Rolle der Fachstellen_Präventionsverfahren_§841

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LWL-Integrationsamt Westfalen
Behinderte Menschen im Beruf
Verfasserin/Verfasser:
Carla Ihme
Telefon:
0251 591-3575
E-Mail:
[email protected]
Datum:
06.12.2013
Vermerk
Präventionsverfahren und betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 84 SGB
IX / Aufgaben der örtlichen Fachstellen und des Integrationsamtes
I.
Prävention nach § 84 Abs. 1 SGB IX
1. Inhalt und Zielsetzung
§ 84 Abs. 1 SGB IX wurde als § 14 c durch das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter zum 1.10.2000 in das SchwbG eingeführt. Das SGB IX hat die Vorschrift später
fast inhaltsgleich übernommen. Absicht des Gesetzgebers war es, bei Gesundheits- und Beschäftigungskrisen durch frühzeitiges präventives Handeln zu intervenieren und so die Arbeitsplätze von
Menschen mit Schwerbehinderung zu erhalten.
Durch die Norm wird der Arbeitgeber verpflichtet, bei Eintreten von Schwierigkeiten im Arbeitsoder sonstigem Beschäftigungsverhältnis, die zu dessen Gefährdung führen können, präventiv tätig
zu werden und möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung , den Betriebs- oder Personalrat und das Integrationsamt einzuschalten, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung
stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die
Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis
möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.
Ziel ist der Erhalt des Arbeitsplatzes durch aktives, präventives Handeln des Arbeitgebers.
2. Anwendungsbereich und systematische Einordnung
Anzuwenden ist § 84 Abs. 1 SGB IX auf alle Menschen mit Schwerbehinderung und ihnen Gleichgestellte (§ 68 Abs.1 und Abs.2 SGB IX).
Präventionsverfahren sind von allen öffentlichen und privaten Arbeitgebern unabhängig von der
Beschäftigungspflicht durchzuführen.
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Die Vorschrift ist im Kapitel 3 des SGB IX „sonstige Pflichten der Arbeitgeber; Rechte der schwerbehinderten Menschen“ aufgenommen und dem Kapitel 4 Kündigungsschutz vorgeschaltet.
3. Voraussetzungen und Tätigwerden
Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 84 Abs.1 SGB IX „Schwierigkeiten, die zur Gefährdung
des Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnisses führen können“, schaltet der Arbeitgeber die
Schwerbehindertenvertretung, den Betriebs- oder Personalrat und das Integrationsamt ein.
Die Prävention soll grundsätzlich so frühzeitig wie möglich einsetzen, um ein gefährdetes Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. Gleichwohl müssen die Schwierigkeiten konkret darstellbar sein. Es
müssen nachvollziehbare Gründe vorhanden sein, anhand deren erkennbar ist, dass sich ohne
präventive Maßnahmen die Beschäftigungssituation verschlimmern wird und mit einer Kündigung
zu rechnen ist. Personalrechtliche Maßnahmen wie z.B. eine Abmahnung brauchen nicht abgewartet zu werden. § 84 Abs.1 SGB IX umfasst alle Gründe, die zu einer Gefährdung des Arbeits- oder
Beschäftigungsverhältnisses führen können. Die Schwierigkeiten können ihre Ursache in
personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen haben.
Der Arbeitgeber ist handelnder Akteur. Er „schaltet“ die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebs- oder Personalrat und das Integrationsamt ein, um mit ihnen und dem betroffenen Mitarbeiter
gemeinsam die Problematik zu erörtern und Hilfsmöglichkeiten zu entwickeln, mit denen die Gefährdung beseitigt werden kann. Seine Aufgabe ist es auch, die Präventionsmaßnahme anschließend entweder selbst durchzuführen oder dafür zu sorgen, z.B. durch entsprechende Mitwirkung
und Antragstellung bei der Fachstelle oder dem Integrationsamt, dass die Präventionsmaßnahme
umgesetzt werden kann. Der Arbeitgeber hat insoweit eine aktive Gestaltungsrolle.
Präventive Maßnahmen nach § 84 Abs. 1 SGB IX können auch durch Dritte, z.B. von dem betroffenen Beschäftigten, dem Betriebsrat oder der direkten Führungskraft angeregt werden. Der Arbeitgeber bleibt dann aber in seiner Verantwortung und muss die aktive Rolle übernehmen.
4. Einschaltung des Integrationsamtes / der örtlichen Fachstelle
Mit der Einschaltung des Integrationsamtes in das Präventionsverfahren bezweckt der Gesetzgeber, dass die besonderen Hilfen und Maßnahmen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am
Arbeitsleben nach § 102 SGB IX aufgezeigt und ggfs. eingesetzt werden sollen. Inhaltlich konkretisiert sich die Beteiligung des Integrationsamtes im Präventionsverfahren auf die begleitende Hilfe
im Arbeitsleben nach § 102 Abs.1 Nr.3 SGB IX. Die begleitende Hilfe im Arbeitsleben umfasst die
umfassende Beratung der Arbeitgeber und schwerbehinderten Menschen durch das Integrationsamt in allen Fragen der Beschäftigung der schwerbehinderten Menschen, sowie die psychosoziale
Betreuung, die im Auftrag des Integrationsamtes durch die Integrationsfachdienste geleistet wird.
Die Beratung umfasst auch die Hilfe beim Ermitteln eines anderen zuständigen gesetzlichen Leis-
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tungsträgers und das Hinwirken auf deren Leistungen, § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Weiter umfasst
die begleitende Hilfe finanzielle Leistungen an Arbeitgeber und schwerbehinderte Menschen.
In Nordrhein-Westfalen ist die Beratung über die begleitenden Hilfen nach § 102 Abs.1 Nr. 3 SGB
IX gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 ZustVO SGB IX NW auf die örtlichen Fachstellen übertragen. Gem. § 1
Abs. 1 Nr. 5 ZustVO SGB IX NW haben die örtlichen Träger die Aufgabe, die schwerbehinderten
Menschen, ihre Arbeitgeber und die übrigen in § 99 Abs. 1 SGB IX genannten Personen im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben zu beraten, sofern dafür nicht die Einschaltung der
Fachdienste des Integrationsamtes erforderlich ist. Wie ausgeführt, ist die Aufgabe der Integrationsämter im Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX nichts anderes als die Beratung in der
begleitenden Hilfe nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX. Einer ausdrücklichen Übertragung der Präventionsunterstützung auf die örtlichen Fachstellen nach der Zuständigkeitsverordnung bedarf es deshalb nicht, auch wenn sie der Klarstellung dienen würde.
Außerdem gewähren die örtlichen Fachstellen Geldleistungen nach Maßgabe der Zuständigkeit
Übertragung in § 1 Abs. 1 Nr. 6 ZustVO in Verbindung mit § 102 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 SGB IX
und der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung.
Präventionsverfahren nach § 84 Abs.1 SGB IX können somit als Zugangsweg zur begleitenden
Hilfe im Arbeitsleben sowohl für das Integrationsamt, als auch für die örtlichen Fachstellen angesehen werden.
5. Konsequenzen für die Aufgaben der örtlichen Fachstellen und des Integrationsamtes im bestehenden Arbeitsverhältnis und im Kündigungsschutzverfahren
5.1. bestehendes Arbeitsverhältnis
Im bestehenden Beschäftigungsverhältnis dienen das frühzeitige präventive Tätigwerden des Arbeitgebers und ggf. die Unterstützung seitens der Schwerbehindertenvertretung und des Personaloder Betriebsrates und des Integrationsamtes/der örtlichen Fachstelle dazu, ein gefährdetes Arbeitsverhältnis eines Menschen mit Schwerbehinderung zu erhalten.
a) Aufgabe des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber ist Adressat der Vorschrift. Bei Vorliegen von Schwierigkeiten im Beschäftigungsverhältnis, die zu dessen Gefährdung führen können, muss er tätig werden. Er „schaltet“ die
Schwerbehindertenvertretung, die in § 93 SGB IX genannten Vertretungen, in der Regel den Personalrat oder Betriebsrat, und das Integrationsamt/die örtliche Fachstelle ein. Aufgabe des Arbeitgebers ist auch, Termine vor Ort mit dem Arbeitnehmer und den internen und externen Beratern zu
organisieren und zum Gespräch einzuladen. Ebenfalls obliegt es ihm, getroffene Absprachen und
Maßnahmen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen, umzusetzen oder nachzuhalten.
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b) Aufgabe der Fachstelle
Die Fachstelle berät umfassend über die begleitenden Hilfen nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX. Bei
Bedarf schaltet sie in eigener Zuständigkeit einen der Fachdienste des Integrationsamtes, z. B. den
Ingenieurfachdienst oder den Fachdienst für sehbehinderte oder hörbehinderte Menschen oder den
zuständigen IFD ein. Ggfs. ist auch über den „richtigen“ Rehaträger zu beraten. Erforderliche
Maßnahmen in eigener Zuständigkeit der Fachstelle sind zu veranlassen.
Kommen finanzielle Leistungen in Betracht, für die die Fachstellen zuständig sind, erbringt die örtliche Fachstelle diese in eigener Zuständigkeit.
Die Fachstelle ist erster Ansprechpartner vor Ort; sie nimmt die Gesprächstermine wahr und veranlasst ggf. erforderliche Maßnahmen.
c) Aufgabe des Integrationsamtes
Das Integrationsamt hat grundsätzlich die Aufgabe, den Arbeitgeber allgemein über Unterstützungsmöglichkeiten der begleitenden Hilfe nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX zu beraten und ggf.
finanzielle Leistungen anzubieten. In der Praxis hat es möglichst schnell, rationell und effektiv zu
klären, ob und ggf. was zur Sicherung und zum Erhalt eines Arbeitsplatzes notwendig ist. In einem
ersten Telefonat wird regelmäßig der Sachverhalt aufgeklärt und ermittelt, wo das Problem liegt
und welche Hilfestellungen angeboten werden können. Ergibt sich direkt, dass ein Integrationsfachdienst einzuschalten ist, so wird das Integrationsamt den Integrationsfachdienst hinzuziehen.
Dabei steht das Integrationsamt im Austausch mit der Fachstelle und schaltet diese zur Begleitung
des Präventionsverfahrens vor Ort ein.
Bei Anhaltspunkten für die Zuständigkeit eines Rehaträgers, z. B. der Bundesagentur für Arbeit,
berät das Integrationsamt bei der Ermittlung des zuständigen Rehaträgers und unterstützt ggfs. bei
der Einleitung notwendiger Maßnahmen.
5.2. Kündigungsschutzverfahren nach §§ 85 ff SGB IX
Das Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist dem Zustimmungsverfahren nach §§ 85 ff.
SGB IX vorgeschaltet und grundsätzlich als vom Kündigungsschutzverfahren unabhängiges Verfahren anzusehen.
Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX ist deshalb auch keine
formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem
schwerbehinderten Menschen. Die Vorschrift konkretisiert jedoch den dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Durchführung eines Präventionsverfahrens ist auch nicht Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Entscheidung des Integrationsamtes im Kündigungsverfahren. Die im Rahmen des Präventionsverfahrens vorgenommenen Prüfung
ähnelt der im Zustimmungsverfahren nach §§ 85 ff. SGB IX vorgenommenen Prüfung. Deshalb ist
es herrschende Meinung, dass die spätere Prüfung im laufenden Kündigungsverfahren das Präventionsverfahren ersetzt (vgl. Kuhlmann, Einfluss des Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1
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SGB IX und des Betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX auf das Kündigungsschutzverfahren für Menschen mit Behinderungen nach § 85 SGB IX, br, 2013 34 ff).
Bei der Frage nach geeigneten Präventionsmaßnahmen im Rahmen des § 84 SGB IX wird sowohl
im arbeitsgerichtlichen Verfahren als auch im Verfahren beim Integrationsamt geprüft, ob es eine
behinderungsgerechte oder leidensgerechte Möglichkeit der Weiterbeschäftigung gibt oder durch
welche Maßnahme die Schwierigkeiten beseitigt werden können.
a) Aufgabe des Integrationsamtes
Hat ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX stattgefunden, ist das Ergebnis im Zustimmungsverfahren zu berücksichtigen. Hat kein Präventionsverfahren stattgefunden, wird die spätere
Prüfung im laufenden Kündigungsverfahren vorgenommen.
Hat ein Präventionsverfahren stattgefunden, berücksichtigt das Integrationsamt das Ergebnis des
Verfahrens bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung, ob der Kündigung zuzustimmen ist oder
nicht. Gibt es neue weitere Anhaltspunkte im Verfahren, so sind diese in die Entscheidung mit einzubeziehen. Der Prüfungsumfang des Integrationsamtes ist abhängig von den einzelnen Kündigungsgründen (verhaltensbedingt, personenbedingt oder betriebsbedingt).
Hat kein Präventionsverfahren stattgefunden, ist das Integrationsamt gehalten, abhängig von den
einzelnen Kündigungsgründen die inhaltliche Prüfung vorzunehmen. In der Praxis wird das Präventionsverfahren durch die Fachstellen vor Ort im Ermittlungsverfahren und im Rahmen der Kündigungsverhandlung nachgeholt.
Das Integrationsamt kann das Verfahren auch aussetzen und dem Arbeitgeber aufgeben, das Präventionsverfahren nachzuholen.
Im Kündigungsverfahren ist das Integrationsamt „Herr des Verfahrens“; es entscheidet, ob es dem
Arbeitgeber aufgibt, das Präventionsverfahren nachzuholen oder ob es die inhaltliche Prüfung im
Rahmen seiner ihm im Zustimmungsverfahren nach §§ 85 ff. vorgegebenen Prüfung selbst vornimmt.
In der Regel wird das Integrationsamt die inhaltliche Prüfung anhand des jeweiligen Kündigungsgrundes im laufenden Kündigungsverfahren in Zusammenarbeit mit der Fachstelle vornehmen und
das Verfahren nicht aussetzen (vgl. hierzu insgesamt Kuhlmann, a.a.O.).
b) Aufgabe der Fachstelle
Nach § 1 Abs.1 Nr.2 ZustVO hat die örtliche Fachstelle den Sachverhalt zu ermitteln, die Stellungnahmen des Betriebsrates oder des Personalrates und der Schwerbehindertenvertretung einzuholen, den Menschen mit Schwerbehinderung anzuhören und auf eine gütliche Einigung hinzuwirken.
Zur Sachverhaltsermittlung gehört auch, aufzuklären, ob ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs.
1 SGB IX durchgeführt wurde und welche Ergebnisse das Präventionsverfahren bewirkt hat. Wurde
kein Präventionsverfahren durchgeführt, wird die Fachstelle dies im Rahmen der Ermittlungen und
in Absprache mit der Sachbearbeitung nachholen.
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II. Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 84 Abs. 2 SGB IX
1. Inhalt und Zielsetzung
Mit dem Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen
vom 23.04.2004 wurde das Betriebliche Eingliederungsmanagement mit § 84 Abs. 2 SGB IX in das
SGB IX eingeführt. Danach klärt der Arbeitgeber in den Fällen, in denen Beschäftigte innerhalb
eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, zusammen
mit dem Betriebs- oder Personalrat, bei schwerbehinderten Beschäftigten auch zusammen mit der
Schwerbehindertenvertretung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann und
welche Leistungen und Hilfen zur Unterstützung des Arbeitnehmers erforderlich sind. Ggf. werden
Werks- oder Betriebsärzte hinzugezogen. Wenn Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen
im Arbeitsleben in Betracht kommen, werden entweder die gemeinsame Servicestelle oder bei
schwerbehinderten Beschäftigten auch die Integrationsämter hinzugezogen. Ziel des § 84 Abs. 2
SGB IX ist es, das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis bei Arbeitnehmern mit gesundheitlichen Problemen zu erhalten und vor allem zukünftige gesundheitliche Probleme zu vermeiden.
Ziel ist der (möglichst) dauerhafte Erhalt des Arbeitsplatzes durch präventives Handeln des Arbeitgebers. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) kann als Sonderfall der Prävention bei
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit angesehen werden.
2. Anwendungsbereich und systematische Einordnung
Anders als die Prävention nach § 84 Abs. 1 SGB IX gilt das BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX für alle
Beschäftigten unabhängig davon, ob eine Schwerbehinderung besteht oder nicht. BEM ist von allen öffentlichen und privaten Arbeitgebern durchzuführen. Auf die Beschäftigungspflicht nach dem
SGB IX kommt es nicht an. BEM gilt deshalb auch für Kleinbetriebe.
BEM ist – wie die Prävention nach § 84 Abs.1 SGB IX – im Kapitel 3 des SGB IX „sonstige Pflichten der Arbeitgeber; Rechte der schwerbehinderten Menschen“ geregelt und dem Kapitel 4 Kündigungsschutz vorgeschaltet.
3. Voraussetzungen und Tätigwerden
BEM nach § 84 Abs.2 SGB IX stellt klare Voraussetzungen für das Tätigwerden des Arbeitgebers
bei erkrankten Beschäftigten auf.
Wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Beschäftigten ein BEM anzubieten.
§ 84 Abs.2. SGB IX knüpft allein an die Sechs-Wochen-Frist an und nicht an die gesunde Rückkehr
der Beschäftigten.
BEM gliedert sich in zwei Phasen. In der ersten Phase – der Einleitungsphase - wird dem Arbeitnehmer ein BEM angeboten. Die wesentlichen Inhalte und vor allem die Ziele des Verfahrens ein-
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schließlich der Regeln zum Datenschutz werden erläutert und der Betroffene entscheidet selbst, ob
er das Angebot annimmt und seine Zustimmung zum eigentlichen BEM-Verfahren erteilt. Die zweite Phase des BEM ist der eigentliche Klärungsprozess. Der Klärungsprozess ist ein rechtlich regulierter, kooperativer verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, in dem der Arbeitgeber, das BEMTeam und ggfs. weitere hinzugezogene Personen zusammen mit dem betroffenen Mitarbeiter zunächst die Ursachen der Arbeitsunfähigkeit analysieren und gemeinsam Maßnahmen erarbeiten,
mit denen zukünftigen Gesundheitsstörungen und Beschäftigungshindernissen entgegengewirkt
werden soll.
4. Hinzuziehung des Integrationsamtes / der örtlichen Fachstelle
Liegen die Voraussetzungen vor, hat der Beschäftigte seine Zustimmung erteilt und hat sich in der
Klärungsphase ergeben, dass Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in
Betracht kommen, „zieht“ der Arbeitgeber die örtlichen gemeinsamen Servicestellen oder bei
schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt als externe Berater „hinzu“.
Inhaltlich ist die gesetzlich vorgesehene Beteiligung der Integrationsämter im BEM nach § 84 Abs.2
SGB IX deckungsgleich mit der Wahrnehmung der zentralen Aufgabe der begleitenden Hilfe im
Arbeitsleben nach § 102 Abs.1 Nr.3 SGB IX. Insoweit ist Bezug zu nehmen auf Ziff. I. 4.
In Nordrhein-Westfalen sind aufgrund von § 1 Abs.1 Nr. 5 ZustVO SGB IX NW die örtlichen Fachstellen neben den Integrationsämtern für die Beratung über die Möglichkeiten der begleitenden
Hilfe im Arbeitsleben und die Bewilligung von finanziellen Leistungen im übertragenen Umfang zuständig. Auch insofern gilt nichts anderes als bei Präventionsverfahren nach § 84 Abs.1 SGB IX.
Die Beteiligung von örtlicher Fachstelle oder Integrationsamt im Rahmen von BEM nach § 84 Abs.2
SGB IX als externe Berater eröffnet somit ebenfalls den Weg zur Wahrnehmung der diesen beiden
Stellen originär obliegenden Aufgabe der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben und ist daher als ein
Zugangsweg zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben nach § 102 Abs.1 Nr.3 SGB IX anzusehen.
5. Konsequenzen für die Aufgaben des Integrationsamtes und der örtlichen Fachstellen im
bestehenden Arbeitsverhältnis und im Kündigungsschutzverfahren
5.1. bestehendes Arbeitsverhältnis
Im bestehenden Arbeitsverhältnis ist durch geeignete präventive Maßnahmen dafür zu sorgen,
dass bei Arbeitnehmern, die mindestens 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig
sind, der Arbeitsplatz erhalten und die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann.
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a) Aufgaben des Arbeitgebers
Aufgabe des Arbeitgebers ist, zunächst mit dem Beschäftigten und der betrieblichen Interessenvertretung und bei Beschäftigten mit Schwerbehinderung auch mit der Schwerbehindertenvertretung
Möglichkeiten zu erörtern, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und was zukünftig zum Erhalt
des Arbeitsplatzes getan werden kann. Unter Umständen wird der Werksarzt oder der Betriebsarzt
zu den Gesprächen hinzugezogen. Wenn Leistungen zur Teilhabe oder zur begleitenden Hilfe in
Betracht kommen, „zieht“ der Arbeitgeber die örtlichen gemeinsame Servicestelle oder das Integrationsamt/die örtliche Fachstelle „hinzu“.
Die Pflicht, das BEM-Verfahren zu initiieren, die Gespräche mit dem betroffenen Beschäftigten zu
führen und ggf. notwendige Maßnahmen umzusetzen, liegt somit beim Arbeitgeber. Im obliegt es
ebenfalls, externe Berater zum Gespräch einzuladen. Die Initiative zur Einladung kann aber auch
von anderen Akteuren kommen. Zusätzlich kann der Arbeitgeber ein betriebliches System für das
Betriebliche Eingliederungsmanagement einführen und die entsprechenden Betriebs- und Dienstvereinbarungen abschließen.
b) Aufgabe der Fachstelle
Aufgabe der Fachstelle ist es, im BEM-Verfahren umfassend über die begleitenden Hilfen zu beraten, ggfs. die Unterstützung finanzieller Leistungen in eigener Zuständigkeit anzubieten, einen
Fachdienst des Integrationsamtes (Fachdienst für beratende Ingenieure, Fachdienst für Menschen
mit Sehbehinderung, Fachdienst für Menschen mit Hörbehinderung, Integrationsbegleitung) oder
den Integrationsfachdienst einzuschalten. Notwendige Maßnahmen in eigener Zuständigkeit werden initiiert oder umgesetzt. Kommen finanzielle Leistungen des Integrationsamtes in Betracht, ist
das Integrationsamt ebenfalls mit hinzuzuziehen.
c) Aufgabe des Integrationsamtes
Das Integrationsamt unterstützt den Arbeitgeber generell bei der Entwicklung und Umsetzung des
BEM mit Publikationen, z.B. den BEM-Handlungsempfehlungen, sowie einer breiten Palette von
Seminaren und InHouse-Veranstaltungen zum Hintergrund des BEM.
I
m Einzelfall kann das Integrationsamt umfassend über die Möglichkeiten der begleitenden Hilfe
beraten, finanzielle Unterstützung anbieten, seine Fachdienste oder den Integrationsfachdienst
einschalten. In der Regel wird es auf die örtliche Fachstelle als ersten Ansprechpartner vor Ort
verweisen.
Nach § 84 Abs. 3 SGB IX kann das Integrationsamtes Arbeitgeber, die das Betriebliche Eingliederungsmanagement als System einführen, mit einer Prämie fördern. Nicht Aufgabe des Integrationsamtes ist, einzelne Arbeitgeber konkret bei der Erarbeitung einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zum BEM zu beraten.
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5.2
BEM im laufenden Kündigungsverfahren
a) rechtliche Bedeutung
Das BEM gem. § 84 Abs. 2 SGB IX hat erhebliche praktische Bedeutung für das Kündigungsverfahren nach den §§ 85 ff. SGB IX. Die Frage nach den Konsequenzen eines durchgeführten BEM
und eines nicht durchgeführten BEM war in den letzten Jahren häufig Gegenstand der arbeitsgerichtlichen und der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und ist zwischenzeitlich geklärt.
Wurde im Vorfeld einer Kündigung ein BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt, so ist das in
diesem Verfahren gewonnene Ergebnis im Kündigungsverfahren nach dem SGB XI zu berücksichtigen.
Wenn BEM nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde, gilt nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung - unter Bezug auf die Arbeitsgerichte -, dass die Durchführung des BEM
nach § 84 Abs.2 SGB IX keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Entscheidung des Integrationsamtes im Kündigungsverfahren nach den §§ 85ff SGB IX ist. Jedoch kann das Integrationsamt
im Rahmen seiner Ermessensentscheidung das Fehlen eines BEM gegebenenfalls berücksichtigen, wenn bei Durchführung des BEM die Möglichkeit bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden.
b) Integrationsamt
Bei krankheitsbedingten Kündigungen hat das Integrationsamt zu prüfen, ob die Voraussetzungen
für ein BEM vorgelegen haben und ob der Arbeitgeber im Vorfeld der beantragten Kündigung das
Verfahren nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat, ob Maßnahmen abgestimmt und umgesetzt
wurden, um die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und welche Ergebnisse erzielt wurden.
Hat das BEM zu einem positiven Ergebnis geführt, so ist dies zu Gunsten des Arbeitnehmers in die
Abwägung einzubeziehen. Der Arbeitgeber hat die empfohlenen Maßnahmen umzusetzen. In der
Regel dürfte die beantragte Zustimmung zur Kündigung seitens des Integrationsamtes versagt
werden.
Wenn im BEM keine Maßnahmen gefunden werden konnten, mit deren Hilfe Einfluss auf die Arbeitsunfähigkeit genommen werden konnte, ist die Weiterbeschäftigung in der Regel für den Arbeitgeber nicht zumutbar. Die Zustimmung wird deshalb in der Regel erteilt werden. Etwas anderes
gilt dann, wenn sich im Kündigungsverfahren selbst neue Erwägungen ergeben, dass Präventionsverfahren noch keine Berücksichtigung finden konnten. Dann muss das Integrationsamt diesen
nachgehen und weitere Ermittlungen anstellen. Es sind nur solche Möglichkeiten zu berücksichtigen, die sich erst nach Abschluss des BEM ergeben haben.
Ergeben sich keine neuen Gesichtspunkte, wird das Integrationsamt in der Regel die Zustimmung
versagen.
Wenn BEM nicht durchgeführt oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde, wird das Integrati-
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onsamt im laufenden Kündigungsverfahren die Prüfung entweder selbst vornehmen oder dem Arbeitgeber aufgeben, ein BEM-Verfahren nachzuholen. Die spätere Prüfung im laufenden Kündigungsverfahren ersetzt das BEM-Verfahren. Deshalb kann die Zustimmung nicht mit der Begründung des fehlenden BEM-Verfahrens versagt werden.
Bei Anträgen auf Zustimmung zu einer außerordentlichen personenbedingten Kündigung obliegt es
dem Integrationsamt innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX aufzuklären, ob
Maßnahmen in Betracht kommen, die zu einer Reduzierung der zu erwartenden Fehlzeiten oder zu
einer Überwindung der andauernden Arbeitsunfähigkeit führen können. Ein BEM-Verfahren wird in
Anbetracht der Kürze der Zeit dann nicht nachgeholt werden können.
Bei der krankheitsbedingten, personenbedingten Kündigung sind in der Regel umfängliche
Sachverhaltsermittlungen erforderlich. Die Prognosen der behandelnden Ärzte sind einzuholen. Im
Betrieb oder in der Dienststelle ist zu klären, ob Maßnahmen in Betracht kommen, um die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und zukünftig den Arbeitsplatz zu erhalten. Ggf. ist es auch erforderlich,
einen der Fachdienste des Integrationsamtes, z. B. den Beratenden Ingenieur hinzuzuziehen.
Liegt dies alles nicht vor, wird es schwierig, innerhalb des 2-Wochen-Zeitraumes den Sachverhalt
ausreichend aufzuklären. Das Integrationsamt wird die Zustimmung zur beantragten außerordentlichen Kündigung in der Regel versagen.
Das Fehlen eines BEM-Verfahrens ist im Rahmen des auszuübenden Ermessens dann zu Lasten
des Arbeitgebers zu berücksichtigen, wenn bei gehöriger Durchführung des BEM-Verfahrens die
Möglichkeit bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden. Eine Versagung der beantragten Kündigung wegen eines fehlenden BEM wird allerdings nicht in Betracht kommen, wenn das Integrationsamt im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass eine Weiterbeschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers nicht möglich ist, weil auch in einem Präventionsverfahren keine Maßnahmen hätten gefunden werden können, die zu einer Reduzierung der
Fehlzeiten geführt hätten.
d) Aufgabe der Fachstelle
Aufgabe der Fachstelle ist es die umfängliche Sachverhaltsermittlung durchzuführen. Hierzu gehört
auch zu ermitteln, ob ein BEM stattgefunden hat, welche Ergebnisse dieses hatte und dieses mit
ins Verfahren einzubringen. Wird das BEM nachgeholt, berät die Fachstelle den Arbeitgeber und
den schwerbehinderten Arbeitnehmer über die Möglichkeiten im Rahmen der begleitenden Hilfe
und bietet ggf. Unterstützung durch finanzielle Leistungen an. Wurde kein BEM durchgeführt, wird
die Fachstelle dies im Rahmen der Ermittlungen und in Absprache mit der Sachbearbeitung nachholen.
Im Auftrag
Carla Ihme
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Anlagen
-
Visio-Schaubild, Gert Klüppel, Präventionsverfahren und BEM als einer von mehreren Auslösern für die begleitende Hilfe
- Kuhlmann, Einschluss des Präventionsverfahrens und des BEM auf das Kündigungsschutzverfahren, br. 2013, 34 ff.
- Vermerk von Herrn Adlhoch vom 09.10.2012 zur sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Fachstellen für behinderte Menschen im Beruf in NRW zur Beteiligung an Präventionsverfahren nach
§ 84 Abs. 1 SGB IX
(T:\Dokument\Bee/ Rolle der Fachstellen_Präventionsverfahren)
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