Nüchtern-Atmen und Urge-Surfing – Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention Oliver Kreh Leitender Psychologe Julia Levas Diplom-Psychologin AHG Klinik Tönisstein AHG Klinik Tönisstein Bad Neuenahr-Ahrweiler / Rheinland-Pfalz Profil: Gründung 1974 erste von 45 Einrichtungen der AHG Hauptindikation: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bundesweite Belegung Kurzzeitbehandlung von 8 Wochen Besonderheit: ausschließlich Kurzzeitbehandlung für sozial und beruflich relativ gut integrierte Patienten Gliederung • Achtsamkeit – Begriffsbestimmung und Herkunft • Achtsamkeitsbasierte Therapieansätze: – Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) – Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (MBCT) • Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention • Forschungsergebnisse • Achtsamkeitsbasierte Therapie – Für und Wider Achtsamkeit „Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Art aufmerksam zu sein: absichtsvoll, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu bewerten.“ (nach Jon Kabat-Zinn, 1994) Buddhistische „Psychologie“ Achtsamkeitsmeditation = • Vipassana- / Einsichtsmeditation Buddhistische Sicht: • dauerhafte Praxis von Achtsamkeit führt zu Einsichten in wichtige grundlegende Wahrheiten, persönliche erfahrene Einsicht, die letztlich zur Befreiung führen wird. • Aversive Emotionen / Zustände: nicht Veränderung, sondern Akzeptanz, Hinwendung. • Praxis von Achtsamkeit nicht „Technik“, sondern Teil eines umfassenden spirituellen Weges, der zu Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen führt und dessen höchstes Ziel die „Befreiung“ ist. Achtsamkeitsbasierte Ansätze • Ansätze mit Achtsamkeits-Elementen: – Dialektisch-Behaviorale Therapie DBT – Acceptance-Commitment-Therapie ACT • Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR): Kabat-Zinn (1990) – unterschiedliche Anwendungsbereiche: z.B. bei Ängsten, Schmerzen, Hauterkrankungen • Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT): Segal, Williams & Teasdale (2002) – Rückfallprophylaxe bei rezidivierender Depression • Mindfulness-Based Relapse Prevention (MBRP): Bowen, Chawla & Marlatt (2011) – Rückfallprophylaxe bei Substanzabhängigkeit Struktur achtsamkeitsbasierter Therapieprogramme • 8 Sitzungen á zwei Stunden • Hinführung zur Meditation (Rosinenübung, Body Scan, Sitzmeditation, Gehmeditation, Yoga) • in den Sitzungen gemeinsames Üben, besprechen, übertragen auf Alltag / Störungsbild • tägliche Übungen: Achtsamkeit des Alltages und formale Praxis (ca. 45 Minuten) • evtl. Achtsamkeitstag zur Vertiefung Achtsamkeit des Alltags Trinke Deinen Tee langsam und ehrfürchtig, als sei er die Achse, auf der die Erde rotiert – langsam, gleichmäßig, ohne in die Zukunft zu eilen. Lebe den gegenwärtigen Augenblick. Nur dieser Augenblick ist das Leben. Thich Nhat Hanh Achtsamkeit des Alltags • Rosinenübung • täglich eine Tätigkeit des Alltages achtsam verrichten viele Möglichkeiten …. • Essen • Körperpflege • Haushaltstätigkeiten • Spaziergänge • Sinneswahrnehmungen • …. Body Scan Body Scan • In der Regel auf dem Rücken liegend; warmer und ruhiger Ort • Aufmerksamkeit wird durch den Körper gelenkt (von linkem Fuß bis Schädeldecke) • Keine Entspannungsinstruktion! • Bei Auftreten unangenehmer Empfindungen: diese achtsam wahrnehmen Sitz/ Atemmeditation • Aufmerksamkeit wird auf den Atem gerichtet • Bei Erleben anderer Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Geräusche: wahrnehmen und Aufmerksamkeit wieder zurück zur Atmung lenken • „choiceless awareness“: wahrnehmen, was ins Bewusstsein dringt Gehmeditation • Gehen um zu gehen / gehen ohne Ziel • Bei Erleben anderer Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Geräusche: wahrnehmen und Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Gehen lenken • „choiceless awareness“: wahrnehmen, was ins Bewusstsein dringt Metta-Meditation Lovingkindness-Meditation / Liebende Güte: • „Mögest Du sicher und geschützt sein.“ • „Mögest Du wahres Glück finden.“ • „Mögest Du in Frieden leben.“ • „Mögest Du mit Leichtigkeit leben.“ an jemanden, den man mag an sich selbst an die Menschen im Raum an …. achtsames Yoga • Drehung im Liegen • Katzenbuckel / Kuhrücken • Haltung des Kindes • Berg-Haltung • Vorwärtsbeuge • abschließende Ruheposition Häufige Schwierigkeiten bei den Übungen • aversive Gefühle / körperliche Zustände • Verlangen und Begehren • Rastlosigkeit / Unruhe (körperlich wie gedanklich) • Trägheit / Schläfrigkeit • Zweifel gegen diese Zustände wird nicht angekämpft die Beobachtung dieser Zustände ist Teil der Meditation geübt wird eine neugierige, freundliche Wahrnehmung dieser Zustände Mindfulness-Based Relapse Prevention Sarah Bowen Neha Chawla G. Alan Marlatt (1941 -2011) Theoretische Überlegungen: Marlatt (2002) • Zentraler Ansatzpunkt: „lifestyle Balance“ – Grundsätzliches Gefühl von Balance und Harmonie in den alltäglichen Verrichtungen • Wesentliches Kennzeichen abhängigen Verhaltens: – den aktuellen „nüchternen“ Zustand nicht akzeptieren zu können – Erneute Substanzeinnahme wirkt dem entgegen – kurzfristige Regulation aversiver Emotionen MBRP – Das Programm 1. „Auto-Pilot“ und Rückfall 2. Achtsamkeit für Auslöser und Verlangen 3. Achtsamkeit im Alltag 4. Achtsamkeit in Risikosituationen 5. Akzeptanz und geschicktes Handeln 6. Gedanken sind Gedanken 7. Selbstfürsorge und ausgewogene Lebensführung 8. Soziale Unterstützung und weitere Übung Bewusstsein / gegenwärtiger Augenblick Achtsamkeit, Akzeptanz und Rückfall ausgewogener Lebensstil / soziale Unterstützung Übung „Urge Surfing“ • Problemsituation vorstellen / Auslöser für Alkohol- oder Drogenverlangen • nicht automatisch reagieren, weder vermeiden, noch Substanz konsumieren • alle aufkommenden Empfindungen neugierig und freundlich wahrnehmen • Bild des „Surfens auf der Welle des Verlangens“ Umgang mit Craving verändern: von Angst / ankämpfen zum wahrnehmen / „damit sein“ Nüchtern-Atmen SOBER-Breathing-Space: S = Stop O = Observe B = Breathe E = Expand R = Respond Adaption des „Drei-Minuten-Atem-Raums“ (MBCT) Achtsamkeitstraining in der AHG Klinik Tönisstein • sechs Einheiten, höchstens 15 Teilnehmer • Anmeldung über Bezugstherapeut • mögliche Indikationen: Suchtmittelverlangen ohne identifizierbare Auslöser, rezidivierende Depression, emotional instabile Persönlichkeitszüge • Durchführung der klassischen Achtsamkeitsübungen: – – – – – – Rosinenübung Body Scan Sitzmeditation / Nüchtern-Atmen Gehmeditation Urge-Surfing Metta-Mediation • Anregung zu eigenständiger Übung zwischen den Sitzungen MBRP – Forschungsergebnisse Bowen et al. (2009) MBRP versus „Treatment as usual“ (Psychoedukation, 12Step-Programm), randomized-controll-trial (n = 168) nach vier Wochen berichten 54% wöchentliche Meditationspraxis von mind. viermal / Woche signifikante Reduktion von Craving signifikante Reduktion depressiver Symptome MBRP schwächt den Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen und Craving Substanzkonsum signifikant reduziert 2 Monate nach Behandlung, aber gleich TAU 4 Monate nach Behandlung MBRP – Forschungsergebnisse Bowen et al. (JAMA Psychiatry, 2014) MBRP vs CBT (Rückfallprävention) vs TAU (12-StepProgramm), randomized-controll-trial (N=286) geringere Rückfallraten bei MBRP und CBT vs. TAU selbst bei Rückfall geringere negative Konsequenzen des Substanzkonums bei MBRP signifikant späterer Drogenkonsum bei CBT in Sechs-Monats-Katamnese MBRP in der Einjahres-Katamnese signifikant weniger Tage mit Substanzkonsum und signifikant weniger exzessives Trinken MBRP – Forschungsergebnisse Kreh & Levas (Suchttherapie, 2015) Anwendungsbeobachtung eines Achtsamkeitstrainings von sechs Einheiten in stationärer Sucht-Rehabilitation signifikanter Anstieg der Achtsamkeit (erfasst mit Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit FFA-K) Teilnehmer bewerten Training positiv, besonders hinsichtlich „Verbesserung der Selbstwahrnehmung“ und „Distanzierung von Grübelgedanken“ Teilnehmer berichten nur wenig selbständiges Üben (14,0% „mehrmals wöchentlich“, 25,6% „hin und wieder“) MBRP – Forschungsergebnisse Anwendungsbeobachtung eines Achtsamkeitstrainings von sechs Einheiten in stationärer Sucht-Rehabilitation Achtsamkeitstraining (N = 73) vs. Kontrollgruppe (N = 65) 43 Frauen – 95 Männer (31,2% - 68,8%) Durchschnittsalter 49,12 Diagnose bei 90% aller Pbn F10.2 keine Unterschiede in Alter, Geschlecht, Diagnose zwischen Teilnehmer Training und Kontrollgruppe FFA-K- bei Behandlungsbeginn und Ende (1. und 8. bzw. 10. Woche) MBRP – Forschungsergebnisse Anwendungsbeobachtung eines Achtsamkeitstrainings von sechs Einheiten in stationärer Sucht-Rehabilitation Werte im FFA-K bei Behandlungsbeginn / -ende 45 43 41 Achtsamkeit Kontrollgruppe 39 37 35 33 t1 t2 Varianzanalyse: signifikante Wechselwirkung F (1, 134)= 5.202, p < .05 kein Zusammenhang mit Geschlecht, Teilnahmehäufigkeit, subjektiver Beurteilung MBRP – Forschungsergebnisse Anwendungsbeobachtung eines Achtsamkeitstrainings von sechs Einheiten in stationärer Sucht-Rehabilitation Training insgesamt überwiegend als hilfreich eingeschätzt (24,87% „sehr hilfreich“ und 41,1% „hilfreich“) geringe Übungshäufigkeit („täglich“ bzw. „mehrmals wöchentlich“ zwischen 0 und 17,8%, je nach Übung) am häufigsten als hilfreich eingeschätzt und geübt: klassische Sitzmeditation • 17,8% üben „mehrmals wöchentlich“ • 21,9% „sehr hilfreich“ und 39,7% „hilfreich“ Achtsamkeitsbasierte Therapieansätze: Besonderheiten und das Für und Wider Die Umgebung / Bedingungen • ruhiger, angenehm temperierter Raum • Matten, Decken, Kissen, Bänkchen • Freiwilligkeit der Teilnahme • Bereitschaft und Möglichkeit zu täglichen Übungen nicht als alleiniger Behandlungsansatz konzipiert – Rückfallprophylaxe nach abgeschlossener Behandlung eigene Übung als Therapeut! Therapeutische Interaktion Veränderung der therapeutischen Interaktion: gemeinsames Üben Erfahrungen teilen Einwände aus verhaltenstherapeutischer Sicht: (Lindenmeyer, Sucht, 2014) • Nicht-wertende Beobachtung = Exposition? Wirkmechanismus ungeklärt, Verbesserungen sagen nichts über erhöhte Achtsamkeit als wesentlicher Wirkmechanismus aus • Unterscheidung automatisiertes vs. kontrolliertes Verhalten entspricht Untersuchung konditionierter Reaktionsweisen, die sich kognitiver Kontrolle entziehen wirkt die Stärkung der Selbstkontrollprozesse oder die Abschwächung der automatischen Reaktionsmuster? • Achtsamkeitsbasierte Therapieprogramme sind nicht aus der Grundlagenforschung, sondern eher von charismatischen Klinikern entwickelt worden. Einwände aus verhaltenstherapeutischer Sicht: (Lindenmeyer, Sucht, 2014) • Meditationsübungen = Rückfallprävention in sensu Generalisierungsfähigkeit und Wirksamkeit ungeklärt • Forderung nach täglicher Übung = lerntheoretische Erkenntnis, dass erst ständige Wiederholung und nicht einmalige Einsicht zu stabiler Veränderung führt wirken die Inhalte der Übungen oder das tägliche Ritual? • müssen fernöstliche Weltanschauungen von Therapeuten und Patienten geteilt werden? Argumente für achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention (Bowen et al., JAMA Psychiatry, 2015) achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention • strebt eher annäherungsorientierte als vermeidensorientierte Ziele an (z. B. Vermeiden von Risikosituationen in kognitiv-verhaltenstherapeutischer RFP) • Versucht zu vermitteln, wie aversive Zustände toleriert werden können (kognitiv-verhaltenstherapeutischer RFP ist eher auf die Kontrolle der Ursachen von negativen Affekten und Suchtmittelverlangen fokussiert) • legt ein höheres Gewicht auf individuelle Bedürfnisse, Werte und die dem Problemverhalten zugrundeliegenden Themen Zusammenfassung: • Achtsamkeitsbasierte Therapie zielt nicht ab auf Symptomreduktion (Verhaltenstherapie), sondern auf die Veränderung des Verhältnisses des Patienten zu seinen Symptomen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Oliver Kreh Julia Levas Leitender Psychologe Diplom-Psychologin [email protected] [email protected] AHG Klinik Tönisstein www.wir-machen-unabhaengig.de