 Staaten (vgl. Hobmair, 2009, S. 278). siehe Abschnitt 12.3.3 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Kapitel 12 105 110 115 120 grund der ständig zunehmenden Bürokratisierung und (unnötiger) Zwänge des Schulalltags nicht so individuell fördern, wie sie das gern tun würden und es den Begabungen der Schüler entspricht. Viele Lehrer haben den Eindruck, im Mittepunkt stehen die Verwaltung von Schule und nicht die Schüler. Sie fühlen sich in ihrem Engagement ausgebremst, weil sie ständig an ihre Grenzen stoßen. − Die Schulen leiden unter einem Lehrermangel, der in Zukunft dramatisch sein wird. Oft kann der reguläre Unterricht in der vorgegebenen Stundenzahl gar nicht abgedeckt werden. Meist müssen sich die Schulen selbst helfen – auch wenn ein Lehrer für längere Zeit ausfällt – und dafür sorgen, dass der Schulbetrieb so einigermaßen läuft. Zudem gehen im nächsten Jahrzehnt hunderttausende Lehrer in Pension und es gibt nicht genügend junge Pädagogen für ihre Nachfolge. Schulexperten erwarten wegen der Unterdeckung in den Kollegien eine gewaltige Bildungskrise. „Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer achtet.“ (Carl Jaspers1) 125 130 − Auf der anderen Seite sind die Erwartungen an die Schulpädagogen sehr hoch. Es kommen zudem auf die Schule immer mehr erzieherische Aufgaben zu, die früher vom Elternhaus erfüllt wurden und mit denen sie zwangsläufig überfordert sein muss: Diese Aufgaben reichen von der Sozialerziehung, Anstands-, Umwelt-, Medienerziehung und wirtschaftlichen Verbraucherbildung (Schüler sollen den Umgang mit Geld lernen) bis hin zur Friedenserziehung. Zudem werden gesellschaftliche Probleme wie Alkohol- und Drogenmissbrauch, soziale Auffälligkeiten und Ausländerfeindlichkeit zum Aufgabenbereich der Schule erklärt (vgl. Stein, 2009, S. 73). „Bildung wird zunehmend als Sozialpolitik verstanden, und das hat Auswirkungen auf die Leistungsanforderungen: Sie sinken (…) Die Standards gehen verloren, das Niveau sinkt.“ 57 135 140 145 (Dahlkamp, 2009, S. 145 f.) − Auch die Hochschule erfährt aufgrund der Einführung des Bachelor- und Masterabschlusses2 Kritik: Sie sei zu sehr wirtschaftlich orientiert, zu sehr verschult und es gehe an den Universitäten nicht mehr um Bildung, sondern nur noch um Ausbildung. In vielen Studienfächern brechen nicht weniger, sondern mehr Studierende ihr Studium ab. 150 155 4. Probleme der Heimerziehung und der Kinder- und Jugendarbeit 5 a) Probleme der Heimerziehung − Wenige professionelle Erzieher betreuen meist zu viele Kinder. Problematisch ist, dass den Kindern oder Jugendlichen oft eine feste Bezugsperson fehlt; deshalb kann sich kein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit entwickeln. Dieses Problem 1 2 wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass nach getaner Arbeit die einen Erzieher gehen und die anderen Erzieher kommen (große Fluktuation des Erzieherpersonals). − Sozial auffällige Kinder oder Jugendliche beeinflussen die anderen ungünstig. Da Carl Theodor Jaspers (1883–1969) war deutscher Psychiater, der als Philosoph weit über Deutschland hinaus bekannt wurde. Er galt als herausragender Vertreter der Existenzphilosophie. Der Bachelor ist ein „erster berufsqualifizierender Hochschulabschluss“, der die Grundlagen vermittelt. Er ist Voraussetzung für den Master, ein forschungs- oder anwendungsorientierter „zweiter Hochschulabschluss“, welcher auf dem Bachelor aufbaut. Bachelor und Master gehen auf den Bologna-Prozess zurück, welcher die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums beabsichtigt. 10 58 Kapitel 12 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Kinder/Jugendliche in Heimen in Gruppen zusammenleben, können möglicherweise verhaltensgestörte Kinder/Jugendliche einen negativen Einfluss auf die anderen ausüben. − Die Heimordnung ist manchmal wichtiger als ein Erfolg in der Erziehung. Sinnloses Festklammern der Erzieher an Regeln der Heimordnung, die für Kinder/Jugendliche schwer oder gar nicht zu verstehen sind, steht einem Erziehungserfolg manchmal im Weg. − Heimkindern fehlt oft die notwendige Spontaneität. Der starre Tagesablauf, der geplante Wechsel der Erzieher, die Massenpflege usw. begünstigen, dass Kindern/Jugendlichen Kreativität und Spontaneität genommen werden. − Heimeinweisung erfolgt häufig zu spät. Bis das Jugendamt eine Heimeinweisung anordnet, verstreicht viel Zeit und das sozial abweichende Verhalten kann sich verfestigt haben. − In manchen Heimen fehlen gut ausgebildete professionelle Fachkräfte und es stehen nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung, sodass beispielsweise notwendiges pädagogisches Material nicht besorgt werden kann. − Heime haben oft keinen guten Ruf. Dies liegt zum Teil daran, dass Heime häufig als „sehr streng“ bekannt sind und man ins Heim kommt, wenn die Eltern mit ihrem Kind „nicht mehr fertigwerden“ („Dann kommst du ins Heim!“). Zum anderen haben manche Heime in letzter Zeit durch Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfe Vertrauen in der Bevölkerung eingebüßt. anstaltungen der Kinder- und Jugendarbeit kann festgestellt werden. Nach Herrmann (2004) sind die angebotenen Freizeitaktivitäten der Kinder- und Jugendarbeit aufgrund einer zunehmenden Ausbreitung der elektronischen Medien – Fernsehen, Computer u. a. – in allen Bereichen für die angestrebten Zielgruppen uninteressant. Zudem werden die Wünsche von Kindern und Jugendlichen wählerischer, die Kinderund Jugendarbeit kann oft auf die Vielzahl unterschiedlicher Wünsche nur unzureichend reagieren. − Wie vielfältig und abwechslungsreich die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit sind, hängt auch von den finanziellen Mitteln ab, die ihr oft nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. − Wie viele hauptamtliche und nebenamtliche Mitarbeiter bei den jeweiligen Trägern der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt werden können, hängt ebenfalls von den finanziellen Mitteln ab. Häufig ist es nicht möglich, aus finanziellen Gründen ausreichend Personal zu haben, was auf Kosten der Qualität in der Kinder- und Jugendarbeit geht. − Kinder- und Jugendarbeit orientiert sich an den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen. Für die Mitarbeiter bedeutet dies, dass sie keine fest geregelte Arbeitszeit haben, sodass dieser Beruf vor allem für verheiratete Mitarbeiter mit Kindern nicht sehr attraktiv ist. b) Probleme der Kinder- und Jugendarbeit Probleme der Kinder- und Jugendarbeit entstehen einerseits bei den Kindern und Jugendlichen selbst, andererseits bei den Mitarbeitern in der Kinder- und Jugendarbeit oder ihren Trägern. − In der Kinder- und Jugendarbeit sind neben Hauptamtlichen viele nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter tätig. Doch nur das hauptamtliche Personal, welches meist in der Minderzahl ist, hat eine spezielle Ausbildung zum Erzieher bzw. Sozialpädagogen, was bei den Nebenamtlichen und Ehrenamtlichen nicht der Fall ist. Die Ansprüche in der Kinder- und Jugendarbeit sind jedoch in der heutigen Zeit sehr hoch, sodass diese nur professionell ausgebildetes Personal leisten kann. − Ein zunehmendes Desinteresse vor allem von Jugendlichen an Angeboten und Ver- − Die hauptamtlichen Sozialpädagogen bzw. Erzieher sind oft mit Verwaltungstätigkei- 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 Kapitel 12 110 115 ten wie beispielsweise Rechenschaftsberichte, Anträge auf Bewilligung von Mitteln u. a. beschäftigt, Zeit, die zwangsläufig von der Arbeit mit den Kindern bzw. Jugendlichen eingespart werden muss. Sozialpädagogen und Erzieher beklagen den immensen bürokratischen Aufwand, der nur auf Kosten der eigentlichen Arbeit betrieben werden kann. − Die Erwartungen der Träger, der Mitarbeiter und der Kinder bzw. Jugendlichen an die Kinder- und Jugendarbeit sind meist sehr unterschiedlich, können oft nicht „unter einem Hut gebracht“ werden und widersprechen sich manchmal. − Der Kinder- und Jugendarbeit wird oft mit Vorurteilen begegnet, was eine effektive pädagogische Arbeit erschwert. „Jugendarbeit ist ein geeigneter Platz zum Drogenkonsum“ ist ein solches in der Öffentlichkeit weitverbreitetes Vorurteil, das vor allem Jugendzentren und Jugendtreffs betrifft. 59 120 125 60 Kapitel 13 Materialien Kapitel 13 1. Praktische Anwendung des Arbeitsprinzips der Gemeinwesenarbeit am Beispiel stadtteilbezogener Arbeit in Schwandt1 5 10 15 20 25 30 35 40 Die Stadt Schwandt hat sich aufgrund der steigenden Kriminalitätsrate bei Jugendlichen und zunehmender Konflikte zwischen Jugendgruppen und Asylanten zur Anstellung eines Sozialpädagogen für Gemeinwesenarbeit durchgerungen. Nach ihrer Anstellung findet die Sozialpädagogin folgende Situation vor: Schwandt zerfällt in zwei unterschiedliche Stadtteile: Alten- und Neuenschwandt. Für den Stadtteil Altenschwandt ist eine eher kleinstädtische dörfliche Struktur charakteristisch. Er ist durch eine breite Straße von Neuenschwandt getrennt. Der Ortskern Altenschwandt kann auf eine langjährige Geschichte und eigene Tradition zurückblicken mit langsam gewachsenen Beziehungsstrukturen zwischen den Bewohnern. Das neu entstandene Wohngebiet in Neuenschwandt besteht aus einfachen Hochhäusern und Wohnblocks. Es lebt dort eher die einkommensschwache Bevölkerung, bevorzugt Arbeiterfamilien, Alleinerziehende mit Kindern, Spätaussiedler, Gastarbeiter und neuerdings wurde dort auch auf einem Grundstück der Stadt eine Containersiedlung für Asylanten errichtet. Die Bewohner sind darüber entrüstet, weil einige engagierte Eltern beim Stadtrat schon des Öfteren die mangelnden Spielmöglichkeiten für ihre Kinder auf den sterilen Grünflächen zwischen den Hochhäusern beklagten. Sie forderten schon seit Jahren, auf diesem Grundstück ein Spiel- und Freizeitgelände zu errichten. Die Unzufriedenheit über die Wohnsituation in Neuenschwandt ist groß; sie äußert sich in der Einstellung, dort nur vorübergehend zu wohnen. Die Integrationsbereitschaft in diesem Stadtteil ist folglich nicht besonders hoch. Dazu trägt auch ein Defizit im Sozial- und 1 Freizeitbereich bei. Die Möglichkeiten, sich nach Feierabend zu treffen, sind stark eingeschränkt, weil es außer einem Speiselokal und einer Eisdiele keine weiteren Kneipen gibt. Ganz anders sieht die Situation in Altenschwandt aus. Ein Teil der Bewohner lebt in dem Ortsteil bereits über Generationen. Die verwandtschaftlichen Verflechtungen sind demnach auch entsprechen hoch. Es existieren eine große Anzahl informeller Treffpunkte (Metzger, Bäcker, Friseur usw.), die als Orte der Kommunikation intensiv genutzt werden. Außer einigen Kneipen gibt es noch eine große Anzahl von Vereinen, die von vielen Bewohnern mitgetragen werden. All diese Faktoren tragen mit dazu bei, dass das Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühl sehr groß ist. Ein reicher Geschäftsmann aus Altenschwandt möchte auf dem städtischen Grundstück mit der Containersiedlung ein Tennis- und Squashcenter errichten. Da er gute Verbindungen zum Stadtrat besitzt, erhofft er sich einen günstigen Preis für den Kauf dieses Grundstückes. Die Stadt sucht allerdings noch nach einer anderen Unterbringungsmöglichkeit für die Asylanten. Stattdessen fordert eine der Oppositionsparteien die Errichtung eines Bürgerzentrums, was die Mehrheitspartei aufgrund der Finanzknappheit jedoch für nicht realisierbar hält. Die andere Oppositionspartei dagegen favorisiert angesichts der sozialen Probleme in diesem Stadtteil eher den Bau eines Jugendbegegnungszentrums, das von der Stadt Schwandt und der katholischen Kirche gemeinsam getragen werden sollte. Die Sozialpädagogin steht nun vor dem Problem: Wie ist unter diesen Bedingungen eine möglichst qualifizierte Gemeinwesenarbeit durchzuführen? Der Name der Stadt und die Situationsbeschreibung entsprechen nicht den realen Gegebenheiten. 45 50 55 60 65 70 75 80 Kapitel 13 61 2. Das Unterstützungsmanagement 5 10 15 20 25 30 35 Die Methode des Unterstützungsmanagements, auch Case Management genannt, kommt aus den USA und wurde Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch Wolf Rainer Wendt (19982 und 20084) in Deutschland bekannt gemacht. Gegenstand ist die Mensch-Umwelt-Beziehung, die eine lebenserhaltende Bedeutung hat, aber auch „schädigend“ auf das Individuum wirken kann. Wolf Rainer Wendt, Dr. phil., ist seit 1978 Professor an der Berufsakademie in Stuttgart und dort Leiter des Ausbildungsbereichs Sozialwesen. Zugleich ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit. Vor 1978 war er in einer Erziehungsberatungsstelle, später beim Jugendamt Stuttgart tätig, zuständig für die Heimerziehung und das Adoptions- und Pflegestellenwesen. Seit den 80erJahren des letzten Jahrhunderts machte er sich für ökologische Konzepte in der sozialen Arbeit stark. Bekannt wurde er vor allem durch seine Verbreitung des Case Managements im deutschsprachigen Raum. Zusammen mit Claus Mühlfeld, Hubert Oppl und Hartmut Weber-Falkensammer ist er Herausgeber der Schriftenreihe „Brennpunkte Sozialer Arbeit“. a) Aufgaben des Unterstützungsmanagements Im Unterstützungsmanagement geht es einmal um die Erschließung aller möglichen Hilfsquellen, die einer Hilfe suchenden Person – zum Beispiel Menschen mit Behinderung – in einem Gemeinwesen zur Verfügung stehen. Solche Hilfsquellen können zum Beispiel Geld, eine Beratungsstelle, Sozialstation oder Nachbarschaftshilfe sein. 40 45 Den Klienten sind die Unterstützungsmöglichkeiten jedoch nicht zwangsläufig bekannt und unter den verschiedenen Anbietern (Trägern sozialer Dienste) mangelt es häufig an Kooperation und bedarfsgerechten Angeboten. Deshalb geht es zum anderen um die Koordination dieser Hilfsquellen, um eine möglichst effektive Hilfe zu gewährleisten. Bernd ist neun Monate alt. Er hat das Downsyndrom. Seitdem gibt es in der Familie von Bernd Spannungen: Der Vater wollte, dass seine Frau abtreibt, als er erfuhr, das Kind sei behindert. Doch sie wollte das nicht. Der Vater konnte sich aber mit der Geburt eines Kindes mit Behinderung nicht abfinden; er ist seitdem kaum zu Hause und hat auch keine Beziehung zu seinem Sohn Bernd. Alle pflegerischen und erzieherischen Maßnahmen überlässt er seiner Frau. Die Mutter fühlt sich allein gelassen und ist mit der Betreuung von Bernd und der gesamten Hausarbeit überfordert. Sie zeigt seit der Geburt ihres Sohnes starke depressive Symptome. Sie weiß auch nicht, was sie tun soll und wer ihr helfen kann. Aufgabe des Unterstützungsmanagements ist es nun, die entsprechenden Dienste und Einrichtungen zu mobilisieren – zum Beispiel einen medizinischen und pflegerischen Dienst, eine Beratungsstelle und Ähnliches – und diese zu koordinieren. Zugleich kann geprüft werden, wie die Frau mögliche Verwandte, eventuell auch Bekannte und/oder Nachbarn, unterstützen können. Case Management hilft beispielsweise auch bei der Suche nach einer kleineren Wohnung (falls es zur Trennung kommt), welche die Frau leichter bezahlen kann, und kümmert sich darum, dass auch der Mann in die Pflicht genommen wird. Soll nun die Normalisierung gelingen, ist ein koordiniertes Vorgehen erforderlich und alle Beteiligten werden an einen Tisch geladen, an dem die Aufgabenstellung geklärt, juristischer Rat eingeholt und Zusammenarbeit vereinbart wird. Diese Erschließung und Koordination bedarf – wenn die Hilfe erfolgreich sein soll – einer sorgfältigen Planung und Organisation des Unterstützungsverlaufs, was ein kompetentes Handeln erfordert. Unterstützungsmanagement (Case Management) versteht sich als planmäßige und organisierte Erschließung und Koordination von Hilfsquellen zur Unterstützung einzelner Menschen und Gruppen mit Problemen. Dabei geht es nicht darum, dass der Case Manager für den Klienten die Unterstützung be- 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 62 100 105 110 Kapitel 13 werkstelligt: Der Klient wird aktiv an seiner Problemlösung beteiligt. Aufgabe des Case Managements ist die Planung und Organisation der Unterstützung, um dem Klienten und gegebenenfalls seinen Angehörigen in ihrer Lage effektiv zu helfen (vgl. Wendt, 2010, S. 170 ff.). Bei der Bewältigung von Problemen und bestimmten Situationen im Sinne des Unterstützungsmanagements spielen Ressourcen1 eine wichtige Rolle. Durch das Unterstützungsmanagement wird nach Einschätzung der Dringlichkeit von Problemen eine erforderliche Hilfe, die unter aktiver Mitarbeit des bzw. der Klienten selbst zustande kommt, eingeleitet sowie effektiv gestaltet. Case Management ist „ein Prozess der Zusammenarbeit, in dem geklärt, geplant, umgesetzt, koordiniert, überwacht und bewertet wird, was an Dienstleistungen zur individuellen Bedarfsdeckung notwendig und im Hinblick auf verfügbare Ressourcen qualitäts- und kostenbewusst erreichbar ist.“ (Wendt, 20084, S. 57) 115 120 Lage effektiv zu helfen und die ihnen oft nicht bekannten oder für sie allein nicht erreichbaren Dienste und Einrichtungen in dem entsprechenden Gemeinwesen an dem Problem bzw. der Situation zu beteiligen und aufeinander abzustimmen (vgl. Wendt, 1995, S. 153 f.). Ziele des Case Managements sind − eine optimale Versorgung des Klienten mit Unterstützungsleistungen sozialer Dienste durch Erschließung und Koordination der Hilfsquellen, − sorgfältige Planung und Ablauforganisation der Erschließung und Koordination der Hilfsquellen, − eine aktive Beteiligung des Klienten an der Lösung der Situation sowie − eine kostengünstige, effektive Durchführung von Hilfsangeboten. b) Vorgehensweise des Unterstützungsmanagements Wolf R. Wendt (20084, S. 124–152) unterscheidet bei der Vorgehensweise fünf Phasen: 130 135 140 145 150 Assessment (Einschätzung und Bedarfsklärung) 125 Das Unterstützungsmanagement geht davon aus, dass ein Hilfsbedürftiger regelmäßig einer Mehrzahl an Schwierigkeiten gegenübersteht und es in dem Gemeinwesen, in welchem der Hilfsbedürftige lebt, Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Es ist nun Aufgabe des Case Managements, dem Klienten und gegebenenfalls seinen Angehörigen in ihrer 1 vgl. Abschnitt 13.1.3 In diesem ersten Schritt geht es um die Erfassung der Probleme, eine umfassende Beschreibung und Bewertung der Situation sowie die Bedarfsklärung. Beim Erstkontakt mit dem Case Manager werden die Erwartungen der Beteiligten geklärt, welche Personen bzw. Familienmitglieder Unterstützung brauchen und ob das Unterstützungsmanagement diese leisten kann. Eine sorgfältige Einschätzung der Lebenslage ermöglicht es, einerseits die objektiven Gegebenheiten wie die Lebensgeschichte des Klienten, körperliche Bedingungen (Alter, Gesundheit u. a.) oder soziale Bedingungen (vorhandenes Netzwerk, Verwandte, Bekannte, Nachbarn), andererseits seine subjektive Orientierung (Zukunftserwartungen, Wert- und Normvorstellungen, Gefühle usw.), aber auch seine Stärken zu berücksichtigen. Das Ergebnis dieser Gesamtanalyse ist ein Bedarfs- und Ressourcenprofil. 155 160 165 170 Kapitel 13 175 180 185 Um bei dem Beispiel mit Bernd, der am Downsyndrom leidet, zu bleiben: Der Case Manager erstellt nun gemeinsam mit der Mutter von Bernd eine Problemliste, zum Beispiel die Art und Ausprägung der Behinderung von Bernd, die Depression der Mutter und ihre Überforderung mit Haushalt und Betreuung von Bernd sowie Konflikte mit ihrem Mann. Als Nächstes werden die Prioritäten innerhalb der festgestellten Probleme festgelegt. Ein weiterer Schritt ist dann die Einschätzung der individuellen und sozialen Ressourcen von Bernd und seiner Mutter sowie eventuelle Hindernisse bei der Lösung der Probleme. Planning (Zielvereinbarung und Hilfeplanung) 190 195 200 205 210 215 220 225 Aus der Einschätzung der Problemlage und dem festgestellten Bedarf leitet der Klient zusammen mit dem Case Manager entsprechende Ziele der Veränderung ab (Zielvereinbarung). Zur persönlichen Lebensplanung passende Mittel und Wege sind zu finden, die bei aktiver Beteiligung des Klienten zur Verbesserung seiner Lebenslage bzw. Situation beitragen. Die Unterstützung des Betroffenen besteht darin, bisher unerschlossene eigene und Ressourcen aus der Umwelt besser zu nutzen. In der Kompetenz des Case Managers liegt es, Geldmittel zu erschließen und die im Gemeinwesen vorhandenen informellen Hilfen wie durch Angehörige, Freunde, Nachbarn usw. mit formellen Hilfen – verschiedene Einrichtungen, soziale Dienste – planmäßig, personenbezogen zu vernetzen und zu koordinieren. Das Ergebnis ist ein Unterstützungs- bzw. Hilfeplan, der in Absprache mit dem Klienten und in Abstimmung mit formellen Diensten, Behörden und informellen Unterstützern erstellt wird. Aus Gründen der Überprüfbarkeit enthält der schriftlich formulierte Hilfeplan neben der Zielvereinbarung Angaben zur Art, zum Umfang und zur Dauer der Unterstützung (Hilfevereinbarung). Nach Unterschrift der Beteiligten wird auch dem Klienten ein Exemplar dieser Hilfevereinbarung ausgehändigt. Geplant wird schließlich, welche Art von Hilfen Bernd und seine Mutter benötigen und welche Ressourcen zur Verfügung stehen, beispielsweise medizinische und pflegerische Dienste, Familienberatung, Nachbarn, Selbsthilfegruppe, Wohnungsamt usw. Ziele wer- 63 den formuliert und nach Dringlichkeit geordnet. Der Case Manager bespricht mit Bernds Mutter die weiteren Verfahrensweisen und erstellt einen Unterstützungs- bzw. Hilfeplan. Die Planung sichert zudem, dass Geldmittel und/oder Ressourcen vorhanden sind, um den Plan durchzusetzen. 230 Intervention (kontrollierte Durchführung der Hilfe) Intervention bedeutet im Unterstützungsmanagement kontrollierte Durchführung des Hilfeplans. Bei der Durchführung der einzelnen Hilfen und deren Umsetzung hat der Case Manager eine begleitende, anwaltliche, daneben aber auch eine steuernde und kontrollierende Funktion. Er koordiniert die Hilfen, leistet diese jedoch nicht selbst, sondern ein Dienstleister, der den Auftrag übernommen hat. Dieser berichtet dem Case Manager immer wieder über den Fallverlauf. Nötigenfalls erfolgt eine Anpassung der Hilfsstrategie an neue Erfordernisse, bis schließlich die Ziele erreicht sind. Die im Unterstützungsplan benannten Probleme werden im Plan dokumentiert und in Verbindung mit möglichen Ressourcen gebracht. Bei Bedarf kann der vorläufige Aktionsplan auch abgeändert werden, wenn während der Durchführung andere Maßnahmen erforderlich sind. 235 240 245 250 255 Monitoring (Begleitung und Überprüfung der Hilfen) Monitoring bedeutet im Unterstützungsmanagement Begleitung und Beobachtung des Ablaufs sowie fortlaufende Überprüfung der Leistungserbringung hinsichtlich der Angemessenheit und Wirksamkeit vereinbarter Hilfen. Durch regelmäßige Kontakte werden die vereinbarte Versorgung sowie der Veränderungsprozess des Klienten vom Case Manager gemeinsam mit dem Klienten laufend beobachtet, um Teilerfolge, Fortschritte in der Situationsbewältigung und erreichte Ziele oder neu aufgetretene Probleme feststellen zu können. Nötigenfalls sind Korrekturen und Nachbesserungen im Versorgungs- und Unterstützungssystem vorzunehmen (Re-Assessement). Als Nachweis für die Qualität der Arbeit und zur Erfolgskontrolle wird der Veränderungsprozess dokumentiert. 260 265 270 275 64 Kapitel 13 Die im Unterstützungsplan benannten Probleme werden im Plan dokumentiert und hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Effektivität überprüft. Nötigenfalls wird der vorläufige Aktionsplan auch abgeändert, wenn während der Durchführung andere Maßnahmen erforderlich werden. 280 „Monitoring besteht in einer fortlaufenden Prüfung des geregelten Ablaufs der Versorgung und der Fortschritte, die ein Klient dabei gemäß dem Plan macht, der in seinem Fall zur Bedarfsdeckung erarbeitet wurde.“ (Wendt, 20084, S. 142) 285 290 Evaluation (Dokumentation und Bewertung der Ergebnisse) Am Ende eines Case-Management-Prozesses wird überprüft, ob und inwieweit das gesetzte Ziel des Hilfeplans auch tatsächlich erreicht wurde. Case Manager und Klient vergleichen und bewerten den Istzustand der Problemlage mit dem Sollzustand der anzustrebenden Lebenslage, um feststellen zu können, welche formellen und/oder informellen Hilfen beendet oder weitergeführt werden sollten. Ergebnisse und Erfahrungen werden dokumentiert, damit sowohl gegenüber dem Klienten als auch den Auftraggebern Rechenschaft abgelegt werden kann. Die Evaluationsphase kann sowohl als Neueinschätzung der Situation des Klienten (Re-Assessement) fungieren, somit einen neuen Case-Management-Prozess einleiten als auch dessen Beendigung bedeuten. Der Case Manager überprüft, ob die im Plan vereinbarten Ziele, dass Bernd und seiner Mutter geholfen wird, die Mutter dadurch eine Entlastung erfährt und es ihr emotional besser geht, auch tatsächlich erreicht wurden. 295 300 305 310 Unterstützungsmanagement (Case Management) planmäßige und organisierte Erschließung und Koordination von Hilfsquellen zur Unterstützung einzelner Menschen und Gruppen mit Problemen Vorgehensweise Assessment Einschätzung, Abklärung Planning Planung Intervention Durchführung Monitoring Kontrolle, Überwachung Evaluation Bewertung, Auswertung Quelle: Hobmair, 2006, S. 111 ff., verändert 3. Die ökologischen Systeme nach Urie Bronfenbrenner 5 10 Urie Bronfenbrenner versteht Ökologie als Lehre vom „Lebensraum“, der in einer wechselseitigen Beziehung mit den darin existierenden Individuen steht. Der Mensch ist in verschiedene Systeme eingebunden, beeinflusst diese und wird seinerseits von ihnen in seinem Verhalten gelenkt. In den einzelnen Systemen zeigt sich seine soziale Eingebundenheit insbesondere dort, wo sie durch Tätigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen und Rollen gekennzeichnet ist. Insgesamt un1 mikrós (griech.): klein terscheidet Bronfenbrenner fünf ökologische Systeme: − das Mikrosystem, − das Mesosystem, − das Chronosystem, − das Exosystem und − das Makrosystem. 15 Das Mikrosystem1 Das Mikrosystem stellt den unmittelbaren Lebensbereich des sich entwickelnden Men- 20 Kapitel 13 25 30 35 40 45 50 55 60 schen dar. Ein Lebensbereich ist dabei ein Ort, an dem Personen leicht in Kontakt miteinander treten können. Beispiele für solche Lebensbereiche wären das Zimmer, in dem ein Kind spielt, die Klasse in der ein Jugendlicher lernt oder die Familie, in der er aufwächst. Das Mesosystem1 Die Umwelt eines Menschen setzt sich aus vielen Mikrosystemen wie Familie, Nachbarschaft, Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz zusammen. Diese verschiedenen Mikrosysteme bestehen jedoch nicht isoliert voneinander, sondern stehen miteinander in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig. Besucht ein Kind den Kindergarten, so entstehen vielfältige Kontakte zwischen den beiden Lebensbereichen, Elternhaus und Kindergarten, die gegenseitige Beeinflussungen nach sich ziehen. So legt die Erzieherin zum Beispiel Wert auf die Einhaltung der Gruppenregeln und der Öffnungszeiten. Das Kind bringt bestimmte Wünsche, Bedürfnisse und Persönlichkeitsmerkmale mit, auf die die Erzieherin eingehen muss. Diese Wechselbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Lebensbereichen, an denen eine Person beteiligt ist, werden Mesosysteme genannt. Das Chronosystem2 Während ihrer Entwicklung treten Personen immer wieder in neue Lebensbereiche ein und übernehmen neue Rollen. Der Eintritt in Kindergarten, Schule, Berufsleben, aber auch Heirat oder Scheidung sind Beispiele dafür. Solche „Lebensübergänge“ werden als Chronosysteme bezeichnet. Ein Chronosystem ist ein „Lebensübergang (...), der stattfindet, wenn eine Person ihre Position in der ökologisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer Rolle oder ihres Lebensbereichs verändert (...).“ (Bronfenbrenner, 19962, S. 77) 1 2 3 4 mésos (griech.): Mitte chrónos (griech): die Zeit éxō (griech): außen, heraus makrós (griech.): groß Das Exosystem3 Einen weiteren Umweltausschnitt stellt das Exosystem dar. Es gibt Lebensbereiche, die die Entwicklung einer Person beeinflussen, obwohl diese Person gar nicht an ihnen teilhat. Umgekehrtes gilt genauso: Eine Person beeinflusst einen Lebensbereich, an dem sie gar nicht teilnimmt. Die wechselseitige Beeinflussung erfolgt dabei über andere Personen. So stellt zum Beispiel der Arbeitsplatz der Eltern ein Exosystem für das Kind dar, da es an ihm nicht beteiligt ist. Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit, Lärm sowie körperliche und psychische Beanspruchung wirken sich auf die Eltern aus und haben Einfluss auf das Erzieherverhalten der Eltern ihren Kindern gegenüber, und somit auf die kindliche Entwicklung. Andererseits können zum Beispiel Krankheiten des Kindes die Eltern schwer belasten und sich auf ihr Leistungsvermögen an ihrem Arbeitsplatz niederschlagen. Unter Exosystem versteht man also einen oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht beteiligt ist, die aber indirekt diese Person beeinflussen und umgekehrt durch diese Person beeinflusst werden. Das Makrosystem4 In der Vielzahl von Mikro-, Meso- und Exosystemen, aus der sich unsere Kultur zusammensetzt, lassen sich Bestandteile finden, die gleich oder sehr ähnlich sind. Solche gemeinsamen Bestandteile können zum Beispiel politische oder religiöse Weltanschauungen sein, die Art und Weise wie Menschen miteinander umgehen, wie Einrichtungen funktionieren usw. Solche typischen Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten innerhalb einer Kultur oder eines ihrer Teilbereiche bilden das sogenannte Makrosystem. Als Makrosystem bezeichnet man also die grundsätzlich formalen und inhaltlichen Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten, die innerhalb einer Kultur oder einer Subkultur bestehen. 65 65 70 75 80 85 90 95 100 105 66 Kapitel 13 Makrosystem = die formalen und inhaltlichen Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten in den Systemen Exosystem = Lebensbereiche, die indirekt das Individuum beeinflussen und die durch das Individuum beeinflusst werden Mesosystem = Wechselbeziehungen zwischen den Mikrosystemen, an denen sich das Individuum aktiv beteiligt Mikrosystem = der unmittelbare Lebensbereich, in welchem das Individuum lebt Chronosystem = Lebensübergang, der durch einen Wechsel eines Mikrosystems stattfindet 4. Aussagen und Begriffe des Life Models 5 10 15 20 Transaktion ist die ständige gegenseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt im Sinne von Wirkung und Rückwirkung: Das Verhalten einer Person wirkt auf die Umwelt (Situation) ein, was rückwirkend Veränderungen bei dieser Person und deren Verhalten hervorruft. Somit formen, verändern und/ oder beeinflussen sich diese Austauschprozesse im Verlauf der Zeit selbst, wodurch eine endlose Spirale wechselseitiger Beeinflussungen entsteht (vgl. Germain/Gitterman, 19993, S. 8 f.). Nische und Habitat Durch die Austauschprozesse zwischen der Person und ihrer Umwelt entsteht eine Nische. Sie kommt zustande durch das Einräumen von Handlungsmöglichkeiten. Nische ist damit das gesellschaftlich zugestandene Handlungsfeld einer Person, ihre Einflussmöglichkeit auf eine Gegebenheit. Jeder Schüler hat in seiner Klasse ein bestimmtes Handlungsfeld, das mehr oder weniger groß sein kann; er übernimmt bestimmte Aufgaben, spielt Rollen usw.; es kann sein, dass die Schule dem Schüler große Einflussmöglichkeiten einräumt, oder auch, dass der Schüler so gut wie keine Möglichkeiten besitzt, etwas zu verändern. Nische bedeutet nicht wie üblich einen Rückzugswinkel, sondern das „Wirkungsfeld einer Person“, ihr gesellschaftlich zugestandenes Handlungsfeld – also, ob ein Mensch an einem bestimmten Platz Einflussmöglichkeiten besitzt oder nicht. Damit umschreibt der Begriff „Nische“ auch das Netz sozialer Beziehungen einer Person, deren aktives Handlungsfeld (vgl. Germain/ Gitterman, 19993, S. 29). Das von der Gesellschaft zugestandene Handlungsfeld einer Person kann groß bzw. gering 25 30 35 40 Kapitel 13 45 50 sein und entsprechend diesen Tatsachen unterscheidet man zwischen einer guten oder schlechten Nische: Bei einer schlechten Nische hat das Individuum kaum die Möglichkeit, das Missverhältnis zwischen Person und Umwelt zu ändern, bei einer guten Nische besteht diese Einflussmöglichkeit. Gibt der Lehrer beispielsweise seinen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, etwa die Auswahl des Lernstoffes oder andere wichtige Entscheidungen in der Klasse diskutieren zu lassen, und bezieht er ihre Meinung bei seinen Entscheidungen mit ein, so liegt hier eine gute Nische für den Schüler vor. Hat dagegen der Schüler keinerlei Einflussmöglichkeit auf das Schulleben, auf Lerninhalte und Ähnliches, so handelt es sich um eine schlechte Nische. Für den Sozialpädagogen/-arbeiter liefern die Analyse der Nischenstruktur und die durch das Individuum oder die Gruppe vorgenommene Bewertung wichtige Hinweise für das zu planende helfende Eingreifen. Neue Nischen entstehen dann durch die Begegnung mit herausfordernden Situationen. 67 55 60 65 Nische das einer Person gesellschaftlich zugestandene Handlungsfeld, die Einflussmöglichkeiten, die ein Mensch an einem Platz hat gute Nische Der Mensch hat große Handlungs- bzw. Einflussmöglichkeiten, eine bestimmte Situation zu ändern. 70 75 80 85 Menschen „wohnen“ immer in einem bestimmten Lebensraum, der ihr Erleben und Verhalten nicht unerheblich beeinflusst. Dieser Lebensraum umfasst beispielsweise bauliche, soziale und kulturelle Gegebenheiten, die soziale Beziehungen und die Gesundheit von Individuen sowohl unterstützen als auch beeinträchtigen können. Beispiele: bauliche Gegebenheiten: Wohnhäuser, Architektur, Fabriken, dörfliche Ansiedlung, „Wohnraumverdichtung“, soziale Einrichtungen, Verkehrsverbindungen, Freizeit-, Arbeitsmöglichkeiten soziale Gegebenheiten: verhaltensbeeinflussende Personen in Familie, Arbeit, im gesellschaftlichen Leben kulturelle Einrichtungen: Bürgerhaus, Theater, Museen Dieser verhaltensbeeinflussende Lebensraum eines Menschen mit seinen baulichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten wird als Habitat bezeichnet. schlechte Nische Der Mensch hat kaum Handlungs- bzw. Einflussmöglichkeiten, eine bestimmte Situation zu ändern. Habitat ist der unmittelbare Lebensraum, der das Erleben und Verhalten eines Menschen beeinflusst. Der Sozialpädagoge/-arbeiter richtet sein Bemühen darauf, Defizite zu erkennen und zusammen mit den Bürgern ein anregendes und unterstützendes Habitat zu gestalten, was wiederum gute Voraussetzungen für Nischenbildungen bietet. Aufgaben zur Gestaltung eines Habitats können zum Beispiel Tempo 30 im Wohngebiet, Einrichtung verkehrsberuhigter Zonen, kulturelle Angebote auf dem Land und dergleichen sein. Lebensstress und coping Mensch und Umwelt sind in ihrer Beziehung keine statischen Einheiten, durch lebensverändernde Ereignisse unterliegen sie einer Dynamik. Auf diese Weise gerät der Mensch immer wieder in ein Missverhältnis zwischen Person und Umwelt, das er durch entsprechende Anpassungsprozesse bewältigen muss. 90 95 100 105 110 68 Kapitel 13 Jede Beziehung wird beispielsweise durch Spannungen, Probleme oder Konflikte in Bewegung gehalten, die immer wieder gelöst werden müssen. 115 120 125 130 Zur Beschreibung dieser Gegebenheit führen Germain/Gitterman den Begriff „Lebensstress“ ein als Ausdruck für eine Störung der Abgestimmtheit von Person und Umwelt, die im Leben immer wieder auftritt. Das Eintreten einer solchen Störung ist der life stressor bzw. der Lebensbelastungsfaktor. Lebensstress bedeutet dann den Belastungs- bzw. Spannungszustand, der durch dieses Missverhältnis zwischen Person und Umwelt ausgelöst wird (vgl. Germain/Gitterman, 19993, S. 19). Lebensstress ist ein Belastungs- und Spannungszustand, der durch eine Störung der Abgestimmtheit von Person und Umwelt ausgelöst wird. „Äußere Lebensbelastungen und interner Stress sind Ausdruck von negativen Beziehungen zwischen Person und Umwelt.“ (Germain/Gitterman, 19993, S. 13) 135 140 Beatrix Vogel spricht in ihrer Übersetzung des Buches von Germain/Gitterman (19993, S. 12 ff.) statt von „Lebensstress“ von „Lebensbelastung“, was der Bedeutung von dem, was German/Gitterman mit Lebensstress meinen, wesentlich näher kommt. Der Mensch kann sich nun der Anforderung, das Missverhältnis zwischen Person und Umwelt aufzulösen, stellen oder nicht. Entsprechend wird unterschieden zwischen einem positiven und einem negativen Lebensstress. Ein positiver Lebensstress liegt vor, wenn das Individuum eine Umweltanforderung als persönliche Herausforderung betrachtet und sich dieser stellt, weil es über die entsprechenden Ressourcen1 verfügt. Negativer Lebensstress liegt vor, wenn sich der Einzelne den Umweltanforderungen nicht stellt, weil reale oder vermutete Anforderungen die tatsächlichen oder vermuteten Fähigkeiten zur Bewältigung übersteigen oder weil er die Erwartung hat, diese nicht bewältigen zu können. Eine Klasse hat enorme Schwierigkeiten mit einem ihrer Lehrer. Ein Teil der Klasse meint, man müsse etwas unternehmen und mit ihm bzw. dem Verbindungslehrer sprechen, sich gegebenenfalls beschweren (= positiver Lebensstress). Ein anderer Teil der Klasse meint, dies habe alles keinen Sinn, man könne hier nichts machen (= negativer Lebensstress). Die persönliche Meinung darüber, in gewissem Ausmaß Kontrolle über das eigene Leben zu haben und zu glauben, für die eigenen Entscheidungen und Handlungen auch die Verantwortung übernehmen zu können, ist dafür ausschlaggebend, ob sich die Person den Herausforderungen des Lebens stellt oder nicht. Germain/Gitterman (19993, S. 24 ff.) sprechen hier von Selbststeuerung. Lebensstress ein Belastungs- und Spannungszustand, der durch eine Störung der Abgestimmtheit von Person und Umwelt ausgelöst wird positiver Lebensstress Betrachtung der Umweltanforderung als persönliche Herausforderung: Erwartung, diese bewältigen zu können 1 Dieser Begriff ist in Abschnitt 13.1.3 geklärt. negativer Lebensstress Überforderung, eine Umweltanforderung zu bewältigen: Erwartung, diese nicht bewältigen zu können 145 150 155 160 165 170 Kapitel 13 175 180 Selbststeuerung im Life Model bedeutet, in gewissem Ausmaß Kontrolle über das eigene Leben zu haben und imstande zu sein, für die eigenen Entscheidungen und Handlungen Verantwortung zu tragen unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Rechte und Bedürfnisse anderer. Alle Versuche, mit stressreichen Situationen fertig zu werden, bezeichnen die Psychologen als Bewältigung oder coping1. 185 190 Coping ist jeder Versuch, stressreiche Situationen zu bewältigen. Gelingt es einer Person, die Umweltanforderungen zu beseitigen, zu mindern oder die Situation zu meistern, so spricht man von einem positiven coping. Bleiben aber die Bewältigungsversuche erfolglos, sodass der Lebensstress weiter vorliegt oder sich sogar verstärkt, so spricht man von einem negativen coping. Somit beeinflussen sich Stress und Bewältigung wechselseitig. 195 Die Klasse, die versucht, Schwierigkeiten mit einem ihrer Lehrer zu lösen, kann nun mit ihren Lösungsversuchen Erfolg haben (= positives coping) oder erfolglos bleiben (= negatives coping). 200 Bei negativem coping können zwei Gründe für die erfolglose Bewältigung ausschlagge- bend sein: Die Person selbst, die Anstrengungen unternimmt, hat die „falschen“ Methoden gewählt oder das Individuum hat keine Einflussmöglichkeit, weil eine schlechte Nische vorliegt. Die Schüler, die Schwierigkeiten mit einem ihrer Lehrer zu lösen versuchen und mit ihren Lösungsversuchen erfolglos sind, können einmal das falsche Vorgehen gewählt haben – sie haben beispielsweise den Lehrer vor der Klasse bloßgestellt oder ihn übergangen und haben sich gleich an den Schulleiter gewandt. Es kann aber auch sein, dass sie keinen Einfluss auf den Lehrer mit ihren Lösungsversuchen haben, weil man mit ihm „nicht reden kann“, er alles abwehrt und stur bleibt. Konflikte beispielsweise bleiben deshalb oft ungelöst, weil die Konfliktpartner falsche Konfliktlösungsmöglichkeiten anwenden. Schüler schreiben oft deshalb schlechte Noten, obwohl sie fleißig gelernt haben, weil sie die falschen Lernstrategien haben. Der Unterschied zwischen negativem Lebensstress und negativem coping liegt darin, dass beim negativen Lebensstress keine Bewältigungsversuche unternommen werden, weil man sich überfordert fühlt oder die Erwartung hat, diese nicht bewältigen zu können. Beim negativen coping unternimmt man Bewältigungsversuche, kommt aber damit nicht ans Ziel. 69 205 210 215 220 225 230 coping jeder Versuch, stressreiche Situationen zu bewältigen positives coping Eine stressreiche Situation kann erfolgreich bewältigt werden. Carl B. Germain und Alex Gitterman erweiterten ihr Life Model um das Konzept des Le- 1 negatives coping Eine stressreiche Situation kann – trotz Versuchen – nicht bewältigt werden. benslaufes, auf welches an dieser Stelle nicht eingegangen wird. to cope (engl.): gewachsen sein, fertigwerden (mit), bewältigen, meistern 235 70 Kapitel 13 Das Life Model: Einwirkung / Veränderung wechselseitige Beeinflussung Mensch Umwelt Einwirkung / Veränderung Nische gute Nische große Einflussmöglichkeiten Habitat schlechte Nische geringe Einflussmöglichkeiten Transaktionen der Prozess der Veränderung von Person und Umwelt aufgrund gegenseitiger Beinflussung anpassungsfördernde Transaktionen Prozess der Übereinstimmung zwischen Person und Umwelt Folge: positives Person-Umwelt-Verhältnis anpassungsfeindliche Transaktionen Prozess des Missverhältnisses zwischen Person und Umwelt Folge: negatives Person-Umwelt-Verhältnis begünstigen eine positive Entwicklung des Menschen beeinträchtigen eine positive Entwicklung des Menschen Lebensstress Belastungs- und Spannungszustand, ausgelöst durch eine Störung der Abgestimmtheit von Person und Umwelt, die im Leben immer wieder auftritt positiver Lebensstress Umweltanforderung wird als eine persönliche Herausforderung verstanden negativer Lebensstress Individuum stellt sich nicht der Herausforderung abhängig von Selbststeuerung coping positives coping erfolgreiche Bewältigung der stressreichen Situation negatives coping erfolglose Bewältigung der stressreichen Situation Quelle: Hobmair, Band 2, 20113, S. 182–190, gekürzt und verändert Kapitel 14 71 Materialien Kapitel 14 1. Das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung und ökonomische Aspekte 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Das Lebensrecht [von Menschen mit Behinderung] wird gegenwärtig auch in Verbindung mit ökonomischen Aspekten infrage gestellt. Der gestiegene Kostendruck wird geltend gemacht. Dabei erhebt sich die Frage, ob tatsächlich im Behindertenbereich die Kosten übermäßig gestiegen sind, ob wirklich eine „Überförderung und Überbetreuung von Behinderten und Schwerstbehinderten“ vorliegt, die beendet werden müsse, wie es ein Bezirkspräsident (1992) forderte. Es ist im Übrigen nicht unmittelbar nachzuvollziehen, gerade von einer Verminderung des Kostenaufwands für Menschen mit Behinderung eine Lösung der großen Finanzierungsprobleme zu erwarten. Tatsche war und ist, wie sehr der ökonomische Faktor in der gesamten Behindertenszene bestimmend geworden ist, und wie unverhüllt die Notwendigkeit einer Kosten-NutzenPrüfung geltend gemacht wird. Es ist zu befürchten, dass dieser Druck vor allem den Bereich treffen wird, in dem der rationale Nutzen-Nachweis am wenigsten möglich ist. Allein schon die Frage, ob sich der Aufwand „lohne“, ist eine bedrohliche. Sie ist letztlich nicht eingrenzbar und könnte eine gefährliche Eigendynamik entfalten, die am Ende nicht nur die Lebensqualität und das Lebensrecht derer trifft, die am schwersten behindert sind und am wenigsten zum Bruttosozialprodukt beitragen können. Die argumentative Verbindung von Ökonomie und utilitaristischer Ethik ist nicht neu. Man denke an die „unnützen Esser“ und „Ballastexistenzen“ bei Binding und Hoche, die davon sprachen, dass deren „objektiver Lebenswert für die Gesellschaft (…) unter Null sinken könne“. Auch heute lassen sich analoge Folgerungen vernehmen. So wird in einem 1990 erschienenen Buch eines deutschen Rechtswissenschaftlers (Th. Ramm) lakonisch gefordert: „Künftige soziale Belastungen der Allgemeinheit sind gering zu halten. Daher ist sowohl der Erzeugung oder Geburt [von Kindern mit Behinderung] entgegenzuwirken als auch eine übermäßige Belastung durch die Bildungspolitik zu vermeiden. Maßstab für dieselbe ist, dass jede Ausbildung dem Bedarf entsprechen muss und andererseits der vorhandenen Begabung gerecht werden muss“ (…). Auch E. Quambusch, ein anderer deutscher Rechtswissenschaftler, macht in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung die finanziellen Grenzen jeder Gesellschaft geltend, die erreicht würden, wenn von ihr „materielle Solidarität zugunsten derjenigen abverlangt wird, die an der Erstellung des Sozialproduktes nicht nennenswert mitwirken“ (…). Schon Binding und Hoche hatten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg auf dieses Argument gesetzt: „Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr befassen“ (…). Haben wir es heute nicht auch mit einem verfließenden Wohlstand zu tun? Es wird ganz offensichtlich das Lebensrecht von der wirtschaftlichen Prosperität abhängig gemacht. Gegenwärtig kommen ökonomische Werte vor allem bei der Anwendung der Gentechnologie stärker ins Spiel. Allein in den USA gab es (…) schon vor Jahren etwa eintausenddreihundert Biotechnologiefirmen mit jährlichen Einkünften von insgesamt dreizehn Milliarden Dollar und über einhunderttausend Beschäftigten. Da das genwissenschaftliche Wissen sich alle zwei Jahre verdoppele, sei mit enorm steigenden Wachstumsraten der Pharma- und Bioindustrie zu rechnen. Universitätswissenschaft und Gentechnikfirmen seien weithin miteinander verflochten; die meisten Spitzenforscher seien nicht unbeträchtlich an der Gewinnausschüttung der Firmen beteiligt. Ein weltweiter Wettlauf um die 50 55 60 65 70 75 80 85 90 72 Kapitel 14 95 100 kommerzielle Verwertung des menschlichen Genoms habe begonnen. Was hier zugleich vor sich geht, ist ein Wandel des Lebenswertes als eines universellen und unbedingten Wertes zu einem Marktwert. Menschliches Leben wird „kommerzielles Gut“, das auf dem Markt gehandelt wird. Dient dieser wirklich und nur der Verbesserung der Lebensqualität im Sinne von mehr „Wohlstand“ – für alle? Baudrillard mahnt, man könne das Gute nicht befreien, ohne gleich auch das Böse freizusetzen. Die liberale Gesellschaft will unter dem Gesichtspunkt der Sicherung ihrer eigenen Lebensqualität selber bestimmen, wem darin Lebensrecht zukommt. Das Ja zum Leben wird von Bedingungen abhängig gemacht; die unbedingte Zugehörigkeit wird ausgehöhlt. 105 Quelle: Speck, 20086, S. 154 f. Gnadentod für Babys Ein britischer Medizinerverband hat sich für Euthanasie an schwerstbehinderten Neugeborenen ausgesprochen. In bestimmten Fällen, so lautet ein Vorschlag des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists an die Ärzteschaft, sollten Mediziner Babys aktiv töten dürfen. Damit sollen den betreffenden Familien unter anderem die emotionalen und finanziellen Konsequenzen erspart werden, die das Aufziehen eines sehr schwer behinderten Kindes zwangsläufig nach sich zöge. Die Mediziner schweigen sich darüber aus, wel- 5 10 che konkreten Behinderungen ihrer Meinung nach die Tötung rechtfertigten. Der Vorstoß hat Empörung ausgelöst bei vielen Patientenvereinigungen, aber auch Zuspruch gefunden. Aus den Niederlanden – wo Euthanasie unter bestimmten Umständen legal ist – meldete sich der Mediziner Pieter Sauer zu Wort. Nach seinen Angaben ist der Gnadentod auf der Neugeborenenstation auch in Großbritannien längst nicht mehr so selten. Es sei an der Zeit, dass darüber in der Gesellschaft offen gesprochen werde. 15 20 Quelle: DER SPIEGEL, Nr. 46/2006, S. 167 2. Der Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderung 5 10 15 Tröster nennt eine Reihe von verhaltensrelevanten Aspekten, die mit der Art der Behinderung verknüpft sind: • die Behinderung kann zunächst verborgen und bei längerem und intensivem Kontakt kontrolliert offenbart werden. 1. Die Auffälligkeit der Behinderung: Hier handelt es sich um eine bedeutsame Variable1, die mehr meint als die bloße Sichtbarkeit. Die Stufen können unterschieden werden: • Die Behinderung ist bereits vor der Kontaktaufnahme sichtbar, dann erfolgt oft prophylaktische Interaktionsvermeidung2; • die Behinderung drängt sich erst beim Kontakt überraschend auf, zum Beispiel bei Hör- und Sprachbehinderungen; 2. Die ästhetische Beeinträchtigung: Sie ist meist wichtiger als die funktionale Beeinträchtigung, da sie ein möglicher Auslöser für heftige affektive Reaktionen sein kann. Ästhetische Attraktivität erleichtert generell soziale Kontakte. 1 2 3. Die funktionale Beeinträchtigung kommunikativer Fähigkeiten: Solche Menschen mit Behinderung belasten Kontakt und Interaktion immer, unabhängig von der Einstellung des Menschen ohne Behinderung. Variable (lat., variare: verändern, verschieden sein): veränderliche Größe prophylaktikós (griech.): vorbeugend; der Begriff „soziale Interaktion“ ist in Kapitel 4.1.2 geklärt. 20 25 Kapitel 14 30 35 40 45 50 55 4. Die zugeschriebene Verantwortlichkeit: Bei angenommener Schuld des Behinderten für seinen Zustand wird die Interaktion erheblich erschwert, weil eine Ablehnung bis hin zu Bestrafungen leichter zu rechtfertigen ist. Diese Variable ist unabhängig von der Auffälligkeit. Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung können aus verschiedenen Gründen besonders belastet sein. Aus der Sicht der Menschen mit Behinderung sind es typische Reaktionsformen wie − − − − Anstarren und Ansprechen, diskriminierende Äußerungen, Witze, Spott und Hänseleien (Ärgern), Aggressivität bzw. Vernichtungstendenzen. Hier handelt es sich um ursprüngliche (…) Reaktionen bzw. um Formen von Triebabfuhr, die Distanz schaffen sollen. Aber auch solche Reaktionsformen, die auf den ersten Blick „positiv“ erscheinen, dienen letzten Endes fast immer der Abgrenzung, so etwa − − − − Äußerungen von Mitleid, aufgedrängte Hilfe, unpersönliche Hilfe (Spenden), Schein-Akzeptierung. Festzuhalten bleibt, dass echtes Engagement für Menschen mit Behinderung ohne implizi- te1 Abwertung, Entlohnung oder Dankbarkeitserwartung vergleichsweise selten vorkommt. Auch freundliches Verhalten mit Sympathiebekundungen wird sehr oft als „ScheinAkzeptanz“ interpretiert und erhöht dann noch die Ambivalenz. (…) Eine wichtige Rolle im kulturhistorisch geprägten Verhältnis zu Menschen mit Behinderung hat immer die Frage nach der Zurechnung von Schuld für den unerwünschten Zustand gespielt. Das liegt an der Neigung von Menschen, für alles im Leben eine Erklärung, einen Grund zu finden. Zurechnung von Schuld seitens der Menschen ohne Behinderung lässt sich mit der Entlastung von eigenen Schuldgefühlen und Ängsten erklären. Die Projektion der eigenen Schuld auf den Menschen mit Handicap unter Rückgriff auf soziale Vorurteile hat Selbstschutzfunktion. Darüber hinaus dient dieser Mechanismus der Legitimation künftiger Aufgaben negativer Tendenzen: Wer selbst Schuld hat, braucht schließlich keine besondere Rücksichtnahme zu erwarten. Die Beziehung zwischen Schuldgefühlen und negativen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung ist eine wechselseitige. Die Stabilisierung über Ablehnung ist allerdings nur vorübergehend; sie erzeugt gleichzeitig neue Schuldgefühle und Schuldangst und führt so zu einem verhängnisvollen Kreislauf. 73 60 65 70 75 80 85 Quelle: Cloerkes, 2001, S. 196 f. 3. Menschen mit einer Behinderung in Deutschland 5 10 Ende 2007 waren 6,9 Millionen Deutsche als schwerbehindert anerkannt. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 8,4 Prozent. Damit ist jeder zwölfte Einwohner Deutschlands schwerbehindert. Knapp 52 Prozent der Menschen mit einer Schwerbehinderung sind Männer. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf: 28,4 Prozent der Betroffenen sind 75 Jahre und älter und 46,3 Prozent gehören der Altersgruppe zwischen 55 und 75 1 Jahren an. Nur 4 Prozent der Menschen mit einer Schwerbehinderung sind Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren. Ursache der Behinderung ist in 82,3 Prozent der Fälle eine Krankheit, in 4,4 Prozent angeboren oder im ersten Lebensjahr aufgetreten, 2,2 Prozent der Menschen wurden durch einen Unfall oder eine Berufskrankheit schwerbehindert. In zwei von drei Fällen (64,3 Prozent) handelt es sich um körperliche Behinderungen. Bei implicitum (lat.): mit enthaltend, mit inbegriffen, ohne ausdrücklich zu sagen 15 20 Kapitel 14 65 und mehr 55–65 ■ Frauen ■ Männer 45–55 25–45 60,0 unter 25 50,0 5,0 % ■ Körperbehinderung ■ Sehbehinderung und Blindheit ■ Sprachbehinderung, Schwerhörigkeit und Taubheit ■ Lernbehinderung und geistige 64,3 % Behinderung 40,0 3,8 % 30,0 9,9 % Altersverteilung bei Menschen mit Behinderung 20,0 Verteilung der Arten von Behinderung 35 (vgl. Statistisches Bundesamt, 2009, S. 5) 10,0 30 Sprachstörungen. Auf geistige Behinderungen entfallen 9,9 Prozent der Fälle, auf zerebrale Störungen 9 Prozent. Bei den übrigen 16,8 Prozent ist die Art der Behinderung nicht ausgewiesen. 0,0 25 jedem Vierten (25,3 Prozent) sind innere Organe oder Organsysteme betroffen. Bei 13,8 Prozent sind Arme und Beine in ihrer Funktion eingeschränkt, bei weiteren 12,6 Prozent Wirbelsäule und Rumpf. Die Blinden und Menschen mit einer Sehbehinderung machen 5 Prozent der Fälle aus. 3,8 Prozent leiden unter Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- oder Alter 74 Bei knapp 17 Prozent ist die Art der Behinderung nicht ausgewiesen. Quelle der Zahlen: Statistisches Bundesamt, 2009, S. 5 4. Stigmatisierung und ihre Folgen a) Funktionen und Folgen von Stigmatisierung Welche Funktionen haben Stigmata? 5 10 15 20 1. Funktionen auf der Mikroebene (Individuum): – Orientierungsfunktion: Vorausstrukturierung sozialer Situationen, dadurch Verringerung von Unsicherheit – Entlastungsfunktion durch selektive und verzerrte Wahrnehmung sowie durch Projektion verdrängter Triebansprüche (Aggressionen) auf „Sündenböcke“ – Identitätsstrategie: Wiederherstellung des gefährdeten seelischen Gleichgewichts durch betonte Abgrenzung gegenüber der Andersartigkeit 2. Funktionen auf der Makroebene (Gesellschaft): – Systemstabilisierung durch Regelung des Umgangs zwischen gesellschaftlichen Gruppen und des Zugangs zu knap- pen Gütern wie Status, Berufschancen usw. – Kanalisierung von Aggressionen auf schwache „Sündenböcke“ – Verstärkung der Nonkonformität des Nicht-Stigmatisierten: Ohne Stigmatisierte wäre es kein Vorteil, „normal“ zu sein. Unterdrückung – Herrschaftsfunktion: und Ausschluss von konkurrierenden Gruppen Ganz offenkundig haben Stigmata also sehr wichtige Funktionen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Diese Interessenkongruenz sorgt dafür, dass Stigmatisierungsprozesse allgegenwärtig und außerordentlich schwer reduzierbar sind. So gesehen sind alle prinzipiell „Diskreditierbare“ und stehen ständig in der Gefahr, erfolgreich stigmatisiert zu werden. (…) Welche Folgen haben Stigmatisierungen? Sie sind für Betroffene tief greifend und außerordentlich schwer rückgängig zu machen: 25 30 35 40 Kapitel 14 − Auf der Ebene gesellschaftlicher Teilhabe droht Diskriminierung durch formellen 45 oder informellen Verlust von bisher ausgeübten Rollen, es kommt zu Kontaktverlust, zu Isolation und Ausgliederung. − Auf der Ebene der Interaktionen1 orientiert sich alles am Stigma, die Person und 50 ihre Biografie wird in diesem Sinne umdefiniert. Die Interaktionen sind durch Spannungen, Unsicherheit und Angst erschwert. − Auf der Ebene der Identität drohen daher erhebliche Gefährdungen und Probleme. 55 Quelle: Cloerkes, 20073, S. 170 f. 60 65 70 75 80 85 b) Gewalt hat viele Gesichter „Schläge gegen Behinderte, Terror gegen Behinderte“; „Sechs Verletzte bei Brand in Behindertenwohnheim“; „Behinderte sexuell missbraucht“; „Das Essen gestrichen und in den Kerker gesteckt“ – solche Zeitungsüberschriften sind schon fast alltäglich geworden. Noch alltäglicher, aber auch diskriminierend sind die vielfältigen Formen der strukturellen Gewalt, die in Gesetze oder Verordnungen geronnen sind oder sich einfach in einer Unterlassung äußern. Hier einige Beispiele (Arnade, 1997, S. 29 f.): − „Als eine rollstuhlfahrende Frau mit dem Zug von Köln nach Hannover fahren will, fehlt beim Intercity der Wagen mit der Behindertentoilette. Der Schaffner zuckt die Achseln. Die Frau schafft es, bis Hannover auszuhalten. Da es dort im Bahnhof aber nur eine Behindertentoilette für extrem schmale Rollstühle gibt, sitzt sie schließlich doch im Nassen. − Ein Paar mit geistiger Behinderung, das in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet und in einem Wohnheim lebt, will heiraten. Der Standesbeamte lehnt dies ab. − Eine Frau mit Behinderung bucht über Neckermann-Reisen einen 14-tägigen Urlaub an der Nordsee. Als sie anreist, lässt man sie nicht ins Hotel mit der Begründung, man wolle keine Behinderten. − Eine Gruppe junger Leute mit körperlichen und geistigen Behinderungen will in eine 1 − − − − − Disco in einem esoterischen Zentrum in Berlin. Dort kann man auf Auslegeware barfuss tanzen. Die Gruppe wird nicht hereingelassen. Begründung: Die Rollstuhlreifen sind unhygienisch, und so viele Behinderte verbreiten ‚bad vibrations‘. Ein Ehepaar mit Körperbehinderung will an einem Nachmittag im Hochsommer seinen Sohn ins Freibad begleiten. Sie werden nicht hereingelassen: ‚Behindertenschwimmen ist morgens von 10:00 bis 12:00 Uhr‘, heißt es. Eine allein erziehende Mutter mit Behinderung bekam vom Sozialamt für ihr Auto eine Betriebsmittelpauschale von 41,93 EUR monatlich. Sie braucht das Auto, um ihr Kind täglich zum Kindergarten zu bringen. Das Geld wird ihr gestrichen, als sie die Berechtigung erhält, den örtlichen Fahrdienst zu benutzen. Dieser kann aber nicht ihre Bedürfnisse abdecken. Als sie sich an den zuständigen Behindertenbeauftragten wendet, bekommt sie zu hören: ‚Das hätten sie sich überlegen sollen, ehe Sie sich ein Kind anschafften.‘ (...) Eine Rollstuhlfahrerin möchte sich den Film ‚Das Leben ist eine Baustelle‘ ansehen. Im Kino ist aus ‚versicherungsrechtlichen Gründen‘ niemand bereit, ihr über wenige Stufen ins Souterrain zu helfen. Eine Weile kämpft sie, dann verlässt sie frustriert das Kino. ‚Das war sehr entwürdigend‘, sagt sie. Ein blinder Mann steigt mit seinem Führhund in einen Doppeldeckerbus. Da unten alle Plätze besetzt sind, er aber erschöpft ist und sich setzen will, geht er nach oben. Der Busfahrer ruft ihn zurück: ‚Hunde dürfen nicht nach oben.‘ An der nächsten Haltestelle verlässt der Mann den Bus.“ „Im Videoportal von Google Italien wurde 2006 ein Amateurfilm über die Misshandlung eines Menschen mit Behinderung veröffentlicht. Das Handyvideo zeigte, wie Schüler einen am Downsyndrom erkrankten Mitschüler brutal misshandelten und schlugen. Der Film wurde auf Google Video unter der Rubrik ‚Die lustigsten Filme‘ veröffentlicht.“ (dpa-Meldung, in: Donaukurier Nr. 46, 25.02.2010, S. 6) Statt „Interaktionen“ müsste es genauer „soziale Interaktionen“ heißen. Dieser Begriff ist in Kapitel 4.1.2 geklärt. 75 90 95 100 105 110 115 120 125 130 135 76 Kapitel 14 Schwerbehinderter Sohn zu laut: Vermieter setzt Räumung durch 5 10 Itzehoe (dpa) Die Eltern eines schwerbehinderten Buben aus Glückstadt müssen wegen der Lautstärke des Sohnes ihre Mietwohnung räumen. Das ergab gestern ein Vergleich der Eltern mit dem Hausbesitzer vor dem Landgericht Itzehoe. Die Mieter haben nun drei Monate Zeit, die Wohnung zu räumen; der Vermieter verzichtet im Gegenzug auf Schadensersatzansprüche. Vor der Berufungsverhandlung hatte bereits am 25. Januar das Amtsgericht Itzehoe die 55 und 51 Jahre alten Eltern zur Räumung verurteilt. Nachbarn in dem Vierfamilienhaus hatten sich unter anderen vom nächtlichen Schreien, Weinen und Klopfen des 13-Jährigen gestört gefühlt. Der Bub ist seit seiner Geburt schwerbehindert und auf ständige Hilfe angewiesen. Das Amtsgericht hatte das Mietverhältnis auf Klage des Hausbesitzers trotz der „menschlich schwierigen Situation“ der Familie ausgelöst. Die Richterin vor dem Landgericht hob gestern den besonderen Schutz von Behinderten durch das Grundgesetz auf. „Grenzenlos ist die geforderte Toleranz aber nicht“, meinte die Richterin. Sollten beide Seiten den Vergleich widerrufen, werde am 15. August ein Urteil ergehen. Quelle: Donaukurier Nr. 166, 20./21.07.2002 15 20 25 Kapitel 15 77 Materialien Kapitel 15 1. Da hilft nur der Keuschheitsgürtel Zwei Jahrhunderte lang beschwor die Medizin das Grauen der Selbstbefriedigung (Masturbation, oft auch – fälschlicherweise – Onanie genannt). 5 10 15 20 25 30 35 1710 erschien in England das anonym verfasste Pamphlet Onanie oder die abscheuliche Sünde der Selbstbefleckung und alle ihre schrecklichen Folgen für beide Geschlechter, betrachtet mit Ratschlägen für Körper und Geist. Es stammt vermutlich von einem ehemaligen Pfarrer namens Bekker, der sich zu dieser Zeit mit Quacksalberei und Wunderheilungen sein Geld verdiente. Vor allem wegen der enormen Verbreitung und Popularisierung dieser in verschiedenen Sprachen übersetzten Schrift wurde die Masturbation alsbald überall in Europa heiß diskutiert und angeprangert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich die Mediziner mit den unterstellten gesundheitsschädigenden Folgen der Selbstbefriedigung auseinandersetzen mussten. 1758 war es so weit. Unter dem Titel Onanismus – oder eine Abhandlung über Krankheiten, die durch Masturbation entstehen veröffentlichte ein angesehener Schweizer Arzt namens Samuel Auguste Tissot ein Buch mit spektakulärem Erfolg. Nach Tissots Auffassung war die Onanie nicht nur eine Sünde oder ein Verbrechen. Viel gefährlicher sei, dass sie schreckliche Krankheiten wie Schwindsucht, Minderung der Sehkraft, Störungen der Verdauung, Impotenz und Wahnsinn verursachen könne. Binnen weniger Jahre wurde Tissot als Autorität auf diesem Gebiet anerkannt und als Wohltäter der Menschheit gelobt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen Ärzte der gesamten westlichen Welt, die Wurzeln fast aller körperlichen und seelischen Erkrankungen in der Masturbation zu sehen. 1867 fügte Henry Maudsley, der größte britische Psychiater und Gerichtsmediziner seiner Zeit, noch hinzu, dass der „Masturbationswahnsinn“ durch eine besondere „Perversion der Gefühle“ charakterisierbar sei, die in frühen Stadien zu einer entsprechenden Verwirrung des Geistes führe. Später, wenn der Selbstbefriedigung kein Einhalt geboten würde, seien ein Versagen der Intelligenz, nächtliche Halluzinationen, mörderische und selbstmörderische Neigungen beobachtbar. Fürderhin galt die Masturbation im fortgeschrittenen Stadium als unheilbar. Die einzige Kunst der Medizin bestand in dem Versuch, das Leid zu verhüten oder früh zu entdecken. Eltern wurden angewiesen, ihren Kindern die Hände am Bett festzubinden oder ihnen Fausthandschuhe überzuziehen. Bandagen und „Keuschheitsgürtel“ sollten das Berühren der Geschlechtsorgane verhindern. Und wenn alles nichts half, wurden chirurgische Eingriffe empfohlen, wie zum Beispiel das Einsetzen eines Metallrings zur Verhinderung der Erektion (Infibulation) oder das Herausschneiden der Klitoris. Gelegentlich wurde versucht, die Geschlechtsorgane mittels Durchtrennung oder Verätzung von Nerven gefühllos zu machen. Erst beginnend mit der Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass sich die starre Haltung gegenüber der Masturbation lockerte. Es sollte jedoch noch bis zur Mitte des Jahrhunderts dauern, bis sich allgemein durchsetzte, dass Masturbation keinerlei körperlichen oder geistigen Schaden verursacht. 40 45 50 55 60 65 70 75 Quelle: Fiedler, 2007, S. 57 2. Erziehung zur Liebesfähigkeit Ihr dürfen nur begründbare Wertsetzung zu Grunde liegen, die von der Würde des Menschen, der Gleichwertigkeit aller Menschen, aber auch ihrem Recht, die eigenen Grundbedürfnisse leben zu dürfen, solange andere nicht geschädigt werden, abgeleitet sind (…). 5 78 Kapitel 15 10 15 Aus dieser einen Wertvorstellung leiten sich andere ab, wie zum Beispiel die Forderung nach einem Verhalten, das andere nicht mutwillig enttäuschenden Erfahrungen aussetzt (Comfort) oder auch jene Selbstverständlichkeiten, nach der niemand durch sein Verhalten die Gesundheit anderer gefährden oder die Zeugung unerwünschten Lebens riskieren darf. Auf solchen Wertschätzungen muss die Erziehung, hier die Liebeserziehung, aufbauen. Erstens gehört dazu eine nach Lust strebende Körperfunktion, die keineswegs auf die Genitalien beschränkt ist, also das, was wir im allgemeinen Sprachgebrauch meistens als Sexualität bezeichnen. 1. Man muss wissen, ob man liebt, man muss also ein Beziehung einschätzen können. Das ist das, wovon ich immer meine, man sollte in der Verliebtheit nicht den Kopf insoweit verlieren, dass man sich nicht mehr über die Qualität einer Beziehung klar werden kann, insbesondere auch über das, was man selbst empfindet, beobachtet, weiß und will. Man sollte also gelernt haben abzuschätzen, was mit einem selbst los ist. Zweitens eine emotionale Bindung an einen anderen Menschen. Dieses starke und sicher nicht analysierbare Hingezogensein hat eine große Bedeutung für das Entstehen einer umfassenden Liebesbeziehung (…). 2. Man sollte wissen, ob man geliebt wird, beziehungsweise gelernt haben, das einzuschätzen. Auch das ist nicht eine Befähigung Erwachsener, sondern muss vom Kindesalter an gelernt und geübt werden (…). Drittens verlangt eine dauerhafte Beziehung jedoch nach mehr. Das, was Beziehungen heute zusammenhält, hat sehr viel mit Vernunft, mit Verstand zu tun. Für mich gehört zur Liebe sehr viel Rationalität (…). Beides zusammen macht einen Menschen dann fähig, die Qualität einer Beziehung einzuschätzen. Auch das wird geübt werden müssen. Nur wenn wir viele Menschen kennengelernt und uns in manche verliebt haben, können wir vergleichend feststellen, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen, welche Interessen und Haltungen uns an Menschen besser zusagen als andere. Aus solchen Vergleichen ergibt sich die Fähigkeit, die Menschen zu erkennen, die wir dauerhaft lieben könnten. Der Liebeserziehung liegt ein „Liebesbegriff“ zu Grunde: Was also ist Liebe? (…) 20 25 30 35 40 zu stehen, auch wenn es schwer wird, und die Sicherheit, dass der/die andere sich ebenso entschieden hat. Das ist zwar noch keine Bestandsgarantie, es ist aber eigentlich die Voraussetzung für Bestand. (…) Das Ziel der Liebeserziehung will ich nun abrunden. Denn zweifellos muss zweierlei zusammenkommen, um liebesfähig zu sein: Viertens, wenn ich von Liebe spreche, muss jedoch noch etwas hinzukommen. Liebe ist nämlich von Entscheidungsfähigkeit und -willigkeit gekennzeichnet. Ohne die bewusste Entscheidung für einen anderen Mensch wird in meinen Augen eine Beziehung im Grunde sinnlos, die Entscheidung also, mit einem anderen Menschen zusammenzubleiben, zu ihm 45 50 55 60 65 70 75 Quelle: Furian, 1994, S. 66 ff., stark gekürzt 3. Was kann ich tun, wenn ich sexuellen Missbrauch vermute? 1. Ruhe bewahren, überhastetes Eingreifen schadet nur! 5 2. Kollegin oder andere Vertrauensperson suchen, mit der man über die eigenen Unsicherheiten und Gefühle sprechen kann. 3. Den Kontakt zum Mädchen/Jungen vorsichtig intensivieren, um eine positive Beziehung herzustellen. 4. Das Kind immer wieder ermutigen, über Probleme und Gefühle zu sprechen. 10 Kapitel 15 15 20 25 30 5. In der Gruppe das Thema „Gute und schlechte Geheimnisse“ erarbeiten. Gute Geheimnisse machen Spaß; alle Geheimnisse, die schlechte, komische oder schreckliche Gefühle machen, sind schlechte Geheimnisse. Über sie darf (muss) man sprechen! 6. In der Gruppe das Thema „Angenehme und unangenehme Berührungen“ ansprechen. 7. In der Gruppe (im Spiel, innerhalb der Sexualaufklärung, im Sportunterricht) das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Thema „Sexueller Missbrauch“ vorsichtig ansprechen und damit signalisieren: „Ich weiß, dass es sexuellen Missbrauch gibt … Mit mir kannst du darüber reden … Ich glaube betroffenen Mädchen und Jungen.“ 8. Wenn möglich, eine Mitarbeiterin einer Selbsthilfeinitiative oder einer Beratungsstelle hinzuziehen, um mehr Sicherheit zu gewinnen. 9. Hinweise auf den sexuellen Missbrauch aufschreiben (Tagebuch über Verhaltensweisen des Mädchens/Jungen führen). 10. Wenn möglich, Kontakt zur Mutter/Bezugsperson intensivieren, um Belastbarkeit der Mutter/Bezugsperson besser einschätzen zu können (z. B. Zusammenarbeit bei der Vorbereitung von Kindergartenfesten, Gespräche am Elternsprechtag). 79 35 40 11. Kontakt zum Jugendamt aufnehmen (ggf. ohne Namensnennung). 12. HelferInnenkonferenz anstreben, damit alle, die die Familie kennen, gemeinsam eine Strategie absprechen. 13. Niemals eine Familie mit dem Missbrauch konfrontieren, ehe eine räumliche Trennung von Opfer und Täter vorbereitet und möglich ist. 45 50 14. Eine eventuelle Anzeige mit einer Anwältin zuvor durchsprechen und gut vorbereiten. Niemand ist zur Anzeige verpflichtet! Quelle: Enders, 1990, S. 69 f. 4. Erkrankung an Aids 5 10 a) Aidsinfizierte Rund 70 000 Menschen in Deutschland leben mit HIV oder Aids, darunter etwa 57 000 Männer. Diese Schätzwerte veröffentlichte das Robert-Koch-Institut im November 2010. Demnach infizierten sich 2010 rund 3 000 Menschen neu mit HIV, ähnlich viele wie in den Vorjahren. Insgesamt leben heute in Deutschland etwa doppelt so viele HIV-Infizierte wie in den frühen 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Das liegt größtenteils daran, dass wegen verbesserter Behandlungsmöglichkeiten immer weniger Menschen an den Folgen von HIV sterben. (vgl. test 01/2011, S. 87) 15 b) Der Krankheitsverlauf Der Krankheitsverlauf von Aids unterscheidet vereinfacht vier Stationen: − Erste Anzeichen für eine Infektion ähneln den Anzeichen einer Grippe. Es treten Fieber, Magen-Darm-Probleme, gelegentliche Kopfschmerzen und Nachtschweiß über einen Zeitraum von 2–3 Wochen auf. − Nun folgt eine Latenzperiode, in der der Infizierte über einen Zeitraum von Monaten bis Jahre klinisch gesund ist, also keine Beschwerden über das HIV hat. − Im nächsten Stadium entwickeln sich Krankheitssymptome, die als Vorstufe oder abgeschwächte Form von Aids gelten. Lymphknotenschwellungen an mehreren Körperstellen außerhalb der Leistengegend treten über mehrere Monate auf. Gewichtsverlust durch Durchfälle sowie Fieber und eine zunehmende Störung des Immunsystems kommen hinzu. − Das Vollbild von Aids ist gekennzeichnet durch das Auftreten von Infektionen und 20 25 30 35 80 Kapitel 15 40 45 50 55 60 Tumoren, deren Erreger Personen mit gesundem Immunsystem leicht abwehren können. Es kommt zu Lungenentzündungen, Pilzbefall in der Lunge, der Luft- und Speiseröhre, Geschwürbildung an Mund und Mundschleimhaut. Die Krankheit erfasst zunehmend das Gehirn und führt zu einem wachsenden Verlust geistiger Fähigkeiten, einhergehend mit motorischen Störungen des Bewegungsapparates. Man spricht vom „Aids-Demenz-Komplex“, der durch ein weiteres Krankheitsbild, der „HIV-Schwindsucht“ ergänzt wird. Lange anhaltendes Fieber, chronischer Durchfall und Schwäche, einhergehend mit starkem Gewichstverlust, kennzeichnen dieses Endstadium von Aids. Nur etwa 5 % aller Patienten überleben dieses Stadium länger als etwa 3 Jahre, nach 5 Jahren sind bereits 98 % gestorben. Einen Impfstoff gegen Aids oder Mittel, die die Krankheit heilen, gibt es bis heute nicht. Es ist genau zu unterscheiden zwischen Personen, die sich mit HIV infiziert haben und daher als HIV-positiv bezeichnet werden, und solchen, bei denen aufgrund der Infektion die Krankheit Aids bereits ausgebrochen ist. Bei HIV-positiven Personen ist das Immunsystem zunächst noch weitgehend funktionsfähig. Die Betroffenen fühlen sich gesund. Bei an Aids erkrankten Menschen ist dagegen das Immunsystem durch HIV zerstört, und sie sind relativ harmlosen Krankheitserregern schutzlos ausgeliefert. Mit einem HIV-Antikörpertest, im Volksmund als Aidstest bezeichnet, lassen sich Antikörper, die der Organismus gegen die eingedrungenen Viren gebildet hat, nachweisen. Zwischen dem Zeitpunkt der Ansteckung und dem Test müssen jedoch in der Regel 4 bis 6 Wochen liegen. Davor lassen sich keine Antikörper feststellen. In ganz seltenen Ausnahmefällen kann es auch mehrere Monate dauern, bis der Köper mit Antikörper auf das Virus reagiert hat. Ein positives Antikörperresultat bedeutet, mit Ausnahme von Neugeborenen, dagegen einen sicheren Hinweis auf eine HIV-Infektion. Quelle: Sielert, 19932, S. 93 f. 65 70 75 80 85 Kapitel 16 81 Materialien Kapitel 16 1. Reformpädagogische Schulkonzepte Die Sudbury-Schulen 5 10 15 20 25 Sehr große Ähnlichkeit mit dem Neill’schen Konzept der antiautoritären Erziehung haben die Sudbury-Schulen, die allmählich im deutschen Sprachraum entstehen. Seit 2007 gibt es die Neue Schule Hamburg, die sich auf die Sudbury Valley School (Framingham, Massachusetts/USA) beruft und auf die Popsängerin Nena zurückgeht. Zentraler Bestandteil der Sudbury-Schulen ist, dass jeder Schüler über seine Zeit frei verfügen kann. Er kann selbst entscheiden, was, wann, wie und mit wem er lernt. Einen Lehrplan gibt es nicht. Die meiste Zeit lernen die Kinder durch Spiel, Unterhaltung, Lesen oder durch das Zuschauen. Unterrichtskurse werden erst abgehalten, wenn Schüler dies wollen. Die Schüler werden nicht nach ihrem Alter getrennt. Grundsätze der Verwaltung und die Einstellung von Mitarbeitern werden von der Schulversammlung bestimmt, die sich einmal in der Woche trifft und in der jeder Mitarbeiter und jeder Schüler eine Stimme hat. Werden Schulregeln verletzt oder liegt eine Beschwerde vor, so ist hierfür das mehrheitlich von Schülern besetzte Justizkomitee zuständig. Die Arbeitsschule 30 35 Die Arbeitsschule zur Bildung breiter Bevölkerungsschichten geht auf Georg Kerschensteiner1 zurück und will dem Schüler die Lerninhalte durch manuelle Selbsttätigkeit vermitteln. Heute spielt sie keine Rolle mehr, Elemente der Arbeitsschule finden sich aber im handlungsorientierten Unterricht wieder. Entsprechend wird mit Arbeitsunterricht ein Unterricht verstanden, der sich durch eigenstän- 1 2 3 4 diges Umgehen der Schüler mit gegebenen oder selbst ausgewählten Materialien und selbstständiges Finden von Ergebnissen auszeichnet. 40 Die Einheitsschule Die Einheitsschule entstand aus den Forderungen der Bildungseinrichtung für alle Menschen und der Erziehung ohne Trennung der Geschlechter (Koedukation) und der Konfessionen. Heute ist sie eine Form der Gesamtschule, in der das System der beweglichen Leistungsgruppen mindestens bis zur 9. Jahrgangsstufe etabliert ist.2 Der Jenaplan Der Jenaplan stammt von Peter Petersen3 und enthält eine Form schulischen Lernens, welche die Nachteile der herkömmlichen Schule überwinden will: Auflösung der Jahresklassen zugunsten von Gruppen, die drei Jahrgangsstufen umfassen sowie Absteckung der Lerninhalte durch einen Wochenarbeitsplan (kein nach Fächern geordneter Stundenplan). Gruppenbezogenes Lernen, Gespräch, Arbeit, Spiel und Feiern nehmen einen hohen Stellenwert im Unterricht ein. Zudem werden über die Lernvorgänge im Schuljahr Berichte statt Zeugnisse angefertigt. Schulen, die den Jenaplan verwirklichen, werden Jenaplan-Schulen genannt. 45 50 55 60 65 Die Daltonplan-Schulen Daltonplan-Schulen gehen auf den Daltonplan – genauer: Dalton Laboratory Plan – von Helen Parkhurst4 zurück, der ein möglichst hohes Maß an Individualisierung und Diffe- 70 Georg Kerschensteiner (1854–1932), Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war von 1895 bis 1919 Stadtschulrat in München. vgl. Kapitel 12.3.3 Peter Petersen (1884–1952) war Professor an der Universität Jena. Helen Parkhurst (1887–1973) machte als Lehrkraft an einer Landschule in Waterville (USA) die ersten „Experimente“ für die späteren Daltonplan-Schulen („Waterville-Experiment“). Später wurde sie Direktorin der grundschuldidaktischen Abteilung am „Central Teachers College“ in Wisconsin (USA). 1920 erfolgt die Umsetzung ihrer Ideen – ihres Planes – an der Public High School Dalton (deshalb Daltonplan). 82 Kapitel 16 75 80 renzierung im Unterricht fordert. Die Jahrgangsklassen werden durch Fach- und Arbeitsgruppen ersetzt, um sich an den Neigungen, Interessen und Fähigkeiten des Schülers zu orientieren. Der Schüler kann unter verschiedenen Angeboten und Unterrichtsmaterialien unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades auswählen sowie Zeitvorgaben, Form der Zusammenarbeit und der Leistungskontrolle selbst bestimmen (freedom). Zudem wird die Zusammenarbeit der Schüler sehr betont (co- operation). Und letztlich spielt das Erlernen der selbstständigen Planung und Organisation des Lernens eine große Rolle (budgeting time). Die erste Daltonplan-Schule im deutschsprachigen Raum war die Steyrer Handelsschule, in der unter der Leitung von Helga Wittwers und Georg Neuhausers der Daltonplan umgesetzt wurde. 85 2. Das didaktische Material 5 10 15 20 25 Das kleine Kind hat das intensive Bedürfnis nach tätigen Sinneseindrücken. Wir bieten dem Kind Gegenstände dar, die ihm die Möglichkeit geben, viel klarer und viel leichter zu einer Befriedigung dieses Bedürfnisses zu kommen. Wir wissen, dass das Kind mit allen seinen Sinnesorganen die Umgebung erforscht und die Bilder mit Auswahl in sich aufnimmt und ordnet. Da wir aber auch wissen, dass die zu komplizierte Umgebung, die viele und ungeordnete Reize bringt, dem Kind die geistige Arbeit erschwert, kommen wir ihm zu Hilfe, indem wir ihm Bilder darbieten, die geordnet sind und ihm bei der Ordnung helfen. Wir lehren das Kind, indem wir ihm einen Führer geben, der mit seinen instinktiven Bedürfnissen übereinstimmt und der ihm ein Gefühl der Freude gibt, weil er ihm zu befriedigender Arbeit verhilft. Wir bieten dem Kind mit dem Material geordnete Reize an und lehren also nicht direkt, wie man es sonst mit kleinen Kindern zu tun pflegt, sondern vielmehr durch eine Ordnung, die im Material liegt und die das Kind sich selbstständig erarbeiten kann. Wir müssen alles in der Umgebung, also auch alle Gegenstände, so weit für das Kind vorbereiten, dass es jede Tätigkeit selbst ausführen kann. Wir werden oft damit angegriffen, dass Pädagogen und Psychologen behaupten, unser Material sei darum nutzlos für ein Kind, weil es naturentgegengesetzt sei. Dem Kind müsse alles so natürlich angeboten werden, wie es sich in der Umwelt finde, und wenn man eine Farbe gäbe, so dürfe man die Aufmerksamkeit nicht auf die Farbe selber lenken, weil es ja immer ein Gegenstand sei, dem diese Farbe eigen sei. Farbe und Gegenstand gehörten zusammen, und das Kind müsse die Farbe als eine der vielen Eigenschaften dieses einen Gegenstandes betrachten. Unser Material soll kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht allein die Kenntnis der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein Rüstzeug, die ganze Welt und ihre Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und ist nicht mit der Welt selbst zu verwechseln. 30 35 40 45 Quelle: Montessori, 2009 3. Kritische Würdigung der Montessori-Pädagogik 5 Montessori-Einrichtungen haben in den vergangenen Jahrzehnten ein verstärktes Interesse erfahren. Dies liegt unter anderem daran, dass dieser Ansatz sowohl in seinen theoretischen Grundlagen als auch im praktischen erzieherischen Handeln eine akzeptable Alter- native zur herkömmlichen Pädagogik darstellt. Montessori betonte von Anfang an eine „Pädagogik vom Kinde aus“, in der die zu Erziehenden im Mittelpunkt aller Überlegungen und allen pädagogischen Arbeitens stehen. 10 Kapitel 16 15 20 25 30 Dabei scheint die Montessori-Pädagogik ein ideales Erziehungskonzept in unserer rationalen, den mündigen Bürger fordernden Lebens- und Arbeitswelt zu sein, da sie einen deutlichen Schwerpunkt auf die Förderung kindlicher Selbstständigkeit legt. Sie schafft konsequent eine vorbereitete Umgebung, in der die Übungen des praktischen Lebens und didaktische Materialien dem kindlichen Streben nach Selbsttätigkeit und Autonomie entgegenkommen. In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit der sogenannte Freiarbeit ein Kernstück der Montessori-Schule. Im Verlauf des Vormittags dürfen sich die Schüler für zwei bis drei Unterrichtsstunden nach eigenem Interesse mit einem Thema beschäftigen. Dadurch kann das Kind weitgehend sein eigenes Lerntempo bestimmen, der Lehrer hält sich in dieser Zeit möglichst zurück. So wird den Kindern ein sehr hohes Maß an Eigenständigkeit erlaubt, das sich deutlich und positiv von der Regelschule unterscheidet. Die Sinnesmaterialien helfen dem Kind, seine alltäglich gewonnenen Eindrücke zu ordnen. Gleichzeitig erfahren Heranwachsende durch das Hervorheben einer Materialeigenschaft wie Farbe, Form, Oberflächenbeschaffenheit und dergleichen immer wieder neue geistige Anregungen und Motivation, mit den Materialien zu experimentieren. Daneben überzeugen mathematisches Material und Sprachmaterialien durch ihre Anschaulichkeit. Auf diese Weise leistet die Montessori-Pädagogik einen gelungenen Beitrag zur kindgerechten intellektuellen Förderung des Heranwachsenden. Diese auffällige Schwerpunktsetzung hat der Montessori-Pädagogik aber auch den Vorwurf eingebracht, die Kreativitätserziehung der Kinder in den musischen und musikalischen Bereichen zu vernachlässigen. 83 35 40 45 50 4. Kritische Würdigung der Waldorfpädagogik 5 10 15 20 25 Vergegenwärtigt man sich den Vorwurf des Vernachlässigens musisch und musikalischer Kreativitätserziehung innerhalb der Montessori-Pädagogik, so scheint die Waldorfpädagogik diesen Versäumnissen gebührend Rechnung zu tragen. Sie betont bereits für den Kindergarten die Notwendigkeit und die vielfältigen Möglichkeiten einer Kreativitätserziehung im künstlerisch-musischen Bereich sowie im Spiel und greift dabei konsequent auf Fantasie anregende Naturmaterialien und Alltagsgegenstände zurück. Im Bereich der Schule stellen Wortgutachten eine sinnvolle Alternative zu den abstrakten Zeugnisnoten der Regelschule, insbesondere für jüngere Kinder, dar. Das Klassenlehrerprinzip bietet den Vorteil einer jahrelangen Zusammenarbeit zwischen Kindern, Lehrern und Eltern, kann aber bei gegenseitigen Spannungen oder Antipathien auf Dauer sehr belastend für alle Beteiligten werden. Während der Epochenunterricht ein differenziertes Auseinandersetzen mit einzelnen Themenbereichen ermöglicht, birgt er auch die Gefahr, dass Schüler im Falle von Krankheit ganze Epochen versäumen, deren Inhalte im laufen- den Schuljahr nicht mehr aufgegriffen werden. Die Waldorfschule differenziert nicht – wie das staatliche Schulsystem – in Haupt-, Realschule und Gymnasium, sondern unterrichtet ihre Schüler bis zum 14./15. Lebensjahr einheitlich. Diese Vorgehensweise erfährt ein geteiltes Echo. Einerseits wird hier der Gefahr einer für den einzelnen Schüler zu frühen Weichenstellung seiner Schullaufbahn begegnet, für andere Schüler mag diese relativ späte Ausrichtung des Unterrichts an einem höheren Bildungsabschluss vielleicht schon zu spät kommen. Da Steiner eine Erziehung des Verstandes und der Urteilskraft erst mit der Geburt des Astralleibs im dritten Jahrsiebt empfiehlt, wird der Waldorfpädagogik vorgeworfen, sie betreibe bis in die Pubertät eine weltfremde, antiintellektuelle Erziehung. Die Waldorf-Pädagogik steht der Benutzung von elektronischen Medien, insbesondere dem Fernsehen, ablehnend gegenüber. In erster Linie sieht sie die Gefahr einer permanenten Manipulation der Kinder, deren Urteilsvermögen und Werthaltungen entwicklungsbedingt noch nicht gefestigt sind. Diese Hal- 30 35 40 45 50 84 Kapitel 16 55 tung hat ihr den Vorwurf einer teilweise „weltfremden Pädagogik“ eingebracht. Darüber hinaus kritisieren Gegner der Anthroposophie deren mystischen, kosmisch-übersinnli- chen theoretischen Annahmen, die wissenschaftlich nur schwer erfassbar bzw. beweisbar seien. Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis Ahnert, Lieselotte: Wieviel Mutter braucht ein Kind? 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